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John Beiyoodzin ging zu Fuß über das Felsplateau oberhalb des Tales von Quivira. Ein kleineres Gewitter zog gerade unmittelbar über seinen Kopf hinweg und verfinsterte den Abendhimmel noch zusätzlich. Der bucklige Fels war glatt und schlüpfrig vom Regen, so dass Beiyoodzin Acht geben musste, um nicht auszurutschen. Seine alten Beine taten ihm weh, und er vermisste sein Pferd, das er unten im Tal von Chiibah hatte lassen müssen. Der Priesterpfad war für Pferde nicht passierbar.
Die nur in unregelmäßigen Abständen vorhandenen Wegmarkierungen waren in der Dunkelheit nicht leicht zu erkennen. Nur hier und da wies eine kleine, verfallene Steinpyramide auf den weiteren Verlauf hin. Beiyoodzin musste sein ganzes Können aufbieten, um sie zu entdecken, denn seine Augen waren nicht mehr so gut wie früher. Und er wusste, dass der schwierigste Teil der Strecke noch vor ihm lag: der anstrengende, gefährliche Abstieg in den engen Slot-Canon jenseits des Tales.
Beiyoodzin zog sich seinen regenfeuchten Umhang fester um die Schultern und ging weiter. Trotz der Erzählungen seines Großvaters hatte er sich nicht klargemacht, welche körperliche Anstrengung der Priesterpfad ihm abverlangen würde. Nach dem fast senkrechten Anstieg in der verborgenen Felsspalte im Chilbah-Tal führte er in weiten, kompliziert verschlungenen Windungen über das Hochplateau, wo er sich viele Kilometer lang zwischen verkrüppelten Wacholdersträuchern durch trockene Bachbetten und über steile, kleine Felsspalten zog. Beiyoodzin zwang seine müden Beine zu einer schnelleren Gangart. Es war spät, vielleicht schon zu spät. Wer konnte wissen, was inzwischen im Tal von Quivira geschehen war oder womöglich gerade geschah?
Plötzlich blieb Beiyoodzin stehen. In der Luft lag ein sonderbarer Geruch, eine Mischung aus feuchter Asche und noch etwas anderem, das ihm das Herz bis in den Hals hinauf schlagen ließ. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und versuchte, im Licht der immer wieder herabzuckenden Blitze die Umgebung etwas besser zu erkennen. Nachdem er vorsichtig ein paar Meter weitergegangen war, entdeckte er es: Halb verborgen unter einem überhängenden Felsen - wie er es sich gedacht hatte - befanden sich die Überreste einer kleinen Feuerstelle.
Rasch und vorsichtig vergewisserte sich Beiyoodzin, ob er alleine war und die Wesen, die das Feuer entfacht hatten, auch wirklich nicht mehr da waren. Dann ging er in die Hocke und untersuchte die Asche. Er fand verkohlte Reste von Wurzeln und etwas, das ihm den Atem stocken ließ: Es war das schlaffe, verwelkte Blütenblatt einer Pflanze, das er nun vorsichtig in die Hand nahm und sich an die Nase hielt. Der Geruch, den es verströmte, bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen: Es war der selbst im halb verbrannten Zustand des Blattes noch deutlich wahrnehmbare Duft von Purpurwinden.
Beiyoodzin stand auf und wischte sich aufgeregt die Hände an seiner feuchten Hose ab. Als Kind hatte er in seinem Dorf Nankoweap einmal etwas Schreckliches beobachtet: Ein sehr alter Mann, ein böser Mann, hatte eine verbotene Datura-Blüte zu sich genommen und war daraufhin in eine Art Raserei verfallen. Im Rausch hatte er mit einem Vielfachen seiner normalen Kraft auf alle, die sich ihm in den Weg stellten, eingeschlagen, und erst einem halben Dutzend jungen Männern war es gelungen, ihm Einhalt zu gebieten.
Aber das hier war schlimmer, erheblich schlimmer sogar. Die Wesen, die er verfolgte, hatten die Datura-Pflanze auf die traditionelle Art und Weise zu sich genommen: zusammen mit magischen Pilzen, Früchten des Mescal-Kaktus und verbotenen Insekten. Damit konnte der böse Geist von ihnen Besitz ergreifen, ihren Gliedern enorme Kraft verleihen und eine mörderische Besessenheit in ihre Gehirne pflanzen. Mit dieser Mischung spürten sie keinen Schmerz, weder ihren eigenen noch den der anderen.
Beiyoodzin kniete nieder und sprach ein kurzes, inbrünstiges Gebet hinaus in die Dunkelheit. Dann erhob er sich und machte sich rascher als zuvor wieder auf den Weg.