14
Drei Stunden später hatte die »Landlocked Laura« den Trubel des Hafens von Wahweap bereits achtzig Kilometer hinter sich gelassen. Der Lastkahn, dessen Maschinen leicht vibrierend vor sich hin brummten, schob seinen stumpfen Bug durch das türkisgrüne Wasser und drückte es gurgelnd nach hinten. Nach und nach waren die Sportboote, kreischenden Jetskis und bunt bemalten Hausboote immer weniger geworden, und der Kahn mit den Expeditionsteilnehmern war in eine fast magische Welt aus Stein gelangt, in der Stille wie in einer Kathedrale herrschte. Sie waren ganz allein auf dem riesigen See, der sich grün und spiegelglatt zwischen dreihundert Meter hohen Wänden aus Sandstein erstreckte. Während die Sonne immer tiefer sank, glitt der Kahn an der Grand Bench, der Neanderthal Cove und der Öffnung zur Last Change Bay vorbei.
Eine halbe Stunde zuvor hatte Luigi Bonarotti eine Mahlzeit serviert, die aus über Apfelholz geräucherten, in Cognac geschmorten Wachteln mit Grapefruit und leider etwas welk gewordenem Rucola-Salat bestanden hatte. Dieses bemerkenswerte Essen, von Bonarotti auf dem schäbigen Gasgrill des Lastkahns gezaubert, hatte sogar den ewig meckernden Black zum Verstummen gebracht. Sie waren alle um den Aluminiumtisch zusammengekommen und hatten mit trockenem Orvieto auf das Wohl des Kochs angestoßen. Danach verteilte man sich wieder auf dem Deck, verdaute in kontemplativer Stimmung das exzellente Mahl und wartete darauf, endlich an Land gehen und mit der eigentlichen Expedition beginnen zu können.
Smithback, der beim Essen ordentlich zugelangt und viel Wein getrunken hatte, setzte sich neben Black auf einen der klapprigen. Stühle. Vor dem Essen hatte der Journalist noch Witze über Campingküche und Ratteneintopf gerissen, war aber während der Mahlzeit in wahre Lobeshymnen über den Koch ausgebrochen.
»Haben Sie nicht auch ein Buch über diese Museumsmorde in New York geschrieben?«, wollte Black von Smithback wissen. Der Journalist quittierte die Frage mit einem selbstgefälligen Grinsen.
»Und über das Massaker in der U-Bahn vor ein paar Jahren?«
Smithback zog in einer grandiosen Geste übertriebener Hochachtung seinen imaginären Hut.
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Black und kratzte sich am Kinn. »Ich finde Ihre Arbeit wirklich gut, aber... Also, ich dachte immer, dass das Institut eher auf eine dezente, zurückhaltende Berichterstattung in der Presse Wert legen würde.«
»Nun, ich bin nicht mehr Bill Smithback, der König der Revolverblätter, wie man mich früher einmal genannt hat«, erwiderte der Journalist. »Jetzt arbeite ich für die angesehene, bis oben hin zugeknöpfte >New York Times<, wo ich die Position bekleide, die früher ein gewisser Bryce Harriman innehatte. Auch er hat damals über das Massaker in der U-Bahn berichtet, konnte aber gegen meine Meisterwerke des investigativen Journalismus nicht anstinken. Das war sein Pech.« Er drehte sich um und grinste Nora an. »So kommt es, dass ich heute als wahrer Ausbund seriöser Berichterstattung gelte, dem sich nicht einmal so ein verstaubtes, konservatives Institut wie das von Dr. Goddard verschließen kann.«
Nora fand die Prahlerei des Journalisten alles andere als lustig, selbst wenn diese mit einer Portion Selbstkritik einherging. Leicht irritiert wandte sie den Blick ab und wunderte sich ein weiteres Mal, dass Goddard ihr so einen Zeitungsfritzen mit auf die Expedition geschickt hatte. Sie schaute hinüber zu Holroyd, der auf dem Metalldeck des Kahns hockte, die Ellenbogen auf die Knie gelegt hatte und ein Buch las, das auch in Noras Augen Gnade fand: Es war eine zerfledderte Taschenbuchausgabe von »Coronado und die Goldene Stadt«. Als Holroyd bemerkte, dass sie ihn beobachtete, lächelte er sie an.
