45
Schweigend folgte Aaron Black Sloane zur Strickleiter. In einem Gespräch in der vergangenen Nacht hatte er sie gefragt, ob sie sich denn in letzter Minute weigern würde, das Tal zu verlassen, aber sie hatte darauf nur ungehalten reagiert. Obwohl er es ihr gegenüber nicht zugegeben hätte, war Black sich nicht mehr so sicher, dass er in Quivira bleiben wollte. Er hatte Angst vor dem, was die Pferde abgeschlachtet, Holroyd getötet und seine Leiche verstümmelt hatte.
Am Fuß der Leiter angekommen, begann Sloane sofort die Sprossen hinaufzuklettern Black war etwas irritiert, weil sie nicht einmal so lange gewartet hatte, bis er sich seinen Klettergurt angelegt hatte. Er stieg in das Geschirr, zog es am Bauch und im Schritt fest und folgte Sloane, nachdem er sich vom sicheren Halt der Strickleiter überzeugt hatte, nach oben. Black hasste diese Kletterei. Trotz des Sicherungsgurts machte es ihm Angst, zweihundert Meter über dem Erdboden in einer Steilklippe zu hängen und sein Leben ein paar dünnen Nylonseilen anzuvertrauen.
Erst als er sich die Leiter Sprosse um Sprosse ein Stück weiter nach oben gequält hatte, ließ seine Furcht nach. Eine Stelle aus einem Buch fing an, ihm im Kopf herumzugehen, eine Stelle, die er schon so oft gelesen hatte, dass er sie längst auswendig konnte. Seit der Entdeckung des Sonnen-Kivas hatte er unzählige Male an sie gedacht, und auch jetzt sprach er sie mehrere Male hintereinander vor sich hin, zuerst tonlos, dann mit leiser Stimme. »Anfangs konnte ich nichts sehen, da die aus der Kammer entweichende heiße Luft das Licht der Kerze zum Flackern brachte. Als meine Augen sich jedoch an das Licht gewöhnten, tauchten bald Einzelheiten in der Kammer aus dem Nebel auf, seltsame Tiere, Statuen und Gold - überall glänzendes, schimmerndes Gold.«
»Überall glänzendes, schimmerndes Gold.« Dieser Schlusssatz war es, den Black wie ein Mantra immer wieder vor sich hinsagte.
Black dachte zurück an seine Kindheit, als er diesen Satz zum ersten Mal gelesen hatte. Er war zwölf Jahr alt gewesen und hatte Howard Carters Bericht von der Entdeckung der Grabkammer Tutanchamuns in die Hand bekommen. Noch heute erinnerte er sich an diesen Augenblick ebenso gut wie an den Bericht selbst - es war der Moment gewesen, in dem er beschlossen hatte, Archäologe zu werden. Natürlich war ihm im Laufe seines Studiums rasch klar geworden, dass er wohl nie etwas Vergleichbares entdecken würde. So lernte er, seine berufliche Befriedigung aus der Untersuchung von Abfallhaufen zu ziehen. Dennoch hatte er nie einen Grund gehabt, sich über seine Karriere zu beschweren.
Bis jetzt. Jetzt kam ihm dieser Dreck nur noch wie ein völlig unzureichender Ersatz für das Gold vor, das er hier in Quivira zu finden hoffte. Während er Sprosse um Sprosse weiter nach oben stieg und ab und zu sein Sicherungsseil neu einhängte, ging Black das viele Gold durch den Kopf, das Cortez hatte schmelzen, in Barren gießen und nach Spanien verschiffen lassen. Er dachte an all die wundervollen Kunstwerke, die auf diese Weise der Welt für immer verloren gegangen waren. Vielleicht würden sie in dem Sonnen-Kiva ja Schätze finden, die noch nie das Auge eines Europäers erblickt hatten.
Das Feuer, das Black als Zwölfjähriger beim Lesen von Carters Bericht verspürt hatte, brannte auf einmal wieder in ihm und brachte ihn in einen nur schwer lösbaren inneren Konflikt. Einerseits lauerte hier in diesem Tal eine tödliche Gefahr, andererseits konnte er sich einfach nicht vorstellen, es zu verlassen, ohne wenigstens einen Blick ins Innere des Sonnen-Kivas geworfen zu haben.
»Sloane, sag mir eines«, rief er nach oben. »Willst du wirklich von hier abhauen, ohne in das Kiva geschaut zu haben?«
Sloane gab keine Antwort.
Schwitzend und stöhnend kämpfte sich Black weiter die Strickleiter hinauf. Über sich sah er, wie Sloane den Felsüberhang kurz vor dem Canon-Rand erklomm. Dort oben war das Gestein noch feucht vom nächtlichen Regen und hatte die Farbe dunklen Blutes.
