31
In der Nacht hatte Nora schlimme Träume, aber als sie in aller Früh erwachte, verflüchtigte sich die Erinnerung daran ziemlich rasch. Der drei viertel volle Mond ging gerade unter und füllte das Tal mit dunklen Schatten. Im Osten begann der Himmel die ersten, zarten
Farben der Morgendämmerung anzunehmen. Hellwach richtete Nora sich auf und schaute sich um, Swire war bereits auf. Mehrmals am Tag durchquerte er den Slot-Canon, um nach den Pferden zu sehen, die sie im jenseitigen Tal hatten zurücklassen müssen. Der Rest der Gruppe schlief noch. Auch Aragons Zelt, in dem nun schon zwei Nächte hintereinander bis lange nach Mitternacht das Licht gebrannt hatte, war dunkel.
In der Kühle des Morgens zog Nora sich rasch an. Sie steckte ihre Taschenlampe in die hintere Hosentasche und ging hinüber zum Kochfeuer, wo sie die Asche von der Glut schob und mit ein paar trockenen Zweigen die Flammen wieder zum Leben erweckte. Dann nahm sie die stets griffbereite Kaffeekanne aus blau gesprenkeltem Emaille, füllte sie mit Wasser und stellte sie über den Flammen auf den Rost.
Während sie damit beschäftigt war, sah sie, wie aus dem Pappelhain eine Gestalt mit einem Schlafsack über dem Arm auf sie zuging. Es war Sloane. Vielleicht nächtigt sie ja auch lieber unter dem Sternenhimmel, dachte Nora.
»Gut geschlafen?«, fragte Sloane, während sie den Schlafsack in ihr Zelt warf und sich neben Nora ans Feuer hockte.
»Eigentlich nicht«, antwortete Nora und starrte in die Flammen. »Und Sie?«
»Ich schon«, erwiderte Sloane und folgte Noras Blick. »Ich kann gut verstehen, weshalb die alten Kulturen das Feuer verehrt haben«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Es ist so faszinierend, weil es sich ständig verändert. Viel schöner als Fernsehen - und ganz ohne Werbung.« Sie grinste Nora an und schien im Gegensatz zu ihr bester Laune zu sein, Nora lächelte schwach und öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke, um die Wärme des Feuers an ihren Körper zu lassen. Die Kaffeekanne, in der das Wasser zu kochen begann, rüttelte auf dem Rost herum. Nora stand auf und nahm sie vom Feuer. Dann warf sie eine Hand voll gemahlenen Kaffee hinein und rührte mit ihrem Messer um.
»Wenn Bonarotti das sieht«, sagte Sloane, »haut er Ihnen seine Espresso-Maschine auf den Kopf. So ein Cowboy-Kaffee ist ihm ein Gräuel.«
»Das Warten auf Bonarottis Kaffee erinnert mich jeden Morgen an das Warten auf Godot«, erwiderte Nora. Auf dem Ritt nach Quivira war der Koch immer als Erster aufgestanden und hatte Frühstück gemacht, aber hier im Lager, wo sich langsam ein geregelter Tagesablauf eingestellt hatte, weigerte er sich standhaft, sein Zelt vor Sonnenaufgang zu verlassen.
Nora stellte die Kanne noch einen Moment aufs Feuer und rührte kräftig um. Nachdem sich der Kaffee gesetzt hatte, goss sie sich und Sloane eine Tasse ein. Genüsslich sog sie den bitteren Geruch auf.
»Ich glaube, ich weiß, was Ihnen im Kopf herumgeht«, bemerkte Sloane.
»Mag sein«, murmelte Nora und schlürfte schweigend ihren Kaffee. Auch Sloane sagte nichts mehr.