Aragon stand an der Bugreling, und Roscoe Swire war wieder bei den Pferden. Er hatte ein Stück Kautabak im Mund und schrieb, während er den Tieren beruhigende Worte zumurmelte, etwas in ein kleines Notizbuch. Bonarotti rauchte behaglich eine Verdauungszigarette und genoss mit übereinander geschlagene Beinen und in den Nacken gelegtem Kopf die Spätnachmittagsonne. Die Arbeit des Kochs hatte Nora gleichermaßen erstaunt und erfreut. Es gibt nichts Besseres, um Menschen zueinander zu führen, als gutes Essen, dachte sie und erinnerte sich an das angeregte Tischgespräch, bei dem sich die Archäologen einen freundlichen Disput über die Herkunft der Clovis-Jäger und die richtige Methode zum Ausgraben von Höhlen geliefert hatten. Sogar Black hatte sich entspannt gezeigt und einen dreckigen Witz zum Besten gegeben, in dem es um einen Proktologen, eine riesige Sequoia und eine unorthodoxe Methode der Datierung anhand von Baumringen gegangen war. Nur Aragon war still und distanziert geblieben, ohne dabei aber überheblich zu wirken.
Nora sah, wie er bewegungslos an der Reling stand und in den Sonnenuntergang starrte. Während der drei Monate, in denen sie am Galegos Divide die verbrannte Indianerhütte ausgegraben hatte, war ihr klar geworden, dass die Dynamik der menschlichen Gefühle ein wichtiger Faktor für das Gelingen oder Scheitern einer Expedition war. Aragons brütendes Schweigen gefiel ihr ganz und gar nicht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Sie stand auf und schlenderte so beiläufig wie möglich auf ihn zu. Nachdem sie sich neben ihn gestellt hatte, sah er sie an und nickte ihr höflich zu.
»Das war ein tolles Essen«, sagte sie.
»Bemerkenswert«, erwiderte Aragon und faltete seine braunen Hände über der Reling. »Man muss Signor Bonarotti wirklich ein Kompliment machen. Was meinen Sie, dass er sonst noch in seiner Trickkiste hat?«
Aragon meinte damit eine alte Lebensmittelkiste aus Holz mit unzähligen kleinen Fächern, die der Koch wie seinen Augapfel hütete.
»Keine Ahnung«, antwortete Nora.
»Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie er das zu Stande gebracht hat.«
»Ab morgen gibt es dann bestimmt Salzfleisch und Schiffszwieback. Denken Sie an meine Worte.«
Die beiden lachten herzlich und unbekümmert, aber dann wandte Aragon den Blick wieder starr nach vom, hinaus auf den See und die wie Bollwerke aufragenden Felswände.
»Waren Sie schon einmal hier?«, fragte Nora.
Ein Ausdruck starken Gefühls glitt über Aragons düsteres Gesicht. »Das kann man wohl sagen«, erwiderte der Mexikaner, der sich rasch wieder in der Gewalt hatte.
»Es ist ein schöner See«, fuhr Nora fort, die nicht wusste, wie sie den A'Iann in ein Gespräch verwickeln sollte.
Aragon starrte weiterhin schweigend hinaus aufs Wasser. Nach einer Weile drehte er sich um und sagte: »Seien Sie mir nicht böse, aber da bin ich ganz anderer Meinung.«
Nora musterte ihn erstaunt.
