22

Beim Frühstück am nächsten Morgen waren die Expeditionsteilnehmer ungewohnt still. Deutlich konnte Nora den allgemeinen Zweifel spüren, und sie vermutete, dass Blacks Kommentar vom Vorabend seine Wirkung auf die anderen nicht verfehlt hatte.

Nach dem Aufbruch folgten sie einem rauen, unwirtlichen Canon ohne jegliche Vegetation nach Nordwesten. Selbst jetzt, am frühen Vormittag, brütete die Sonne auf den zerbröckelnden Steinen und ließ die Luft in Schlieren flimmern. Die durstigen Pferde waren gereizt und schwer zu bändigen.

Je weiter sie in das Canon-System eindrangen, desto verzweigter wurde es. Es verästelte sich in unzählige Seitentäler und verwandelte sich zunehmend in ein kaum mehr überschaubares Labyrinth. Nach wie vor war es unmöglich, von der Talsohle aus per GPS die Position zu bestimmen. Die Wände der Canons waren hier so steil, dass nicht einmal Sloane für eine Messung nach oben hätte klettern können, ohne sich in erhebliche Gefahr zu begeben. Nora wurde bewusst, dass sie fast länger auf die Karte schaute, als dass sie ritt. Einige Male waren sie gezwungen, einen Canon wieder zurückzureiten, weil er sich als eine Sackgasse entpuppt hatte, und des Öfteren ließ Nora den Rest der Expedition warten, bis sie und Sloane den weiteren Verlauf der Route ausgekundschaftet hatten. Black war ungewöhnlich leise und trug ein leidendes Gesicht zur Schau, dem Angst und Arger anzusehen waren.

Nora kämpfte mit ihren Zweifeln. War ihr Vater wirklich so weit in dieses Canon-Land vorgedrungen? Oder hatte sie irgendwo eine falsche Abzweigung genommen? Ab und zu hatten sie zwar wieder etwas Holzkohle entdeckt, aber die Spuren waren so vereinzelt und unregelmäßig gewesen, dass sie ebenso gut von alten Lagerfeuern hätten herrühren können. Ein neuer Aspekt, über den sie lieber nicht nachdenken wollte, drängte sich ihr immer mehr auf: Was wäre, wenn ihr Vater seinen Brief in einer Art Delirium geschrieben hätte? Es kam ihr zunehmend unmöglich vor, dass er wirklich dieses Gewirr von Canons durchquert haben sollte.

In anderen Momenten dachte sie an den Schädel des kleinen Mädchens und an das getrocknete Blut an den Wänden von Petes Ruine, deren Name für sie längst nicht mehr bloß für ein paar unbedeutende Anasazi-Räume stand, sondern für ein düsteres Geheimnis, das ständig an ihren Nerven zehrte.

Als der Vormittag schon halb vorüber war, erreichten sie das Ende des Canons. Nachdem sie sich einen Weg durch dieses Gewirr gesucht hatten, gelangten sie in ein Tal, in dem viele verkrüppelte Wacholderbüsche wuchsen. Rechts sah sie in der Feme die hohe, dunkle Silhouette des Kaiparowits-Plateaus, aber der Anblick, der sich direkt vor ihr bot, war erschreckend und erleichternd zugleich.

Am anderen Ende des Tales erhob sich im scharfen Licht der Vormittagssonne ein hoher, zerklüfteter Bergrücken, bei dem es sich nur um das Devil's Backbone handeln konnte. Diesem Moment hatte Nora den ganzen Ritt über mit einer Mischung aus Grauen und Erwartung entgegengefiebert, und nun lag der Berg, von dem ihr Vater in seinem Brief geschrieben hatte, vor ihr: ein über dreihundert Meter hoher und viele Kilometer langer Kamm aus von großen und kleinen Höhlen durchlöchertem Sandstein, der vertikal von unzähligen Rissen und Schluchten durchfurcht wurde. Sein oberer Grat war gezackt wie der Rücken eines Dinosauriers und verlieh ihm eine bedrohliche, aber auch überwältigende Schönheit.

Nora führte die Gruppe in den Schatten eines großen Felsblocks und ließ sie absteigen. Dann nahm sie Swire beiseite. »Vielleicht sollten wir zuerst einmal einen Weg über diesen Bergrücken suchen«, meinte sie. »Er sieht aus, als wäre er ziemlich schwierig zu überqueren.«

Swire überlegte einen Augenblick, bevor er antwortete. »Also von hier aus betrachtet würde ich die Überquerung nicht schwierig nennen«, sagte er. »Eher unmöglich.«

»Aber ich weiß, dass mein Vater sie geschafft hat. Und zwar mit zwei Pferden.«

»Das haben Sie mir schon erzählt«, entgegnete Swire und spuckte etwas Kautabak aus. »Aber es gibt schließlich noch mehr Bergrücken in dieser Gegend.«

»Der Berg ist Teil eines langen Gebirgszuges, der sich über viele Kilometer erstreckt«, sagte Black, der ihre Unterhaltung mitgehört hatte. »Damit kann sich das ominöse Devil's Backbone praktisch überall befinden.«

»Nein, es ist genau hier«, widersprach Nora betont langsam, wobei sie versuchte, ihrer Stimme jeden zweifelnden Unterton zu nehmen.

Swire schüttelte den Kopf und begann sich eine Zigarette zu rollen. »Eines sage ich Ihnen: Ich möchte den Weg über diesen Berg erst mit eigenen Augen gesehen haben, bevor ich meine Pferde da hinüberführe.«

»Das kann ich verstehen«, antwortete Nora. »Dann lassen Sie uns also losgehen und nach diesem Weg suchen. Sloane, würden Sie sich inzwischen um die übrige Gruppe kümmern?«

»Mache ich«, kam die prompte Antwort.