»Es kommt alles so unerwartet«, hörte sich Nora schließlich selbst sagen. »Da finden wir diese Stadt, diese magische und wundervolle Stadt, angefüllt mit mehr Artefakten und neuen Erkenntnissen, als wir uns je hätten träumen lassen. Zunächst scheint es, als hätten wir mit einem Schlag die Antwort auf sämtliche Fragen hinsichtlich der Anasazi gefunden, aber dann stellt sich heraus, dass wir hier bloß auf neue und immer seltsamere Rätsel stoßen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das Große Kiva ist ein gutes Beispiel dafür. Was sollen die vielen Schädel darin? Was bedeuten sie? Was für Zeremonien wurden in diesem Kiva abgehalten?«
Sloane setzte ihre Tasse ab und blickte Nora fragend an. »Sehen Sie denn nicht, dass wir außer Fragen auch Antworten bekommen?«, fragte sie leise. »Es sind nur nicht die, die wir erwartet haben, aber so ist es nun mal mit neu gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen.«
»Ich hoffe bloß, dass Sie Recht haben«, erwiderte Nora. »Ich habe bei meinen anderen Ausgrabungen auch schon Entdeckungen gemacht, doch da hatte ich immer ein ganz anderes Gefühl im Bauch. Hier hingegen spüre ich, dass irgendetwas nicht stimmt. Und zwar, seit ich diese achtlos weggeworfenen Knochen in Aragons Tunnel gesehen habe.«
Sie verstummte, als sie bemerkte, dass die anderen aus ihren Zelten zu krabbeln begannen. Smithback und Holroyd kamen ans Feuer und setzten sich, gefolgt von Black, zu Nora und Sloane. Die Zweige der Pappeln begannen sich etwas vom heller werdenden Himmel abzuheben.
»Hier ist es am Morgen so kalt wie im Lenin-Mausoleum«, sagte Smithback. »Aber was noch viel schlimmer ist: Mein Kammerdiener hat es schon wieder versäumt, mir meine Stiefel zu putzen, obwohl ich sie extra vors Zelt gestellt habe.«
»Es ist verdammt schwer, heutzutage zuverlässiges Personal zu bekommen«, äffte Black den Journalisten nach und goss sich eine Tasse Kaffee ein. »Igitt! Was ist denn das für ein barbarisches Gebräu?«, fragte er, nachdem er nur daran gerochen hatte. »Und wann gibt es Frühstück? Kann denn dieser faule Italiener nicht ein bisschen früher aus dem Schlafsack kriechen? Ich habe noch nie von einem Expeditionskoch gehört, der bis zwölf Uhr mittags auf dem Ohr liegt.«
»Aber er ist der einzige Koch, der >Pommes Anna< fast noch besser zubereitet als die Küchenmeister von Paris. Und das mit einem Zwanzigstel an Kochgerät«, konterte Smithback. »Außerdem ist das Frühstück eine Mahlzeit für Bänder und Wilde, aber nicht für zivilisierte Menschen wie mich.«
Bis auf Sloane schienen alle, die an diesem kühlen Morgen um das Feuer hockten und ihren Kaffee schlürften, verdrießlich und reizbar zu sein. Nora fragte sich, ob die gedämpfte Stimmung der anderen wohl auch von den Entdeckungen herrührte, die sie in der Stadt und im Inneren des Großen Kivas gemacht hatten.
Langsam brachte die aufgehende Sonne mehr Farbe in die Landschaft und verwandelte das Grau der Dämmerung in leuchtendes Rot, Gelb, Violett und Grün. Smithback sah, wie Noras Blicke an den Klippen entlang wanderten, und bemerkte: »Das ist wie Malen nach Zahlen, nicht wahr?«
»Was für ein poetischer Gedanke«, sagte Nora.
»Die Poesie ist nun mal mein Geschäft«, kicherte Smithback. Er fischte mit einem Löffel etwas Kaffeesatz aus seiner Tasse und warf ihn in den Busch hinter sich.
Nora hörte leise Schritte im Sand, und als sie aufblickte, sah sie Aragon kommen, der sich fest in eine dicke Jacke gesummt hatte. Er goss sich wortlos eine Tasse Kaffee ein, die er rasch hinunterkippte und mit zitternden Händen noch einmal nachfüllte.
»Na, haben Sie wieder einmal die Nacht zum Tage gemacht, Enrique?«, fragte Nora.