»Anfang der Sechzigeijahre war ich Mitglied einer Expedition, die versuchte, in einer Notgrabung noch ein paar archäologische Stätten im Gien Canon zu dokumentieren, bevor sie für immer im Lake Powell versanken.«
Plötzlich verstand Nora, was Aragon bedrückte. »Gab es denn viele prähistorische Stätten hier?«
»Alles in allem konnten wir an die fünfunddreißig dokumentieren und zwölf teilweise ausgraben, bis das Wasser kam. Aber die Schätzungen gehen von etwa sechstausend Stätten aus. In dieser Zeit begann ich kritisch darüber nachzudenken, ob unsere Ausgrabungsmethoden wirklich zweckmäßig sind. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich ein Kiva ausgeschaufelt habe - ausgeschaufelt, können Sie sich das vorstellen? -, als das Wasser schon einen Meter unter mir stand. Ich weiß, dass man ein Heiligtum nicht so behandeln darf, aber was sollte ich anderes tun? Das Wasser hat uns dazu gezwungen. «
»Was ist denn ein Kiva?«, fragte Smithback und trat mit seinen knarzenden, nagelneuen Cowboystiefeln einen Schritt näher an die Reling heran. »Und wer sind bitteschön die Anasazi?«
»Ein Kiva ist ein kreisrundes, halb in die Erde gegrabenes Gebäude, in das man normalerweise durch ein Loch in der Decke gelangt«, erklärte Nora. »Den Anasazi diente es als Kult- und Versammlungsstätte. Die Anasazi wiederum waren Indianer, die vor tausend Jahren hier in dieser Gegend lebten. Sie haben Städte errichtet, aber um das Jahr 1150 herum verließen sie das Gebiet um den Chaco Canon und zogen sich in schwer zugängliche Klippensiedlungen zurück. Hundertfünfzigjahre später ist ihre Zivilisation dann ganz untergegangen.«
Inzwischen war auch Black zu der Gruppe gestoßen. »Waren es eigentlich bedeutende Stätten, die Sie damals im Gien Canon gefunden haben?«, fragte er Aragon, während er mit einem Zahnstocher in seinem Mund herumpuhlte.
Aragon sah ihn an. »Gibt es denn überhaupt unbedeutende archäologische Stätten?«
»Aber natürlich!«, schnaubte Black. »Manche Ruinen bergen nun mal mehr Informationen als andere. Ein paar ausgestoßene Anasazi, die zehn Jahre lang in irgendeiner Höhle ein Dutzend Zeichnungen in die Wände geritzt haben, hinterlassen nun mal weniger Informationen als tausend Einwohner eines Pueblos, das ein paar hundert Jahre lang bewohnt wurde.«
Aragon maß Black mit einem kühlen Blick. »Ich finde, dass eine einzige Keramik der Anasazi genügend Informationen enthält, um einen Forscher sein ganzes Berufsleben lang zu beschäftigen. Meiner Meinung nach gibt es keine unwichtigen Stätten, wohl aber uninspirierte Archäologen.«
Blacks Miene verfinsterte sich.
»Was für Stätten haben Sie denn damals im Gien Canon ausgegraben?«, fragte Nora rasch dazwischen.
Aragon deutete auf die Wasserfläche, die gerade an Steuerbord vorbeiglitt. »Da drüben liegt in einer Tiefe von einhundertzehn Metern der Musiktempel.«
»Der Musiktempel?«, wiederholte Sinithback.
»Das ist eine große Höhle in einer Felswand, wo der Wind und das Wasser des Colorado ganz eigentümliche, fast übernatürlich klingende Geräusche produzierten. John Wesley Powell hat ihn entdeckt und ihm seinen Namen gegeben. Wir haben den Boden des Musiktempels ausgegraben und eine seltene, archaische Stätte gefunden, zu der noch eine ganze Reihe kleinerer Stätten in der unmittelbaren Umgebung gehörten.« Er deutete in die andere Richtung. »Und da drüben war der so genannte Wishing Well, eine PuebloIII-Klippensiedlung mit acht Räumen, die um ein ungewöhnlich tiefes Kiva herum errichtet war; auch so eine kleine belanglose Stätte ohne jede Bedeutung.« Er warf Black einen pointierten Blick zu. »Dort hatten die Anasazi liebevoll zwei kleine Mädchen bestattet, die in gewebte Tücher eingehüllt und mit Halsketten aus Blumen und Meeresmuscheln geschmückt waren. Wir konnten die Grabstätten nicht mehr vor dem steigenden Wasser retten. Sie sind mitsamt ihrer wertvollen Artefakte für immer dahin.«
Black schniefte höhnisch und schüttelte in gespielter Ergriffenheit den Kopf. »Hat jemand vielleicht ein Taschentuch für mich?«
Der Kahn fuhr an der Grand Bench vorbei, und Nora konnte in weiter Feme die dunkle Masse des Kaiparowits-Plateaus erkennen. Durch den rosafarbenen Dunst des Sonnenuntergangs sah es wild, abweisend und unerreichbar aus. Die »Landlocked Laura« begann herumzuschwenken und Kurs auf eine schmale Durchfahrt zwischen zwei Sandsteinwänden zu nehmen. Es war der Eingang zum Serpentine Canon.