»Bitte, Sloane, so sag doch was«, keuchte Black.
»Da gibt es nichts zu sagen«, lautete die knappe Antwort.
Black schüttelte den Kopf. »Wie konnte dein Vater bloß den Fehler machen, Nora Kelly die Leitung der Expedition zu übertragen? Wenn du an ihrer Stelle wärst, würden wir jetzt in die Geschichte eingehen.«
Ohne ein Wort verschwand Sloane hinter dem Überhang. Black folgte ihr, und zwei Minuten später erreichte er den oberen Rand des Canons, wo er sich erschöpft, wütend und zutiefst entmutigt in den Sand sinken ließ. Die Luft hier oben war viel kühler als unten im Tal. Eine steife Brise bewegte die Zweige der spärlichen Krüppelkiefern und Wacholderbüsche, die hier und da auf den Felsen wuchsen. Black setzte sich auf und streifte den einengenden Klettergurt ab. »Der weite Weg hierher«, sagte er, »und die ganze Plackerei waren umsonst, wenn wir uns jetzt in letzter Minute um die Früchte unserer Arbeit bringen lassen.«
Sloane gab noch immer keine Antwort. Black spürte, dass sie bewegungslos neben ihm stand. »Überall das Glitzern von Gold...«, murmelte er. Nach einer Weile fragte er sich, weshalb Sloane sich nicht bewegte. Mit einem leisen Fluch stand er auf.
Sloane starrte mit halb geöffnetem Mund in den Himmel. Ihr Gesicht war so blass geworden, dass ihre bernsteinfarbenen Augen plötzlich einen dunkleren, an Mahagoni erinnernden Farbton angenommen zu haben schienen. Verblüfft über Sloanes plötzliche Verwandlung, brauchte Black eine ganze Weile, bis er sich umdrehte und ihrem Blick folgte.
Am Himmel über dem Kaiparowits-Plateau stand eine riesige Gewitterfront, die Blacks Auffassung nach mehr einem Atompilz glich als einem Sturm. Ihr unterer, direkt über der Hochfläche liegender Teil war mindestens fünfzig Kilometer breit und ballte sich in einem riesigen Wolkenschirm gute zwölf Kilometer hinauf bis an die Grenze von Troposphäre und Stratosphäre. Dieses brodelnde, ambossförmige Gebilde wies nach Blacks Schätzung einen Durchmesser von mindestens achtzig Kilometern auf.
Aus der Unterseite der Gewitterfront ging heftiger Regen nieder, der wie ein dichter, stahlfarbener Wasservorhang die Sicht auf den hinteren Teil des Kaiparowits-Plateaus versperrte. Innerhalb der Gewitterfront zuckten weitverästelte Blitze umher, wobei der Donner wegen der großen Entfernung kaum zu hören war. Beängstigt und fasziniert zugleich sah Black zu, wie die düster drängenden Wolken sich mit rascher Geschwindigkeit ausbreiteten und ihre schmutziggrauen Fangarme immer weiter in den blauen Himmel hineinschoben.
Während Black von dem gewaltigen Anblick wie gelähmt war, ging Sloane mit traumwandlerisch langsamen Schritten hinüber zu dem verkrüppelten Baum, in dessen Geäst Holroyd den Empfänger für den Wetterbericht befestigt hatte. Nachdem sie das Gerät eingeschaltet hatte, war aus dem Lautsprecher zunächst ein lautes Rauschen zu vernehmen. Dann hatte der Empfänger die richtige Wellenlänge gefunden, und die monotone, nasale Stimme des Meteorologen in Page, Arizona, las eine lange Litanei von Temperatur- und Luftdruckwerten vor. Schließlich hörte Black klar und deutlich die Vorhersage für den Tag: »Blauer Himmel und sommerlich warme Temperaturen. Die Niederschlagswahrscheinlichkeit liegt bei weniger als fünf Prozent.«
Blacks Augen wanderten von der Gewitterfront hinauf in den Himmel direkt darüber, der strahlend blau und wolkenlos war. Dann senkte er den Blick in das stille, friedliche Tal von Quivira, wo das Lager im hellen Schein der Morgensonne lag. Der Gegensatz war so extrem, dass er ihn einen Augenblick lang gar nicht richtig begreifen konnte.
Er sah hinüber zu Sloane. Sie hatte die Zähne halb entblößt, was ihrem Gesicht einen wilden, fast raubtierhaften Ausdruck verlieh. Die ganze Frau kam ihm vor, als sei sie von einer soeben erfahrenen Offenbarung durchdrungen. Black verschlug es fast den Atem, als sie mit versteinerter Miene den Wetterberichtempfänger ausschaltete.
