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Aaron Black lag verwirrt und total verängstigt im Kiva. Obwohl die langsam schwächer werdende Lampe noch immer einen matten Lichtschein in den engen, staubigen Raum warf, hielt er die Augen fest geschlossen, als müsse er auf diese Weise sein totales Versagen nicht zur Kenntnis nehmen. Es kam ihm so vor, als seien Stunden vergangen, seit Sloane ihn verlassen hatte, aber es hätten genauso gut auch nur ein paar Minuten gewesen sein können. Black hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Er zwang sich, seine verklebten Augen zu öffnen. Etwas Schreckliches ging in seinem Körper vor. Möglicherweise hatte es sich ja schon seit geraumer Zeit zusammengebraut und war erst jetzt durch die anstrengende Arbeit und die niederschmetternde Enttäuschung zum Ausbruch gekommen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass man hier in dem Kiva kaum atmen konnte. Er musste unbedingt hinaus an die frische Luft. Unter Aufbietung all seiner Kräfte versuchte er sich zu erheben, nur um zu seinem Erstaunen festzustellen, dass seine Beine einknickten wie Streichhölzer.

Mit den Armen wild in der Luft herumrudernd, fiel er auf den Rücken. Ein Gefäß, das er dabei umgestoßen hatte, rollte polternd über den staubigen Boden und kam neben seinem Oberschenkel zur Ruhe. Vielleicht war er ja auf so einen Tiegel getreten und deshalb gestürzt. Noch einmal versuchte er sich aufzurappeln, musste aber erkennen, dass eines seiner Beine in krampfartigen, unkontrollierbaren Bewegungen zu zucken begann. Das Licht der elektrischen Laterne, die er bei seinem Sturz umgeworfen hatte, konnte die dichte Staubwolke in der Luft kaum durchdringen.

Seit seiner Jugend hatte Black einen immer wiederkehrenden Alptraum: Er war gelähmt und konnte sich nicht bewegen. Jetzt war dieser Traum Wirklichkeit geworden. Seine Glieder fühlten sich an wie eingefroren und gehorchten nicht mehr den Befehlen seines Gehirns.

»Ich kann mich nicht mehr bewegen!«, schrie Black und bemerkte dabei mit Schrecken, dass er nicht einmal mehr die Worte richtig zu artikulieren vermochte. Es war zwar Luft aus seinem Mund gekommen - zusammen mit etwas Speichel, der ihm jetzt über die Lippen lief -, aber kein richtiger Ton. Black versuchte es noch einmal und hörte wieder nur ein hässliches, ersticktes Krächzen. Zunge und Lippen versagten ihm ihren Dienst. Von Panik ergriffen, wollte er wieder aufstehen, doch schaffte er es nicht einmal, den Oberkörper zu heben. Merkwürdige Gestalten begannen in der Dunkelheit rings um ihn herumzutanzen. Er wollte sich abwenden, aber seine Halsmuskeln waren starr. Er schloss die Augen. Die Gestalten wurden dadurch jedoch nur umso deutlicher sichtbar.

»Sloane!«, versuchte er zu rufen, während er ins Halbdunkel starrte und nicht einmal zu blinzeln wagte. Selbst das Atmen fiel ihm jetzt schwer. Da erlosch die Lampe, deren Licht nur noch ein Glimmen gewesen war, vollständig.

In der Dunkelheit versuchte Black abermals zu schreien, aber nichts tat sich. Sloane hatte ihm doch ein Medikament bringen wollen. Wo blieb sie denn bloß? Seit die Lampe aus war, nahmen die Halluzinationen um ihn herum erschreckend realistische Gestalt an: Verdrehte Skelette mit grinsenden Totenschädeln, deren Zähne mit blutroten Karneolen geschmückt waren, huschten plappernd und flüsternd durch das Kiva. Black sah das Flackern von Feuern, roch verbranntes Menschenfleisch und hörte die gurgelnden Schreie der Opfer, die an ihrem eigenen Blut erstickten.