Nora und Swire gingen in nördlicher Richtung am Fuß des Bergrückens entlang und suchten nach einer Schlucht oder einem Einschnitt im Fels, die möglicherweise den Anfang eines Pfades markieren könnten. Nach etwas mehr als einem halben Kilometer kamen sie an ein paar nicht sehr tief in den Berg hineinführenden Höhlen vorbei, an deren Decken Nora alte Rußspuren entdeckte.

»Hier haben die Anasazi gelebt«, konstatierte Nora.

»Das sind aber ziemlich mickrige kleine Höhlen.«

»Vermutlich dienten sie auch nur als vorübergehender Unterschlupf«, erklärte Nora. »Ich könnte mir vorstellen, dass die Anasazi hier im Talgrund Landwirtschaft betrieben haben.«

»Viel mehr als Kakteen werden die hier nicht angebaut haben«, bemerkte Swire trocken.

Weiter nördlich verzweigte sich das trockene Bachbett, dem sie gefolgt waren, in drei kleinere Zuflüsse, die durch Geröllhalden und Felsblöcke voneinander getrennt waren. Es war eine merkwürdige, unfertig wirkende Landschaft, die aussah, als habe Gott es irgendwann einmal aufgegeben, dem unbotmäßigen Fels eine Form zu geben.

Auf einmal blieb Nora, die gerade zwei Tamariskenbüsche zur Seite bog, wie angewurzelt stehen.

Swire schloss schwer atmend zu ihr auf.

»Sehen Sie nur«, hauchte Nora.

In die dunkle Patina, welche die Felswand bedeckte, war eine Reihe von Zeichnungen eingeritzt, in deren Vertiefungen die hellere Farbe des Gesteins zum Vorschein kam. Nora kniete sich hin, um die Zeichnungen genauer zu untersuchen. Sie waren ebenso komplex wie schön und zeigten einen Berglöwen, ein seltsames Punktemuster rund um einen kleinen Fuß, einen Stern innerhalb eines Mondes, der sich wiederum in einer Sonne befand, sowie eine detaillierte Zeichnung von Kokopelli, dem buckligen Flötenspieler, der bei den Anasazi als Gott der Fruchtbarkeit gegolten hatte. Wie üblich war Kokopelli mit einer enormen Erektion dargestellt. Die Reihe der Bilder endete in einem weiteren komplizierten Punktemuster, über dem eine große Spirale lag, die ebenso wie die Spiralen, die Sloane bei Petes Ruine gefunden hatte, linksdrehend war.

»Dem seine Probleme da möchte ich haben«, knurrte Swire und deutete auf Kokopelli.

»Das bezweifle ich. In einer Geschichte der Pueblo-Indianer wird sein Penis als fast zwanzig Meter lang beschrieben.«

Sie kämpften sich weiter durch das Tamariskengestrüpp, bis sie auf einen geschickt verborgenen Pfad stießen. Es handelte sich um eine schräg die Wand hinaufführende, mit losem Geröll gefüllte Felsspalte, die man wegen einer niedrigen Sandsteinklippe an ihrem äußeren Rand selbst aus der Entfernung von ein paar Metern kaum vom Gestein der Felswand unterscheiden konnte.

»Ich habe noch nie einen so raffiniert versteckten Weg gesehen«, sagte Nora. »Das muss unser Pfad sein.«

»Hoffentlich nicht.«

Gefolgt von Swire, begann Nora den steilen und schmalen Weg hinaufzusteigen. Das Geröll, mit dem die Spalte aufgefüllt war, rutschte ihr unter den Füßen weg, weshalb das Vorwärtskommen ziemlich anstrengend war. Etwa auf halbem Weg die Wand hinauf verwandelte sich der Spalt in einen stark verwitterten, direkt in den

Sandstein gehauenen Pfad, der nicht einmal einen Meter breit war. An einer Seite ragte senkrecht die Felswand auf, während sich an der anderen ein über hundert Meter tiefer, Schwindel erregender Abgrund befand. Als Nora zu nahe an den Rand trat, lösten sich ein paar Gesteinsbrocken und polterten in die Tiefe. Obwohl Nora angestrengt lauschte, konnte sie nicht hören, wie sie unten aufschlugen. Sie ging in die Hocke. »Das ist eindeutig ein alter Pfad«, sagte sie, während sie die Spuren untersuchte, die noch von den Quarzitwerkzeugen der Anasazi stammen mussten.

»Das kann schon sein, aber für Pferde ist er bestimmt nicht angelegt worden.«

»Die Anasazi hatten keine Pferde.«

»Aber wir haben welche«, kam die barsche Antwort.

Vorsichtig gingen sie weiter den Steig hinauf. Manchmal war er so verwittert, dass sie gezwungen waren, über große Löcher zu springen. An einer dieser Stellen blickte Nora nach unten und sah einen Haufen Felsblöcke, der sich gut zweihundert Meter unter ihr befand. Von plötzlicher Höhenangst gepackt, sprang sie rasch über das Loch.

Der Steigungswinkel des Pfades flachte sich allmählich ab und nach zwanzig Minuten Aufstieg hatten Nora und Swire den Kamm des Bergrückens erreicht. Ein toter Wacholderbusch, dessen Zweige von einem Blitzschlag versengt waren, markierte den oberen Endpunkt des Weges. Der Kamm selbst erwies sich als ein an die sieben Meter breiter Grat, den Nora in einer Sekunde überquert hatte. Auf der anderen Seite tat sich ein weiteres, ausgedehntes Labyrinth aus Canons und trockenen Flussbetten vor ihren Blicken auf, doch vor ihnen lag am Fuß des Bergrückens ein breites, fruchtbares Tal. Der Pfad, der hier bei weitem nicht so steil war, führte in sanftem Bogen nach unten.