Zwischen den steilen Wänden hatte das Wasser des Sees eine dunkelgrüne Farbe und reflektierte den senkrecht abfallenden, glatten Fels so perfekt, dass es schwer war, zwischen Wirklichkeit und Spiegelbild zu unterscheiden. Der Kapitän hatte Nora erzählt, dass so gut wie niemand in den Canon einfuhr, weil es dort weder Stellen zum Campen noch Badestrände gab und die Wände zu steil für Bergsteiger waren.
Hoiroyd streckte sich und deutete auf sein Buch. »Ich habe gerade ein paar interessante Sachen über Quivira gelesen«, sagte er. »Hören Sie sich bloß das mal an:
Die Cicuye-Indianer zeigten dem General einen Sklaven, den sie in einem weit entfernten Land gefangen hatten. Der General ließ den Sklaven mit Hilfe von Dolmetschern befragen. Der Sklave erzählte ihm von einer fernen Stadt, die er Quivira nannte. Es sei eine heilige Stadt, erklärte er, in der die Regenpriester lebten, welche die Aufzeichnungen ihrer Geschichte seit dem Beginn der Zeit verwahrten. Er sagte, Quivira sei eine reiche Stadt. Einfaches Essbesteck sei aus reinem, glatt poliertem und verziertem Gold, ebenso wie Kannen, Teller und Schüsseln. Er fügte hinzu, dass die Bewohner von Quivira alle anderen Materialien verachteten.«
»Ach«, sagte Smithback und rieb sich in einer übertriebenen Geste die Hände. »Das gefällt mir: >Sie verachteten alle anderen Materialien< Gold! Was für ein hübsches Wort, finden Sie nicht auch?«
»Es gibt bisher keinen einzigen gesicherten Hinweis, dass die Anasazi Gold überhaupt kannten«, sagte Nora.
»Und was ist dann mit den goldenen Tellern, von denen unser Kollege uns soeben etwas vorgelesen hat?«, fragte Smithback. »Verzeihen Sie, Frau Chefin, aber das klingt für mich doch ziemlich präzise.«
»Dann machen Sie sich mal auf eine Enttäuschung gefasst«, erwiderte Nora. »Die Indianer haben Coronado nur das erzählt, was er hören wollte. Schließlich konnten sie damit erreichen, dass er weiterzog und sie in Ruhe ließ.«
»Aber hier steht noch mehr«, sagte Hoiroyd. »Der Sklave warnte den General davor, sich der Stadt zu nähern. Die Regen- und Sonnenpriester von Xochitl würden sie bewachen, erzählte er, und der Gott des Staubes all diejenigen vernichten, die ohne Erlaubnis die Stadt betreten wollten.«
»O nein!«, rief Smithback mit gespieltem Entsetzen aus. »Da bekommt man es ja mit der Angst zu tun.«
Nora zuckte mit den Achseln. »Das findet man in diesen alten Berichten häufiger. An manchen ist etwas Wahres dran, aber meistens wird maßlos übertrieben.«
Hicks' hagere Gestalt erschien in der Tür des Steuerhauses. »Auf dem Echolot sehe ich, dass das Wasser immer seichter wird. Noch ein, zwei Biegungen, dann haben wir das Ende des Canons erreicht.«
Nun kamen alle an die Bugreling und spähten gespannt in die langsam hereinbrechende Dämmerung. Hicks schaltete einen Scheinwerfer auf dem Dach des Steuerhauses ein und beleuchtete das Wasser vor dem Kahn, das inzwischen eine schokoladenbraune Färbung angenommen hatte. Halb unter der Oberfläche verborgene Baumäste glitten vorbei, und die Wände des Canons ragten direkt neben dem Boot über hundert Meter in die Höhe.