»Was sollen wir...«, begann Black, aber der Ausdruck auf Sloanes Gesicht ließ ihn verstummen.
»Du hast doch gehört, was Nora gesagt hat. Wir bauen den Empfänger ab und steigen hinunter ins Lager.« Sloanes Stimme klang energisch, geschäftsmäßig und neutral zugleich. Die junge Frau kletterte in den verkrüppelten Wacholderbaum und band rasch Empfänger und Antenne los. Nachdem sie beides in einem Netz verpackt hatte, blickte sie Black herausfordernd an. »Na los, worauf wartest du?«, fragte sie.
Ohne ein weiteres Wort nahm sie das Netz über ihre Schulter und ging zur Strickleiter. Einen Moment später war sie aus Blacks Blickfeld verschwunden.
Verwirrt legte Black seinen Klettergurt wieder an und machte sich ebenfalls an den Abstieg.
Zehn Minuten später kam er am unteren Ende der Strickleiter an, aber er war so sehr in Gedanken versunken, dass er es erst bemerkte, als sein linker Fuß den feuchten Sand berührte. Unentschlossen blieb er stehen und blickte hinauf zum Himmel, der von einem Rand des Canons zum anderen strahlend blau war. Von der Sintflut, die in vierzig Kilometern Entfernung über der Wasserscheide des Kaiparowits-Plateaus niederging, war hier nicht das Geringste zu ahnen. Black streifte den Klettergurt ab und ging mit steifen, hölzern wirkenden Schritten auf das Lager zu. Obwohl sie das schwere Netz auf ihrem Rücken getragen hatte, war Sloane schnell wie eine Spinne die Wand hinabgeklettert und hatte bei Blacks Eintreffen im Lager, den Sender bereits neben den Säcken mit den anderen Ausrüstungsgegenständen abgestellt.
Noras ungeduldige Stimme riss Black aus seinen Gedanken. »Nun, was sagt der Wetterbericht?«, hörte er sie Sloane fragen.
Sloane zögerte.
»Die Zeit drängt, Sloane. Würden Sie mir jetzt bitte mitteilen, wie der Wetterbericht lautet.« Die Gereiztheit in Noras Stimme war unüberhörbar.
»Blauer Himmel und sommerlich warme Temperaturen für den Rest des Tages«, erwiderte Sloane monoton. »Die Niederschlagswahrscheinlichkeit liegt bei weniger als fünf Prozent.«
Argwohn und Besorgnis verschwanden aus Noras angespanntem Gesicht und machten einem Ausdruck der Erleichterung Platz. »Gott sei Dank«, sagte sie. »Vielen Dank Ihnen beiden. Ich möchte jetzt, dass Sie alle zusammen die letzten Säcke an ihren Lagerplatz in der Stadt schaffen. Wenn das erledigt ist, soll Aaron den Zugang zur Höhle mit dem Sonnen-Kiva wieder verschließen. Es wäre gut, wenn Sie ihn begleiten würden, Roscoe. Passen Sie gut aufeinander auf. Bill, Enrique und ich kümmern uns inzwischen um Peters Leiche und bringen ein paar Sachen durch den Slot-Canon. In eineinhalb Stunden sind wir wieder hier.«
Ein seltsames, ihm bisher vollkommen fremdes Gefühl kroch Black die Wirbelsäule hinauf. Als wäre er nicht wirklich da, trat er neben Sloane und beobachtete, wie Nora Smithback und Aragon zu sich herwinkte. Nachdem jeder der drei einen der wasserdichten Säcke geschultert hatte, zogen sie los in Richtung Eingang des Slot-Cafions.
Black schaute ihnen einen Augenblick nach dann wandte er sich Sloane zu. »Was machst du da?«, flüsterte er mit unsicherer Stimme.
Sloane sah ihn an. »Was ich mache? Ich mache gar nichts, Aaron.«
»Aber wir haben da oben doch...«, begann Black und verstummte.
»Wir haben da oben den Wetterbericht gehört«, zischte Sloane und trat ganz dicht an ihn heran. »Und den haben wir Nora übermittelt, und zwar genau so, wie sie es uns aufgetragen hat. Wenn du da oben irgendetwas anderes gesehen hast, dann sag es jetzt. Wenn nicht, halt gefälligst den Mund.«
Sloanes Lippen waren ganz weiß. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie beobachtete, wie Nora und die beiden Männer den Fluss durchquerten, den kleinen Geröllhang hinaufkletterten und schließlich im dunklen Spalt des Slot-Canons verschwanden. Dann nickte sie Black langsam und bedeutungsvoll zu.