Einen Augenblick lang war Nora sprachlos. Die Sonne, die sich ihrem mittäglichen Höchststand näherte, leuchtete in die tiefen Canons hinein und vertrieb die Schatten aus den dunkelroten Felsschluchten.

»Sehen Sie nur, wie grün das ist«, sagte sie schließlich zu Swire. »All diese Pappeln und so viel Gras für die Pferde. Und da ist ja auch ein Fluss!« Während sie auf das Wasser blickte, spürte Nora, wie sich ihre Halsmuskeln krampfartig zusammenzogen. Vor lauter Begeisterung hatte sie vorübergehend ihren Durst vergessen.

Swire sagte kein Wort.

Von ihrem Aussichtspunkt aus prägte sich Nora die markantesten Punkte der Landschaft ein. Das Devil's Backbone durchschnitt sie in nordöstlicher Richtung und ging in ein paar Kilometern Entfernung in das Kaiparowits-Plateau über, an dessen Rand das riesige Canon-System zu Noras Füßen seinen Anfang nahm. Von dort wanderten ihre Blicke wieder zu dem grünen Tal am Fuß des Bergrückens und seinem sich friedlich dahinschlängelnden Fluss. Wenn man ihn so sah, konnte man sich kaum vorstellen, dass er sich durch die hier bisweilen auftretenden Sturzfluten binnen weniger Minuten in einen reißenden Strom zu verwandeln und dann das breite, ausgewaschene Tal vollkommen zu überschwemmen vermochte. Auf den Flutflächen an beiden Seiten seiner Ufer lagen riesige Felsblöcke von den Ausmaßen eines Einfamilienhauses, die das Wasser irgendwann einmal aus den Bergen heruntertransportiert hatte. Darüber stiegen in mehreren Terrassen die Wände aus rotem Sandstein an, die weiter oben fantastische Klippen, Türme und Spitzen bildeten. Nora kam es so vor, als wäre dieses Tal der Ablauf für sämtliche Wasserläufe des Kaiparowits-Plateaus. Am anderen Ende des grünen Tals verschwand der Fluss, der dort dichtes Röhricht durchfloss, in einem schmalen, tief eingeschnittenen Canon. Solche extrem engen Felsentäler, die auch als Slot-Canons bezeichnet werden, gab es hier in der Einöde des amerikanischen Südwestens in ziemlich großer Zahl, während sie anderswo in der Welt so gut wie überhaupt nicht vorkamen. Diese bisweilen weniger als einen Meter breiten Schluchten waren das Werk von kleinen Flüssen, die sich jahrtausendelange durch den Sandstein gegraben hatten. Slot-Canons waren oft über hundert Meter tief und erreichten Längen von vielen Kilometern, bevor sie sich wieder zu normalen Canons verbreiterten.

Nora spähte hinüber zum Eingang des Canons, der wie ein dunkler, in den Rand des großen Plateaus geschnittener Schlitz aussah, und schätzte, dass er eine Breite von etwa zweieinhalb Metern aufwies.

Das muss der Slot-Canon sein, von dem mein Vater in seinem Brief geschrieben hat, dachte Nora. Sie spürte, wie wachsende Aufregung sich in ihr breit machte. Schließlich holte sie ihr Fernglas aus dem Rucksack und sah sich damit langsam um. In den Felswänden auf der gegenüberliegenden Seite des Tales konnte sie mehrere nach Süden ausgerichtete Alkoven entdecken, die sich ideal für Behausungen der Anasazi-Indianer geeignet hätten. Soweit Nora jedoch durch das Fernglas erkennen konnte, waren sie alle leer. Auch ein Weg, der möglicherweise zu dem verborgenen Canon mit der Stadt Quivira geführt hätte, ließ sich an den glatten Wänden des Plateaus nicht entdecken. Wenn es einen solchen überhaupt gab, dann war er so gut versteckt, dass sie ihn von hier aus nicht orten konnte.

Nora ließ das Fernglas sinken und sah sich auf dem windumtosten Grat um. Ein Aussichtspunkt wie dieser wäre für ihren Vater eine geeignete Stelle gewesen, um irgendwo seine Initialen einzuritzen, aber sie fand nichts. Zumindest würde Holroyd hier oben endlich eine Positionsbestimmung mit seinem GPS machen können.

Swire hatte sich, mit dem Rücken an einen Felsen gelehnt, hingesetzt und drehte sich eine Zigarette. Er steckte sie zwischen die Lippen und zündete ein Streichholz an.

»Ich bringe meine Pferde nicht diesen Pfad hinauf«, erklärte er.

Nora drehte den Kopf in seine Richtung. »Aber es gibt keinen anderen Weg nach oben.«

»Das weiß ich«, sagte Swire und machte einen tiefen Lungenzug.

»Und was schlagen Sie vor? Sollen wir etwa aufgeben und umdrehen?«

Swire nickte. »Ganz genau«, sagte er und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Und das ist mehr als nur ein Vorschlag.«

Innerhalb von Sekundenbruchteilen war Noras Hochgefühl verflogen. Sie atmete tief durch. »Roscoe, dieser Pfad ist nicht unbegehbar. Wir könnten alles abladen und es auf unseren Schultern hinauftragen und dann die Pferde so führen, dass sie sich ihren Weg selbst suchen können. Es dauert vielleicht bis heute Abend, aber schaffen können wir es.«

Swire schüttelte den Kopf. »Wenn wir die Pferde diesen Weg hinaufzwingen, bringen wir sie um.«

Nora kniete sich neben ihn. »Sie müssen es tun, Roscoe. Das Gelingen der Expedition hängt davon ab. Das Institut wird Ihnen jedes Pferd ersetzen, das zu Schaden kommt.« Seinem Gesichtsausdruck entnahm sie, dass sie etwas Falsches gesagt hatte.