Sie fuhren um eine weitere scharfe Biegung. Als Nora sah, was sie auf der anderen Seite erwartete, setzte ihr Herzschlag einen Augenblick aus. Am Ende des Canons schwamm eine Vielzahl von verbrannten Baumstämmen und Asten, zwischen denen sich ein dichter Teppich aus verrottenden Fichtennadeln ausdehnte. Einige der Stämme, die immerhin einen Durchmesser von bis zu eineinhalb Metern hatten, sahen so aus, als wären sie von einer gewaltigen Kraft zerfetzt worden. Hinter dem Hindernis konnte Nora die Mündung eines kleinen Baches erkennen, dessen Wasser die im Abendlicht dunkelrot leuchtenden Felsen reflektierte.
Hicks stoppte die Schiffsschrauben und kam leise schnaufend aus dem Steuerhaus, um im Licht des Scheinwerfers einen Blick auf das Hindernis zu werfen.
»Wo kommen bloß all diese großen Bäume her?«, fragte Nora. »Mir ist seit unserer Abfahrt von Page kein einziger Baum am Ufer aufgefallen.«
»Das machen die Sturzfluten«, erklärte Hicks und kaute auf seiner erkalteten Maiskolbenpfeife herum. »Die spülen das ganze Zeug aus den Bergen herunter. Oft kommt es von hundert Kilometern oder noch weiter her und bleibt hier im See hängen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber so ein Durcheinander wie das hier habe ich noch nie gesehen.« »Können wir mit dem Kahn da durch?«, wollte Nora wissen.
»Nicht zu machen«, entgegnete Hicks. »Das würde uns glatt die Schrauben zerfetzen.«
Mist! »Wie tief ist das Wasser eigentlich?«
»Laut Echolot sind es zweieinhalb Meter, an manchen Stellen über drei.« Er sah Nora zweifelnd an. »Vielleicht sollten Sie besser umkehren«, murmelte er.
Nora blickte ihm in sein ruhiges Gesicht. »Und wieso, wenn ich fragen darf?«
Hicks zuckte mit den Achseln. »Es geht mich zwar nichts an, aber ich persönlich würde nicht für alles Geld der Welt da hinein in die Canons gehen.«
»Danke für den Rat«, sagte Nora. »Sie haben doch ein Rettungsfloß, oder?«
»Ja, ein aufblasbares. Aber da bringen Sie die Pferde nicht drauf.« Die anderen Expeditionsteilnehmer hatten die Unterhaltung mitgehört. Black verkündete, er habe von Anfang an gewusst, dass das mit den Pferden eine Schnapsidee sei.
»Wir lassen die Tiere ans Ufer schwimmen«, erklärte Nora. »Und dann bringen wir unsere Ausrüstung mit dem Rettungsfloß nach.«
»Moment mal, das ist nicht...«, begann Swire.
Nora wandte sich ihm zu. »Alles, was wir brauchen, ist ein Pferd, das gut schwimmen kann. Wenn wir das den Anfang machen lassen, werden die anderen ihm folgen. Ich wette, Sie haben einen guten Schwimmer unter Ihren Tieren, Roscoe.«
»Klar. Mestizo. Aber...«
»Gut. Dann schwimmen Sie mit ihm ans Ufer. Und wir treiben die anderen Pferde hinter Ihnen ins Wasser. Ich sehe viele Lücken zwischen den Baumstämmen, in denen genügend Platz zum Durchkommen ist.«
Swire starrte auf die Barriere vor dem Bug des Kahns, die ihm im gespenstischen Licht des Scheinwerfers wie ein undurchdringliches Chaos vorkam. »Diese Lücken sind ziemlich schmal«, sagte er. »Die Pferde könnten im Gestrüpp oder an einem unter Wasser verborgenen Ast hängen bleiben.«
»Haben Sie eine bessere Idee?«
Swire blickte wieder hinaus aufs Wasser. »Nein«, antwortete er. »Leider nicht.«
Hicks öffnete eine große Kiste an Deck und holte mit Holroyds Hilfe eine schwere, formlose Gummihaut heraus. Währenddessen brachte Swire ein Pferd aus einem der Anhänger heran und legte ihm einen Sattel auf den Rücken. Nora bemerkte, dass er dem Tier weder Zaumzeug noch Zügel anlegte. Aragon und Bonarotti begannen die Ausrüstungsgegenstände in die Nähe des Floßes zu tragen und für den Transport vorzubereiten. Nur Black stand tatenlos neben den Pferdeanhängem und betrachtete die Vorgänge mit skeptischer Miene. Swire reichte ihm eine Reitpeitsche.