Aragon schien sie nicht gehört zu haben. Er trank weiter seinen Kaffee und starrte ins Feuer. Erst nach ein paar Minuten sah er Nora mit seinen dunklen Augen an. »Ja, es ist ziemlich spät geworden. Ich hoffe, ich habe niemanden gestört.«
»Nein, überhaupt nicht«, antwortete Nora rasch.
»Und, haben Sie wieder an Ihren geliebten Knochen herumgeforscht?«, fragte Black.
Aragon trank wortlos seine Tasse aus und füllte sie zum dritten Mal. »Ja.«
»Soviel zum Thema Störung einer Fundstätte«, bemerkte Black grinsend. »Und, haben Sie etwas herausgekriegt?«
Aragon ließ sich mit seiner Antwort lange Zeit. »Ja«, sagte er dann abermals.
Etwas in seinem Ton ließ die anderen verstummen.
»Nun reden Sie schon endlich, Mann«, tönte Smithback schließlich. »Lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«
Aragon stellte seine Tasse ab und begann langsam und überlegt zu sprechen, so, als habe er sich jeden Satz sorgfältig zurechtgelegt. »Wie ich Nora schon gesagt habe, ist die Anordnung der Knochen in dem Tunnel extrem merkwürdig.« Er hielt inne und holte aus seiner Jackentasche eine kleine Plastikdose, die er auf den Boden stellte und vorsichtig öffnete. In dem Behälter waren drei Knochenstücke und ein Splitter eines Schädels.
»Oben auf den Knochenhaufen liegen etwa fünfzig bis sechzig komplette Skelette«, fuhr er fort. »An manchen von ihnen habe ich noch Reste von Kleidung, aber auch Juwelen und persönliche Ziergegenstände gefunden. Die Toten waren gut ernährte, wohlhabende Menschen, die fast alle in der Blüte ihrer Jahre standen. Obwohl sie alle zur selben Zeit gestorben zu sein scheinen, ließen sich an ihren Knochen keine Spuren von Gewaltanwendung erkennen.«
»Haben Sie eine Erklärung dafür?«, fragte Black.
»Mir kommt es so vor, als ob in Quivira ganz plötzlich eine Seuche ausgebrochen sei, von der die Menschen so rasch dahingerafft wurden, dass sie ihre Toten nicht einmal mehr ordentlich bestatten konnten«, antwortete Aragon. »Es ist mir zwar nicht gelungen, eine definitive Krankheitsursache herauszufinden, aber ich weiß, dass viele virale oder bakterielle Infektionen keine Spuren an den Knochen hinterlassen. Auf jeden Fall hat man die Leichen so, wie sie waren, in den Tunnel geschleift und sie auf die dort bereits vorhandenen Gebeine geworfen.« Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Mit diesen Knochen hat es allerdings eine ganz eigene Bewandtnis. Bei ihnen handelt es sich um die zerbrochenen Überreste von Hunderten, ja Tausenden von Menschen, die man im Laufe vieler Jahre dort hineingeworfen hat. Anders als die kompletten Skelette stammen sie von Toten, die auf brutale Weise ums Leben gekommen sind. Auf sehr brutale sogar.«
Aragon blickte mit seinen dunklen Augen die anderen an, einen nach dem anderen. Nora spürte, wie sich ihr ungutes Gefühl verstärkte.
»Die Knochen aus der unteren Schicht weisen einige charakteristische Merkmale auf, die bei fast allen identisch sind«, sagte Aragon und wischte sich mit seinem fleckigen Halstuch übers Gesicht. Mit einer Pinzette deutete er auf eines der zerbrochenen Knochenstücke in dem Behälter. »Wie Sie hier sehen können, weisen viele der Langknochen Bruchstellen auf, die perimortem auf eine ganz spezielle Weise entstanden sind.«
»Was bedeutet perimortem?«, fragte Smithback.
»Dass die Knochen nicht vor Eintritt des Todes gebrochen wurden, aber auch nicht lange danach.«
»Und was haben Sie vorhin mit >auf spezielle Weise< gemeint?«, wollte Black wissen.