»Sie kennen sich gut genug mit Pferden aus, um zu wissen, dass Sie Unsinn reden«, antwortete er. »Ich sage nicht, dass die Pferde es nicht schaffen können, ich sage vielmehr, dass das Risiko zu groß ist.« Ein trotziger Ton hatte sich auf einmal in seine Stimme gemischt. »Kein Mensch, der noch ganz bei Trost ist, würde ein Pferd diesen Pfad hinaufjagen. Und wenn Sie meine persönliche Meinung hören wollen: Ich glaube nicht einmal an Ihre seltsame Anasazi-Straße -und die anderen tun das auch nicht.«

»Dann sind Sie also alle der Meinung, dass ich Sie in die Irre geführt habe?«

Swire nickte und zog an seiner Zigarette. »Ja. Alle bis auf Holroyd. Aber der Junge würde Ihnen auch in den Krater eines aktiven Vulkans folgen.«

Nora spürte, wie sie rot wurde. »Glauben Sie doch, was Sie wollen«, sagte sie und deutete auf das Sandsteinplateau in der Feme. »Ich jedenfalls weiß, dass dieser Slot-Canon da drüben derjenige ist, den mein Vater gefunden hat. Er muss es einfach sein. Und da es keinen anderen Weg dorthin als den über diesen Bergrücken gibt, bedeutet das, dass mein Vater zwei Pferde diesen Pfad hinaufgeführt hat.«

»Das möchte ich bezweifeln.«

Nora ließ nicht locker. »Als Sie den Vertrag für diese Expedition unterzeichnet haben, wussten Sie, dass es gefährlich werden könnte. Jetzt können Sie nicht einfach einen Rückzieher machen, Roscoe. Man kann die Pferde durchaus über diesen Bergrücken bringen, und deshalb will ich es auch wagen. Ganz gleich, ob Sie mir dabei helfen oder nicht.«

»Das werde ich nicht tun«, sagte Swire.

»Dann sind Sie ein Feigling!«

Swire riss die Augen auf, die sich aber gleich wieder verengten. Lange starrte er Nora schweigend an. »Das werde ich nicht so schnell vergessen«, sagte er dann mit leiser, tonloser Stimme.

Zwei Krähen ließen sich vom Aufwind in die Höhe tragen, um pfeilschnell wieder hinunterzustürzen. Nora ließ sich auf einem Felsen neben Swire nieder und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie wusste nicht, wie sie sich angesichts dieser offen geäußerten Abfuhr verhalten sollte. Ohne Swire kam sie nicht weiter, denn es waren seine Pferde. Einen Augenblick lang keimte ein entsetzliches Gefühl des Scheiterns in Nora auf, aber dann kam ihr plötzlich eine Idee. »Wenn Sie umkehren wollen, sollten Sie sich möglichst bald auf den Weg machen«, sagte sie ruhig und schaute zu Swire hinüber. »Wenn ich mich recht erinnere, liegt die letzte Wasserstelle nämlich zwei Tagesritte hinter uns.«

Swire verzog verdutzt das Gesicht und fluchte leise vor sich hin. Auch ihm wurde klar, dass sich das von seinen Pferden so verzweifelt benötigte Wasser in dem grünen Tal zu seinen Füßen befand. Er schüttelte langsam den Kopf und spuckte aus. »Na schön, Sie haben gewonnen«, sagte er und sah Nora mit einem Blick an, der sie innerlich zusammenzucken ließ.

Als sie zurück zu den anderen kamen, war es zwölf Uhr mittags. Eine Spannung, die man fast mit den Händen greifen konnte, lag über der Gruppe, und die durstigen Pferde, die im Schatten angebunden waren, scharrten mit den Hufen und schleuderten nervös den Kopf herum.

»Sie sind nicht vielleicht zufällig an einer Kneipe vorbeigekommen?«, fragte Smithback mit gezwungener Fröhlichkeit. »Ich hätte jetzt richtig Lust auf ein eiskaltes Bier.«

Swire schob sich wortlos an ihm vorbei und stapfte hinüber zu den Pferden.

»Was ist denn mit dem los?«, fragte Smithback.

»Wir haben eine schlimme Wegstrecke vor uns«, erwiderte Nora, die vor der Gruppe stehen blieb.

»Wie schlimm?«, platzte Black heraus. Abermals konnte Nora

nackte Angst in seinem Gesicht erkennen.

»Sehr schlimm«, antwortete sie und blickte in die von Schmutz starrenden Gesichter ihrer Gefährten. Die erwartungsvolle Art, mit der einige von ihnen sie ansahen, löste in ihr einen neuen. Schub von Selbstzweifeln aus. Sie atmete tief durch. Wie konnte sie es sich anmaßen, diesen Leuten zu sagen, was sie zu tun hatten? »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Die gute Nachricht ist, dass es jenseits dieses Bergrückens Wasser in Hülle und Fülle gibt, und die schlechte, dass wir unsere gesamte Ausrüstung zu Fuß auf den Berg hinauftragen müssen. Danach holen Roscoe und ich die Pferde.«

Black stöhnte auf.

»Nehmen Sie nicht mehr als fünfzig Kilo auf einmal, und gehen Sie nicht zu schnell. Der Pfad über den Berg ist nicht ungefährlich, nicht einmal für Fußgänger, und jeder von uns muss ihn ein paar Mal gehen.«

Black erweckte den Anschein, als wolle er etwas sagen, hielt dann aber doch den Mund. Sloane stand auf, griff sich einen der Tragkörbe, die Swire den Packpferden abgenommen hatte, und hievte ihn sich auf die Schulter. Holroyd folgte ihrem Beispiel, obwohl er mit der Last sichtlich Probleme hatte. Erst nachdem Aragon und Smithback ebenfalls je einen Korb genommen hatten, erhob sich auch Black. Er fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn und trottete den anderen hinterher.