Es war fürchterlich. Black konnte nicht einmal die durch einen inneren Druck brennenden Augen schließen, und sein Mund stand immer noch weit offen von dem Schrei, den er nicht herausgebracht hatte. Aber zumindest erkannte Black noch, dass die schattenhaften Umrisse, die er sah, nichts weiter als Halluzinationen waren. Das bedeutete, dass er immerhin noch Wirklichkeit und Einbildung zu unterscheiden vermochte. Trotzdem war es entsetzlich, seinen Körper nicht mehr zu spüren, nicht mehr zu fühlen, wo die einzelnen Gliedmaßen sich befanden, seine Körperfunktionen nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Wieder wurde Black von der heftigen Lähmungsangst ergriffen, die er schon so oft in seinen schlimmsten Alpträumen verspürt hatte.

Black verstand nicht, weshalb alles so falsch gelaufen war. War Nora wirklich tot? Lag er selbst im Sterben, hier, in der fürchterlichen Finsternis dieses Kivas? Waren Sloane und Bonarotti wirklich bei ihm gewesen, oder hatte er sich auch das nur eingebildet? Vielleicht waren sie ja auf dem Weg zu Aragon, damit er ihm zu Hilfe kam. Aber nein - Aragon war ja tot. Genauso wie Nora.

Aragon, Smithback, Nora... Black fühlte sich ebenso schuldig an ihrem Tod, als wenn er jeden von ihnen eigenhändig erschossen hätte. Er war so darauf versessen gewesen, das Kiva zu öffnen, dass er Nora die Existenz der Gewitterfront verschwiegen hatte. Er hatte sein Verlangen nach Ruhm und Karriere über alle Menschlichkeit gestellt. Jetzt stöhnte er innerlich auf. Es war klar, dass niemand ihm zu Hilfe kommen würde. Er war völlig allein in der Finsternis. Aber dann sah er ein Licht, einen schwachen Schein, der sich kaum von der Dunkelheit ringsum unterscheiden ließ, und hörte ein Rascheln. Frische Hoffnung keimte in ihm auf. Sloane kam doch zu ihm zurück.

Das Licht wurde stärker, und Black sah durch den Schleier seiner Krankheit, dass es ein Feuerschein war, der sich ihm, einen Schweif orangefarbener Funken hinter sich herziehend, wie von selbst durch die Dunkelheit des Kivas näherte. Als er nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, erkannte Black dahinter eine abscheuliche Erscheinung, die halb Mensch, halb Tier zu sein schien.

Black versank in neuerliche Verzweiflung. Seine vermeintliche Rettung war nichts als eine weitere Halluzination. Vor Enttäuschung begann er bitterlich zu weinen, aber in seine Augen wollte nicht eine einzige Träne steigen. Sein starrer Körper zuckte nicht einmal.

Jetzt stand die Erscheinung direkt vor ihm. Black roch den Rauch von Wacholderholz, gemischt mit dem schweren, süßen Duft von Purpurwinden, und sah, wie sich im flackernden Schein der Flammen eine schwarz glänzende Messerklinge aus Obsidian auf ihn zubewegte.

Verwundert fragte sich Black, aus welchen grotesken Tiefen seines Gehirns dieses seltsame Bild und die außergewöhnliche Mischung von Gerüchen wohl aufgestiegen sein mochten. Vielleicht erinnerte er sich ja unbewusst an eine grausige Zeremonie, von der er während seines Studiums irgendwann einmal gelesen hatte. Jetzt, in der schlimmsten Phase seines Deliriums, stieg sie mit quälender Deutlichkeit wieder aus seinem Gedächtnis auf.

Die Gestalt beugte sich über ihn, und Black sah, dass sie eine von getrocknetem Blut verkrustete Ledermaske trug. Feurige Augen blitzten aus ihren schmalen Schlitzen hervor. Das Bild war erstaunlich real, ebenso wie das Messer, das sich jetzt an seinen Hals presste. Ein Mensch musste schon sehr krank sein, um derartige Halluzinationen zu haben...

Black brachte den Gedanken nicht mehr zu Ende. Die kalte, scharfe Schneide des Messers fuhr im quer über den Hals, und das letzte Geräusch, das er in seinem Leben hörte, war das seines eigenen Atems, der pfeifend aus seiner durchschnittenen Luftröhre entwich, gefolgt von einem bluterstickten Röcheln. Jetzt erst erkannte Black mit grausamer, fast übernatürlicher Klarheit, dass seine Halluzination am Ende gar keine gewesen war.