»Was soll ich denn damit?«, fragte der Archäologe und hielt die Peitsche auf Armeslänge von sich weg.
»Während ich mit diesem Pferd ans Ufer schwimme«, erwiderte
Swire, »wird Nora die anderen aus den Hangern führen, und zwar eins nach dem anderen. Ihr Job ist es, sie hinter mir ins Wasser zu treiben.«
»Wirklich? Und wie soll ich das anstellen?«
»Mit der Peitsche.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sie klatschen ihnen einfach aufs Hinterteil. Aber ordentlich. Lassen Sie ihnen keine Zeit zum Nachdenken.«
»Aber das ist doch gefährlich! Die Pferde werden ausschlagen und mich verletzen.«
»Keines von meinen Tieren tut so etwas, aber für den Fall des Falles können Sie sich ja ducken. Und machen Sie ein Geräusch wie dieses...« Swire schmatzte unangenehm laut mit den Lippen.
»Vielleicht sollte er es besser mit einem Blumenstrauß und einer Schachtel Pralinen versuchen«, flachste Smithback.
»Ich verstehe überhaupt nichts von Pferden«, protestierte Black.
»Das ist mir schon klar«, entgegnete Swire. »Aber man muss schließlich nicht Stallbursche von Beruf sein, um einem Pferd ordentlich auf den Arsch zu hauen.«
»Tut das den Tieren denn nicht weh?«
»Ein bisschen schon. Aber wir haben leider nicht die ganze Nacht Zeit, um sie mit guten Worten zu überreden.«
Black starrte noch immer stirnrunzelnd auf die Peitsche. Nora fragte sich, was den Wissenschaftler wohl mehr wurmte: die Tatsache, dass er sich als Pferdetreiber betätigen sollte, oder dass es ein Cowboy war, der ihm den Befehl dazu erteilte.
Swire schwang sich in den Sattel. »Jagt sie nacheinander ins Wasser, aber lasst ihnen genügend Abstand, damit sie sich nicht ins Kreuz springen.«
Er drehte sich um und gab dem Pferd die Sporen. Das Tier gehorchte sofort und preschte in den See, wo es zunächst untertauchte, gleich darauf aber wieder an die Oberfläche kam.. Laut schnaubend reckte es den Kopf aus dem Wasser. Swire, der während des Sprungs geschickt aus dem Sattel gestiegen war, landete neben dem Pferd. Er hielt sich am Sattelhom fest und redete dem Tier mit leiser Stimme zu, bis es zu schwimmen begann.
Die anderen Pferde tänzelten unruhig in den Anhängern herum, schnaubten durch weit geblähte Nüstern und rollten ängstlich die Augen.
»Los geht's!«, sagte Nora und holte das nächste Pferd heran. Es kam bis an den Bug des Kahnes und wollte dann nicht mehr weiter. »Schlagen Sie zu!«, rief Nora und war erleichtert, als Black entschlossen auf das Tier zutrat und ihm mit der Peitsche einen klatschenden Hieb quer über den Hintern verpasste. Das Pferd zögerte einen Augenblick, dann sprang es ins Wasser, wo es mit einem lauten Platschen landete und sofort hinter Swires Pferd herzuschwimmen begann.
Smithback beobachtete die Vorgänge amüsiert. »Gut gemacht!«, rief er dem Geochromologen zu. »Und sagen Sie bloß nicht, dass Sie noch nie eine Peitsche in der Hand gehabt haben, Aaron. Ich bin mir fast sicher, dass ich Sie schon mal in einer Lederschwulen-Bar im West Village gesehen habe.«
»Smithback, helfen Sie Holroyd mit dem Floß«, fauchte Nora.