Fast drei Stunden später stand Nora schwer atmend zusammen mit den anderen oben auf dem Devil's Backbone und ließ noch einmal ihre fast leere Feldflasche kreisen. Die Ausrüstung, die sie in drei beschwerlichen Touren nach oben gebracht hatten, lag sauber aufgereiht neben einem großen Felsen. Black, der fix und fertig war, hockte schweißüberströmt auf einem Stein, und auch den anderen ging es nicht viel besser. Die Sonne war ein gutes Stück nach Westen gewandert und beleuchtete nun den lang gestreckten Pappelhain unten im Tal, durch das sich der Fluss hindurchschlängelte wie ein glänzendes Band aus reinem Silber. Nach der trockenen Wüstenlandschaft der letzten Tage kam den Expeditionsteilnehmern dieser Anblick unbeschreiblich üppig und schön vor. Nora war so durstig, dass ihr der ganze Körper wehtat.

Sie drehte sich um und blickte den Pfad hinunter, den sie heraufgekommen waren. Die schwierigste Aufgabe stand ihr noch bevor. Großer Gott, dachte sie, da müssen wir jetzt sechzehn Pferde raufbringen... Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Magen breit und ließ sie die Schmerzen in ihren Gliedern vergessen.

»Ich möchte gerne mit den Pferden helfen«, sagte Sloane.

Nora wollte etwas erwidern, aber Swire kam ihr zuvor. »Nein!«, brummte er. »Je weniger von uns auf diesem verdammten Pfad herumlaufen, desto weniger können sich den Hals brechen.«

Nora übergab Sloane die Verantwortung für die Gruppe und stieg zusammen mit Swire wieder nach unten. Dort brachte der Cowboy mit mürrischem Gesicht die Pferde herbei, die nur ihr Zaumzeug trugen. Nur Mestizo hatte er ein Seil an das Halfter gebunden. »Wir führen die Pferde hintereinander über den Pfad. Ich gehe mit Mestizo voraus, und Sie machen mit Fiddlehead den Schluss. Falls eines der Pferde abstürzen sollte, geben Sie Acht, dass es Sie nicht mit in die Tiefe reißt.«

Nora nickte.

»Wenn wir erst einmal den oberen Abschnitt des Pfades erreicht haben, dürfen die Tiere nicht mehr anhalten, ganz gleich, was geschieht. Wenn sie erst einmal Zeit zum Nachdenken haben, bekommen sie es nämlich mit der Angst zu tun und wollen umkehren. Halten Sie die Tiere also ständig in Bewegung, egal, was passiert. Haben Sie verstanden?«

»Klar und deutlich.«

Sie begannen die Pferde den Pfad hinaufzuführen, wobei sie darauf achteten, dass zwischen den einzelnen Tieren genügend Abstand war. An einer Stelle zögerte Mestizo, aber Swire gelang es, ihn wieder in Bewegung zu setzen. Die anderen Pferde folgten ihm. Vorsichtig suchten sie sich mit gesenktem Kopf ihren Weg. Die Luft war erfüllt vom langsamen Klappern der Hufe und, wenn eines der Tiere einen Fehltritt gemacht hatte, vom Poltern losgetretener Steine. Je höher sie kamen, desto ängstlicher wurden die Pferde. Sie begannen zu schwitzen und laut zu schnauben und rollten mit den Augen, so dass man das Weiße darin sehen konnte. Auf halbem Weg endete die mit Geröll gefüllte Felsspalte und der gefährliche, in den Fels gehauene Teil des Pfades begann, den jahrhundertelange Erosion zur bloßen Andeutung eines Weges reduziert hatte. Dort, wo er bereits abgebröckelt war, würden die Pferde über einen gähnenden Abgrund treten müssen. Als Nora an diese Stellen und an die steilen Kehren weiter oben dachte, musste sie mit aller Macht die Panik unterdrücken, die tief in ihrem Innern aufstieg.

Swire hielt kurz an und drehte sich zu ihr um. Jetzt können wir noch zurück, schien sein eiskalter Blick zu sagen. Wenn wir weitergehen, haben wir diese Chance vertan.

Nora schaute hinauf zu dem o-beinigen Cowboy, dessen Schultern kaum bis an den Rist seiner Pferde reichten. Er sah so ängstlich aus, wie sie sich fühlte.

Nachdem sie sich einen Moment lang wortlos betrachtet hatten, machte Swire kehrt und führte Mestizo weiter den Pfad hinauf. Das Tier ging zögernd ein paar Meter weiter, bevor es zu scheuen begann. Es gelang Swire, Mestizo zu einigen weiteren Schritten zu bewegen, dann scheute er wieder und wieherte vor Angst. Eines seiner Hufeisen rutschte ab, bis es doch noch festen Halt auf dem Sandstein fand.

Indem er mit leiser Stimme auf das Pferd einredete und mit dem Ende seines Lassos direkt an Mestizos Hinterteil schnalzte, brachte Swire ihn wieder in Bewegung. Die anderen Tiere, deren Herdentrieb offenbar stärker war als ihre Angst, folgten ihm. Quälend langsam arbeiteten sie sich nach oben. In die klopfenden und kratzenden Geräusche der auf dem glatten Fels nach Halt suchenden Hufeisen mischte sich das ängstliche Schnauben des einen oder anderen Pferdes, und Swire begann leise ein trauriges, aber beruhigendes Lied vor sich hin zu singen, dessen Text Nora nicht verstehen konnte.