»Ich meinte damit, dass diese Gebeine genau so zerbrochen wurden, wie es die Anasazi auch mit Knochen von Hirschen und Wapitis gemacht haben, wenn sie ihnen das Alark entnehmen wollten. Sehen Sie hier« - er deutete auf eine bestimmte Stelle an dem Knochenstück - »diesen Oberarmknochen hier haben sie geradezu ausgebohrt, um an das Mark in seinem Innern zu gelangen.«
»Moment mal«, sagte Smithback. »Wofür hätten sie denn das Knochenmark...«
»Lassen Sie mich bitte ausreden. Ich möchte Sie auf diese kleinen Kerben an den Knochen hinweisen. Ich habe sie unter dem Mikroskop untersucht und festgestellt, dass sie von Sternmessern stammen und denen ähneln, wie man sie an Tierknochen findet, von denen das Fleisch abgelöst wurde. Außerdem habe ich Dutzende von zerschlagenen Totenköpfen gefunden -die meisten davon Kinderschädel-, die Spuren aufweisen, wie sie nur beim Skalpieren entstehen. Sie ähneln übrigens denen, die wir an dem Totenkopf in Petes Ruine entdeckt haben. An diesem Schädel ließen sich auch so genannte >Ambossabschürfungen< ausmachen, die ebenfalls an den Schädeln im Tunnel zu beobachten sind. Von denen hatten übrigens viele ein Loch, das in die Schädeldecke gebohrt wurde.«
»Was sind Ambossabschürfungen?«, fragte Nora.
»Ganz spezielle, parallel verlaufende Schürfspuren, die dadurch erzeugt werden, dass man einen Schädel auf einen Stein legt und mit einem anderen Stein darauf schlägt. So etwas macht man meistens, um die Hirnschale zu öffnen, weshalb man derartige Spuren normalerweise auch an Tierschädeln findet, die aufgebrochen werden, um ihr Gehirn zu verzehren.«
Aus dem Augenwinkel sah Nora, dass Smithback wie ein Wilder in sein Notizbuch schrieb.
»Aber ich habe noch mehr gefunden«, fuhr Aragon fort. »Viele der Gebeine zeigen das hier.« Er nahm einen kleineren Knochen mit der Pinzette hoch und hielt ihn Nora vors Gesicht. »Schauen Sie sich doch einmal die Bruchstellen an diesem Knochen genauer an«, sagte er und reichte Nora eine Lupe.
Nora untersuchte den Knochen. »Ich kann nichts Ungewöhnliches entdecken«, sagte sie. »Höchstens einen merkwürdigen Glanz an den Enden, der so aussieht, als habe man den Knochen benutzt, um ein Fell von innen auszuschaben.«
»Diesen Glanz bezeichnet man als >Kochtopfschliff<«, erklärte Aragon.
»Kochtopfschliff?«, wiederholte Nora mit leiser Stimme und spürte, wie eine in ihrem Bauch aufkeimende Angst ihr langsam die Kehle zuschnürte.
»So etwas entsteht, wenn Knochen in einem Tontopf mit rauen Wänden lange Zeit gekocht und immer wieder umgerührt werden«, informierte Aragon. Unnötigerweise fügte er hinzu: »So kocht man Suppe.«
Aragon griff nach der Kaffeekanne und stellte fest, dass sie leer war.
»Wollen Sie damit etwa sagen, dass die Anasazi in dieser Stadt Menschen gekocht und aufgegessen haben?«
»Natürlich will er das sagen«, mischte Black sich ein. »Aber ich habe im Abfallhaufen keinen Hinweis auf menschliche Gebeine gefunden. Dafür aber jede Menge Knochen, die eindeutig von Schlachttieren stammen.«
Aragon erwiderte nichts.
Nora wandte den Blick von ihm ab und ließ ihn über den Canon schweifen. Die Sonne erschien gerade über dem Rand der Klippen, aber das Tal, in dem sie sich befanden, lag noch immer im Schatten, was Nora an ein Bild von Magritte denken ließ. So schön dieses Tal auch war, auf einmal erfüllte es Nora mit düsteren Ahnungen.
»Da ist noch etwas, das ich Ihnen sagen muss«, fuhr Aragon mit leiser Stimme fort.