»Aye, aye, Frau Chefin!«
Sie brachten die restlichen Pferde dazu, nacheinander ins Wasser zu springen und mit dem Maul am Schweif des Vordertiers auf einem verschlungenen Kurs durch das Gewirr von Hindernissen ans Ufer zu schwimmen. Nora klappte die Türen der Anhänger zu und sah, wie Swire im Licht des Scheinwerfers patschnass und erschöpft an Land stieg. Nachdem er sein Pferd aus dem Wasser gebracht hatte, watete er wieder hinaus und trieb mit lauten Rufen auch die anderen Tiere aus dem See. Bald hatte er sie zu einer unglücklich dreinblickenden kleinen Herde zusammengetrieben, die er weiter in den Canon hineinführte, um die Landungsstelle frei zu machen.
Nora sah ihnen noch einen Moment hinterher, bevor sie sich an Black wandte. »Das war gute Arbeit, Aaron.«
Der Geochronologe wirkte sichtlich geschmeichelt.
»Dann wollen wir mal unsere Ausrüstung an Land bringen«, sagte sie zum Rest der Gruppe. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Kapitän Hicks.
Wir werden das Floß sorgfältig verstecken, damit es noch da ist, wenn Sie uns in ein paar Wochen wieder abholen kommen. Machen Sie's gut.«
»Machen Sie's besser«, erwiderte Hicks trocken und verschwand wieder in seinem Steuerhaus.
Gegen elf Uhr nachts unternahm Nora in der tiefen Stille der Wüstennacht einen letzten Rundgang durch das schlafende Lager, bevor sie sich in ihre Bettrolle zurückzog, die sie ein paar Meter von den anderen entfernt ausgelegt hatte. Sorgfältig schob sie noch einmal den Sand unter ihren Hüften und Schultern zurecht. Um am nächsten Morgen die hektischen Änderungen in letzter Minute zu vermeiden, die normalerweise zum Aufbruch einer jeden Expedition gehörten, hatte sie darauf bestanden, dass noch vor dem Schlafengehen die gesamte Ausrüstung in die Transportkörbe verpackt wurde, die man dann nur noch auf den Pferden festschnallen musste. Die Tiere fraßen in einiger Entfernung mit zusammengebundenen Vorderbeinen den Rest der mitgebrachten Luzernen. Die anderen Expeditionsmitglieder lagen in Zelten oder Schlafsäcken rings um das heruntergebrannte Feuer. Längst hatte sich die »Landlocked Laura« auf den Rückweg zu ihrem Hafen gemacht, und die Expedition war auf sich allein gestellt.
Nora schlüpfte zufrieden tiefer in ihre Bettrolle hinein. Bisher war alles gut gelaufen. Black war zwar eine Nervensäge, aber seine Qualifikation als Wissenschaftler machte diese Schwäche mehr als wett. Smithback hatte eine große Klappe, doch mit seinen kräftigen Armen und Schultern würde er sich gut als Schaufler einsetzen lassen, ob er nun wollte oder nicht. Bevor er in sein Zelt gekrochen war, hatte er Nora noch ein Exemplar seines neuen Buches aufgedrängt, das sie, ohne es eines Blickes zu würdigen, in ihren Seesack geworfen hatte.
Ihre Entscheidung, Peter Holroyd mit auf die Expedition zu nehmen, hatte sich als echter Glücksgriff erwiesen. Allerdings hatte sie auf der Fahrt über den See ein paar Mal bemerkt, wie er sie mit verstohlenen Blicken gemustert hatte. Sie fragte sich ob sich Holroyd wohl ein wenig in sie verliebt hatte, und warf sich vor, dass sie ihm unbeabsichtigt vielleicht sogar Hoffnungen gemacht hatte. Möglicherweise hatte er nur aus diesem Grund die Daten aus dem JPL gestohlen. Nora verspürte einen Anflug von Schuldgefühl, aber dann sagte sie sich, dass sie immerhin ihr Versprechen ihm gegenüber gehalten und ihn mit ins Expeditionsteam gebracht hatte. Der arme Junge verwechselt wohl Dankbarkeit mit Liebe, dachte sie und wandte sich in Gedanken der übrigen Truppe zu. Bonarotti schien in die Kategorie Leute zu fallen, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließen; zudem war er ein fantastischer Expeditionskoch. Und Aragon würde wohl etwas zugänglicher werden, wenn sie erst einmal den verhassten Lake Powell hinter sich gelassen hätten.