Als sie die erste Kehre erreichten, führte Swire Mestizo langsam um die Kurve und stieg über einen tiefen Spalt weiter nach oben, bis er direkt über Noras Kopf war. Sweetgrass, die als drittes Pferd der Kolonne ging, rutschte plötzlich mit einem Huf aus und kam gefährlich nahe an den Rand des Abgrunds, so dass Nora schon fürchtete, die Stute würde abstürzen. Im letzten Moment fand sie mit weit aufgerissenen Augen und bebenden Flanken wieder Halt und stapfte Mestizo hinterher.

Nach einigen endlosen Minuten kamen sie an der zweiten Kehre an, wo der Pfad sich jetzt auch noch stark verengte. Als Mestizo die Kehre bereits hinter sich hatte, scheute er wieder. Auch Beetlebuni, das zweite Pferd, blieb stehen und begann rückwärts zu gehen. Von unten sah Nora, dass er dabei einen seiner Hinterhufe neben den Steig setzte.

Starr vor Schreck beobachtete sie, wie das Pferd mit dem Hinterteil wegrutschte und sein Bein, das keinen Halt mehr fand, verzweifelt ausschlug. Langsam bekam das Tier immer stärkeres Übergewicht nach hinten, bis es schließlich über den Rand des Pfades hinweg in die Tiefe sackte. Im Fallen überschlug es sich einmal und raste dann, vor Todesangst laut wiehernd, direkt auf Nora zu. Wie in Zeitlupe sah sie das Pferd auf sich zukommen, das verzweifelt mit seinen Beinen zappelte, als tanze es ein seltsames Ballett. Sein Schatten fiel auf ihr Gesicht, und dann prallte Beetlebum mit solcher Wucht auf den vor ihr gehenden Fiddlehead, dass sie ihn augenblicklich mit in die Tiefe riss. Einen entsetzlichen Augenblick lang war alles still, bis Nora einen doppelten dumpfen Aufprall hörte, gefolgt vom scharfen Geräusch, mit dem die losgerissenen Felsbrocken auf den Talboden prasselten. Von den Felswänden immer wieder zurückgeworfen, hallten die Schreckensklänge noch lange durch das trockene Tal.

»Schließen Sie auf und halten Sie die Gäule in Bewegung!«, rief Swire ihr mit harter, gepresster Stimme zu. Nora zwang sich, weiterzugehen und Hurricane Deck anzutreiben, der jetzt das letzte Tier in der Reihe war. Aber Smithbacks Reitpferd wollte sich nicht in Bewegung setzen. Mit vor Panik bebenden Flanken blieb es stehen, ging dann urplötzlich mit den Vorderbeinen hoch und drehte sich um zu Nora. Ohne lange nachzudenken, packte sie Hurricane Deck, der mit aufgerissenen Augen versuchte, auf dem schmalen Steig an ihr vorbeizukommen, am Halfter. Mit einem lauten, metallischen Geräusch über den Fels kratzender Hufeisen verlor das schwere Tier den Hak und rutschte an der schrägen Wand unaufhaltsam nach unten. Nora ließ das Halfter los, aber das hinabstürzende Pferd hatte sie bereits aus dem Gleichgewicht gebracht. Einen grauenvollen Augenblick sah sie nichts als die gähnende Leere unter sich, aber dann gelang es ihr im letzten Moment, sich am Rand des Pfades festzuhalten. Swire schrie etwas, das sie nicht verstand, während sie mit bereits über dem Abgrund baumelnden Beinen verzweifelt Halt an dem glatten Sandstein suchte. Kurze Zeit später drang aus der Tiefe ein feuchtes, schmatzendes Geräusch herauf. Es klang wie ein nasser Sack, der aus großer Höhe auf den Erdboden prallt.

Mit den Fingernägeln krallte sich Nora verzweifelt in den Fels. Ihre Beine zappelten noch immer im Leeren, und sie spürte den warmen Aufwind, der an der Wand entlang nach oben strich. Ihre Nägel begannen zu splittern und zu brechen, während sie immer weiter abrutschte. Erst als ihre rechte Hand eine hervorstehende, kaum mehr als einen halben Zentimeter hohe Felsrippe zu fassen bekam, konnte Nora ihren Körper wieder etwas stabilisieren. Sie spürte, wie ihre Kräfte schwanden. Jetzt oder nie, dachte sie und riss sich mit einer gewaltigen Anstrengung nach oben, so dass sie wieder einen Fuß auf den Steig bekam. Mit viel Mühe gelang es Nora schließlich, sich über den Rand des Pfades nach oben zu rollen. Dort blieb sie schwer keuchend auf dem Rücken liegen und hörte, wie von oben ängstliches Wiehern und das Klappern von eisenbeschlagenen Hufen auf nacktem Fels herunterdrangen.

»Stehen Sie auf, verdammt noch mal!«, hörte sie Swire schreien. Schwankend rappelte sie sich hoch, setzte sich wie eine Schlafwandlerin in Bewegung und trieb die dezimierte Herde weiter den Pfad hinauf.

An den Rest des Weges konnte sie sich später nicht mehr richtig erinnern. Alles, was sie noch wusste, war, dass sie irgendwann einmal mit dem Gesicht nach unten auf dem von der Sonne aufgeheizten, staubigen Felsenkamm des Bergrückens lag und jemand sie mit sanften Bewegungen umzudrehen versuchte. Es war Aragon, neben dem Smithback und Holroyd knieten und sie besorgt ansahen. An Holroyds Gesicht konnte sie ablesen, welch große Sorgen er sich um sie gemacht hatte. Aragon half Nora auf und geleitete sie zu einem nahen Stein, wo sie sich erschöpft hinsetzte. »Die Pferde...«, begann Nora.