Nora sah ihn wieder an. »Noch mehr?«
Aragon blickte hinüber zu Sloane. »Ich denke, dass das Grab, das Sie gefunden haben, in Wirklichkeit gar keines war.«
»Auch mir kam es wie eine Art Opfer vor«, hörte Nora sich sagen.
»Genau das ist es auch«, bestätigte Aragon. »Den Spuren an den Knochen nach zu schließen, wurden die beiden Menschen fachmännisch zerlegt - wie von einem Metzger - und die einzelnen Teile dann gekocht und angebraten. Die so zubereiteten Fleischstücke wurden dann vermutlich in den beiden Gefäßen, die Sie entdeckt haben, angerichtet. Zwischen den Knochen habe ich Stücke einer braunen, vertrockneten Substanz gefunden, bei der es sich meiner Meinung nach um mumifiziertes Fleisch handelt, das irgendwann einmal von den Knochen abgefallen sein muss.«
»Das ist ja widerlich«, bemerkte Smithback, der nach wie vor fleißig mitschrieb.
»Die beiden Toten wurden darüber hinaus skalpiert, und ihre Gehirne wurden dann den Schädeln entnommen und - wie soll ich das ausdrücken - zu einer Art Mus verkocht, das mit Chilischoten gewürzt wurde. Ich habe diese... diese Substanz im Inneren der Schädel gefunden.«
Wie auf ein makabres Stichwort hin kroch in diesem Moment Bonarotti aus seinem Zelt und näherte sich dem Feuer, wobei er den Reißverschluss an seinem Hosenlatz hochzog.
Black machte einen unruhigen Eindruck. »Enrique, Sie sind der letzte Mensch auf der Welt, dem ich unterstellen würde, dass er aus purer Sensationsgier voreilige Schlüsse zieht. Aber es gibt Dutzende von Vorgängen, bei denen Knochen verkratzt oder glatt poliert werden. Es muss sich dabei doch nicht unbedingt um Kannibalismus handeln.«
»Diesen Ausdruck haben Sie gebraucht«, erwiderte Aragon. »Ich hingegen ziehe noch keine Schlussfolgerungen, sondern teile Ihnen lediglich mit, was ich herausgefunden habe.«
»Aber alles, was Sie gesagt haben, legt diesen Schluss nun mal verdammt nahe«, polterte Black los. »Und solche Unterstellungen sind ungeheuerlich! Die Anasazi waren ein friedliches Bauernvolk. bei dem die Wissenschaftler bisher noch keinen einzigen Hinweis auf Kannibalismus entdeckt haben.«
»Das stimmt nicht ganz«, warf Sloane mit leiser Stimme ein und beugte sich vor. »Es gibt mehrere Archäologen, die Theorien über kannibalistische Praktiken bei den Vorfahren der nordamerikanischen Ureinwohner aufgestellt haben. Was sagen Sie beispielsweise zu Awatovi?«
»Awatovi«, wiederholte Black. »Das Hopi-Dorf, das im Jahr 1700 zerstört wurde?«
Sloane nickte. »Nachdem die Spanier die Einwohner von Awatovi zum Christentum bekehrt hatten, griffen die Bewohner der umliegenden Indianersiedlungen sie an und schlachteten sie ab. Ihre Knochen wurden vor dreißig Jahren gefunden und wiesen genau die Spuren auf, die Enrique uns gerade geschildert hat.«
»Vielleicht herrschte damals ja eine Hungersnot«, sagte Nora. »Schließlich gibt es auch in unserer Kultur zahlreiche Beispiele dafür, dass extremer Hunger Menschen zum Kannibalismus getrieben hat. Und außerdem sind wir hier weit entfernt von Awatovi, und die Anasazi sind etwas ganz anderes als die Hopi. Wenn wir es hier wirklich mit Kannibalismus zu tun haben, dann muss dieser rituelle Gründe gehabt haben - sozusagen institutionalisierter Kannibalismus im großen Stil. Mich erinnert das weniger an die Geschehnisse in Awatovi, sondern an...« Sie hielt inne und blickte hinüber zu Aragon.