Nora reckte sich wohlig in ihrer Bettrolle. Mit der Zeit würde die Gruppe schon zusammenwachsen. Besonders freute es sie, dass sie sich nun nicht mit Sloane Goddard würde auseinandersetzen müssen. Black, Aragon und sie selbst verfügten über mehr als genug archäologischen Sachverstand, um mit allen wissenschaftlichen Herausforderungen der Expedition fertig zu werden, und Emest Goddard konnte niemand anderen für das Fehlen seiner Tochter verantwortlich machen als diese selbst.
Das Licht der Sterne tauchte die Sandsteinwände ringsum in ein fahles Dämmerdunkel. Die Luft hatte sich empfindlich abgekühlt, wie für eine Wüstennacht üblich. Nora hörte ein leises Murmeln und roch den Rauch von Bonarottis Zigarette, der langsam über den Lagerplatz trieb. In der Stille nahm sie die leisen Rufe der Zaunkönige wahr, die wie das Klingeln kleiner Glöckchen von den Felswänden zurückgeworfen wurden und sich mit dem leisen Plätschern des direkt unterhalb des Lagers gelegenen Sees vermischten. Bereits jetzt waren sie unzählige Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt, und mit jedem Schritt, den sie in Richtung auf ihr verborgenes Ziel machten, ließen sie die Zivilisation noch weiter hinter sich zurück.
Bei dem Gedanken an Quivira verspürte Nora abermals die Last der Verantwortung. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Expedition ein Fehlschlag werden könnte, war hoch. Beängstigend hoch sogar. Es war durchaus möglich, dass sie die Stadt nicht fanden oder dass die Expedition schon zuvor wegen persönlicher Differenzen unter den Teilnehmern auseinander brach. Am schlimmsten aber wäre es, wenn sich das Quivira ihres Vaters als unbedeutende, aus fünf Häusern bestehende Klippensiedlung herausstellen würde. Diese Vorstellung beunruhigte Nora am meisten. Goddard mochte ihr vielleicht vergeben, dass sie nicht auf seine Tochter gewartet hatte, aber trotz all seiner großen Worte würden er und das Institut es nie verwinden, wenn das Ergebnis ihrer Expedition lediglich ein Ausgrabungsbericht über eine stinknormale Felssiedlung der Pueblo-III-Periode war. Und Gott allein wusste, was für einen ätzenden Artikel Smithback schreiben würde, wenn er das Gefühl bekäme, er habe auf der Expedition lediglich seine wertvolle Zeit verschwendet.
In der Feme hörte Nora einen Kojoten heulen und musste wieder an die nächtlichen Vorfälle in dem verlassenen Ranchhaus denken. Soweit es in ihrer Macht stand, hatte sie dafür gesorgt, dass niemand außer ihr die Karten und Radarbilder zu Gesicht bekam, und darüber hinaus alle Beteiligten unter Hinweis auf mögliche Schatzräuber und Grabplünderer zu äußerster Geheimhaltung vergattert.
Doch dann hatte Smithback sich am Hafen von Wahweap aufgeführt wie ein Elefant im Porzellanladen...
Trotz Noras Ärger über dieses Verhalten erschien es ihr allerdings ziemlich unwahrscheinlich dass die unbedachten Äußerungen des Journalisten auf irgendwelchen Umwegen nach Santa Fe gelangen würden. Außerdem hatte Smithback zwar ihren Namen genannt, aber keine Details über die Expedition preisgegeben. Bestimmt hatten die bizarren Gestalten, die sie angegriffen hatten, inzwischen längst aufgegeben. Wer ihr auf dieser Expedition folgen wollte, musste schon ein zum Äußersten entschlossener, um nicht zu sagen todesmutiger Mensch sein. Außerdem musste er die Wüste besser kennen als selbst ein Mann vom Schlage Roscoe Swires. Und wenn ein Boot auf dem See hinter ihnen hergefahren wäre, dann hätten sie es sehen müssen. Mit diesen Gedanken begannen Noras Angst und Ärger langsam nachzulassen und Platz für den so dringend benötigten Schlaf zu machen. Bald träumte sie von staubigen Ruinen und Bündeln von Sonnenstrahlen, die durch das Dunkel einer uralten Höhle drangen und auf die blumengeschmückten Leichen von zwei Indianerkindern fielen.