»Das war nicht Ihre Schuld«, unterbrach sie Aragon sanft, während er sich ihre Hände ansah. »Sie haben sich verletzt.«

Nora sah, dass fast alle ihre Fingernägel abgebrochen waren und ihre Hände stark bluteten. Aragon öffnete seine Arzttasche. »Als Sie über dem Abgrund hingen, dachte ich schon, es wäre um Sie geschehen«, sagte er. Er nahm eine Pinzette und entfernte mit sicheren, geübten Bewegungen kleine Steine und Schmutz aus Noras Wunden, die er daraufhin mit einer antibiotischen Salbe behandelte und verband. »Zum Glück sind es nur Abschürfungen, die rasch verheilen«, sagte er. »Trotzdem sollten Sie ein paar Tage lang Handschuhe tragen.«

Nora sah sich um. Die anderen Expeditionsteilnehmer, sprachlos ob der Ereignisse, erwiderten stumm ihren Blick. »Wo ist Roscoe?«, brachte Nora schließlich unter Mühen hervor.

»Er ist den Pfad wieder hinuntergegangen«, antwortete Sloane.

Nora vergrub den Kopf in den Händen, und fast gleichzeitig ertönte von unten ein Schuss, dem in größeren Abständen zwei weitere folgten. Das Echo der von den Felswänden hundertfach zurückgeworfenen Explosionen hörte sich an wie der Donner eines fernen Gewittersturms.

»O Gott«, stöhnte Nora. Ihr Pferd Fiddlehead war tot, ebenso wie Smithbacks Quälgeist Beetlebum und sein Reitpferd Hurricane Deck. Noch immer glaubte Nora, Hurricane Decks verzweifelt um Hilfe flehende Augen sehen zu können, ebenso seine langen, schmalen Zähne, die er kurz vor seinem Absturz in einer letzten Grimasse des Grauens gebleckt hatte.

Zehn Minuten später kam Swire schwer atmend wieder den Pfad herauf. Ohne ein Wort stapfte er an Nora vorbei zu seinen Pferden und verteilte schweigend die Ausrüstung auf die verbliebenen Tiere.

Holroyd ging zu Nora herüber und nahm ganz vorsichtig ihre Hand. »Ich habe mit dem GPS unsere Position bestimmt«, flüsterte er.

Nora blickte auf. Im Augenblick waren ihr die Koordinaten ziemlich egal.

»Wir sind genau da, wo wir sein sollten«, sagte Holroyd lächelnd.

Alles, was Nora zu Stande brachte, war ein mattes Kopfnicken.

Verglichen mit dem alptraumhaften Aufstieg, bereitete der Weg hinunter ins Tal den Pferden nur wenige Schwierigkeiten. Die Tiere, die das Wasser bereits riechen konnten, liefen von alleine, und die Expeditionsteilnehmer, die allesamt erschöpft waren, begannen auf den letzten hundert Metern hinunter zum Fluss sogar zu rennen. Vor lauter Durst hatte Nora die Vorfälle der letzten Stunden vorübergehend vergessen und sprang etwas flussaufwärts von den Tieren in die Fluten. Sie warf sich auf den Bauch, steckte ihr Gesicht ins Wasser und begann in tiefen Zügen das wunderbare Nass in sich hineinzutrinken. Es war das herrlichste Gefühl, das sie je erlebt hatte, und sie hörte nur auf, um zwischendurch nach Luft zu schnappen. Als sie spürte, dass es ihr vom Magen her übel wurde, stand sie auf und ging ans Ufer, wo sie sich im Schatten der im leichten Wind raschelnden Pappeln niederließ. Schwer atmend genoss sie die Verdunstungskühle ihrer durchnässten Kleider und wartete, dass die Übelkeit vorbeiging. Ein paar Meter von ihr entfernt stand Black, vornübergebeugt an den Stamm einer Pappel gelehnt, und erbrach das Wasser, das er soeben in sich hineingetrunken hatte. Holroyd erging es genauso, während Smithback mit entrücktem Gesichtsausdruck im Fluss kniete und sich mit den Händen immer wieder Wasser über den Kopf schöpfte. Sloane wankte tropfnass heran und ging neben Nora in die Hocke. »Swire braucht unsere Hilfe bei den Pferden«, sagte sie.

Nora stand auf und ging mit Sloane flussabwärts, wo Swire seine Mühe hatte, die Pferde wieder aus dem Fluss zu kriegen. Sloane und Nora, die wussten, dass die Tiere an zu viel und zu rasch gesoffenem Wasser eingehen konnten, packten kräftig mit an. Während der Arbeit vermied es Swire, Nora anzusehen.

Nachdem sich die Expeditionsteilnehmer noch eine Weile ausgeruht hatten, stiegen sie wieder auf und folgten dem Fluss in die ungewohnte Welt des grünen Tals. Das Wasser, das in einem Kiesbett floss, erfüllte die Luft mit einem sanften, beruhigenden Plätschern, in das sich das Zirpen von Zikaden, das Surren von Libellen und ab und zu sogar das rülpsende Quaken eines Frosches mischten. Jetzt, da Noras Durst gestillt war, kamen die Erinnerungen an die drei unglücklichen Pferde mit aller Macht zurück. Sie ritt jetzt auf Arbuckles, mit dessen Bewegungen sie noch nicht vertraut war, und dachte wehmütig an Fiddlehead. Als ihr auf einmal Swires Verse über Hurricane Deck einfielen, die fast schon wie ein Liebesgedicht an das Pferd geklungen hatten, fragte sie sich, wie sie mit dem Cowboy je wieder ins Reine kommen sollte.

Als sie sich bis auf eineinhalb Kilometer dem breiten Sandsteinplateau genähert hatten, wurde das Tal merklich enger. Im Vorbeireiten blickte Nora hinauf zu den Canon-Wänden und stellte erstaunt fest, dass es dort keinerlei Ruinen zu entdecken gab. Das war seltsam, denn eigentlich eignete sich das Tal hervorragend für eine Besiedelung durch Menschen in vorgeschichtlicher Zeit. Sollte sich nach allem, was geschehen war, am Ende vielleicht doch heraussteilen, dass dies das falsche Canon-System war... Nora wollte den Gedanken lieber nicht zu Ende spinnen.