»An die Azteken«, vervollständigte er ihren Satz. »Dr. Black, Sie haben eben gesagt, dass Kannibalismus für die Anasazi undenkbar gewesen wäre. Das mag sein, aber es trifft nicht auf die Azteken zu. Von denen wissen wir, dass sie Kannibalismus betrieben haben, aber nicht zur Nahrungsbeschaffung, sondern um durch Terror soziale Unterdrückung auszuüben.«
»Worauf wollen Sie hinaus? Wir befinden uns hier in den Vereinigten Staaten und nicht in Mexiko. Haben Sie etwa vergessen, dass wir eine Anasazi-Stadt ausgraben?«
»Und in dieser Anasazi-Stadt soll es eine herrschende Klasse gegeben haben? Und einen Schutzgott namens Xochitl? Haben Sie jemals von einer Anasazi-Stadt mit blumengefüllten Begräbniskammern gehört? Oder von einer Anasazi-Stadt, in der man möglicherweise sogar...
rituellen Kannibalismus betrieben hätte?« Aragon schüttelte den Kopf. »Ich habe an Schädeln aus der unteren und der oberen Schicht im Tunnel einige forensische Untersuchungen angestellt und herausgefunden, dass sie große Unterschiede aufweisen. So differieren beispielsweise die Formen der Schädelknochen und der Schneidezähne so stark voneinander, dass wir es meiner Meinung nach mit zwei vollkommen unterschiedlichen Menschentypen zu tun haben. Daraus könnte man schließen, dass sich die Bevölkerung von Quivira in Anasazi-Sklaven und in eine herrschende Oberschicht aus Azteken aufgeteilt hat. Sämtliche Erkenntnisse, die ich bislang hier gewonnen habe, deuten darauf hin, dass eine Gruppe von Azteken - oder ihrer Vorgänger, der Tolteken - um das Jahr 950herum die Anasazi überfallen und sich selbst als herrschende Priesterkaste etabliert hat. Möglicherweise haben sie sogar den Bau der großen Anasazi-Städte wie Chaco Canon befohlen.«
»Das ist ja wohl die absurdeste Theorie, die ich je gehört habe«, sagte Black. »Bisher gibt es weder Beweise für einen aztekischen Einfluss auf die Kultur der Anasazi noch für das Vorhandensein von Sklaverei. Das, was Sie gerade gesagt haben, widerspricht sämtlichen archäologischen Erkenntnissen der letzten hundert Jahre.«
»Moment mal«, wandte Nora ein. »Lassen Sie uns Enriques Gedanken nicht vorschnell verwerfen. Schließlich hat bisher noch niemand eine so intakte Stadt wie Quivira entdeckt, und diese Theorie würde nicht nur ihre seltsame Lage erklären, sondern auch viele andere Rätsel, auf die wir hier gestoßen sind. Nehmen Sie zum Beispiel die Hinweise, dass die Stadt ein Zentrum für Pilger war.«
»Und ihren sagenhaften Reichtum«, ergänzte Sloane nachdenklich. »Vielleicht waren wir ja mit der Annahme, dass die Bewohner von Quivira Handel mit den Azteken getrieben haben könnten, auf dem falschen Dampfer. Es wäre gut möglich, dass die Azteken als Eroberer kamen, eine Oligarchie etablierten und ihre Macht durch Rituale wie Menschenopfer und Kannibalismus sicherten.«
Als Smithback sich anschickte, eine Frage zu stellen, hörte Nora aus der Feme einen Schrei. Fast gleichzeitig drehten sich alle Köpfe in Richtung Slot-Canon, wo sich Swire wie ein Besessener durch das Gestrüpp kämpfte.
Als er am Lager angelangt war, blieb er schwer atmend stehen. Nora starrte den von der Kletterei noch vollkommen durchnässten Cowboy entgeistert an. Mit Wasser vermischtes Blut tropfte ihm aus den Haaren auf sein Hemd, das an den Schultern eine rosarote Färbung angenommen hatte.
»Was ist denn los?«, fragte Nora scharf.
»Meine Pferde«, keuchte Swire und rang nach Luft. »Jemand hat ihnen den Bauch aufgeschlitzt.«