Rasch näherten sie sich der hoch aufragenden Wand des Felsplateaus, wo der Fluss in dem engen Slot-Canon verschwand, den Nora vom Bergrücken aus gesehen hatte. Laut Holroyds Radarbildern verbreiterte sich dieser nach etwa zwei Kilometern zu dem kleinen Tal, in dem sich nach Noras Berechnungen die Stadt Quivira verbergen musste. Der Slot-Canon, das sah sie auf den ersten Blick, war allerdings viel zu schmal, um für die Pferde passierbar zu sein.

Während sie auf die riesige Wand aus Sandstein zuritten, bemerkte Nora einen großen Felsen neben dem Fluss, auf dem ein paar Zeichnungen eingeritzt waren. Sie stieg ab, um sich die Petroglyphen aus der Nähe zu besehen. Sie ähnelten denen, die sie zusammen mit Swire am Fuß des Bergrückens entdeckt hatte, und stellten eine Reihe von Punkten mit einem kleinen Fuß sowie einen Stern und eine Sonne dar. Darüber war eine weitere linksdrehende Spirale in den Fels geritzt.

Die anderen schlössen zu ihr auf und kamen ebenfalls herbei. Als Aragon die Glyphen sah, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck.

»Was halten Sie davon?«, fragte Nora.

»Solche Punktmuster habe ich an den alten Zugängen nach Hopi gesehen«, sagte er nach längerem Nachdenken. »Ich nehme an, dass sie den Anasazi als Wegweiser und Entfernungsmarkierungen dienten.«

»Aber sicher doch!«, höhnte Black. »Und wahrscheinlich konnten sie an ihnen auch die Namen der Ausfahrten ablesen und wie weit es noch bis zur nächsten Raststätte ist. Dabei weiß doch jeder, dass die Bildsymbole der Anasazi bisher noch nicht entschlüsselt wurden.«

Aragon ignorierte den Einwurf. »Der Fuß steht für Gehen«, erklärte er, »und die Punkte bedeuten eine bestimmte Entfernung. Nach meinen Berechnungen, die ich bei anderen Stätten angestellt habe, repräsentiert ein jeder von ihnen sechzehn Gehminuten oder eine Strecke von etwa eins Komma zwei Kilometern.«

»Und was symbolisiert die Antilope dort?«, fragte Nora.

Aragon sah sie erstaunt an. »Eine Antilope, was sonst?«, erwiderte er.

»Dann sind das also gar keine Schriftzeichen?«

»Nicht in dem Sinn, wie wir sie verstehen. Wir haben es hier weder mit einem Alphabet noch mit einer Silbenschrift zu tun, und ideographisch sind die Zeichen auch nicht. Meiner Meinung nach hatten die Anasazi eine ganz eigene Art, mit Symbolen umzugehen. Aber das heißt noch lange nicht, dass ihre Bildzeichen nicht entschlüsselbar sind.«

»Auf der anderen Seite des Höhenrückens habe ich einen Stern innerhalb eines Mondes entdeckt, der sich wiederum selbst innerhalb einer Sonne befand. So eine Glyphe habe ich bisher noch nie gesehen.«

»Die Sonne ist das Symbol für die oberste Gottheit, der Mond das für die Zukunft und der Stern das Symbol für die Wahrheit. Ich würde eine solche Glyphe in etwa so deuten, dass der damit gekennzeichnete Weg zu einem Orakel, zu einer Art Delphi der Anasazi führt.«

»Meinen Sie damit Quivira?«, fragte Nora.

Aragon nickte.

»Und was bedeutet diese Spirale?«, fragte Holroyd.

Aragon zögerte einen Augenblick. »Die Spirale wurde wohl erst später hinzugefügt. Sie ist natürlich linksdrehend.« Er verstummte für einen Augenblick. »Im Zusammenhang mit den anderen Zeichen, die wir gesehen haben, würde ich sie als eine Warnung oder schlechtes Omen interpretieren, das erst später über den älteren Symbolen eingeritzt wurde. Ich verstehe es als eine Aufforderung zur Umkehr, einen Hinweis auf etwas Böses, Gefährliches, das auf dem Weg liegt.«

Niemand sagte etwas.

»Was soll da schon sein? Löwen und Tiger und Bären vielleicht?«, witzelte Smithback schließlich.

»Es gibt so viel, was wir nicht wissen«, sagte Aragon, dessen Stimme einen leicht defensiven Klang angenommen hatte. »Aber vielleicht haben ja Sie, Mr. Smithback, neue Erkenntnisse über die Hexer der Anasazi und ihre modernen Nachfahren, die Skinwalker. Sollte dem so sein, dann helfen Sie uns doch bitte auf die Sprünge.«

Der Journalist beulte eine seiner Wangen mit der Zunge aus und zog die Augenbrauen nach oben, sagte aber nichts.

Als sich die anderen schon zum Gehen wandten, stieß Holroyd, der um den Stein herumgegangen war, um sich seine Rückseite anzusehen, auf einmal einen erstaunten Schrei aus. Nora ging rasch zu ihm und sah eine Reihe von Zahlen und Buchstaben, die ganz offensichtlich sehr viel jüngeren Datums waren als die Glyphen auf der anderen Seite des Felsens. Sie spürte, wie ihre Wangen auf einmal ganz heiß wurden, und ging in die Knie, um die offenbar mit einem Taschenmesser in den weichen Stein geritzten Zeichen mit dem Finger nachzufahren: P. K. 1983.