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Als sie aus dem Dämmerdunkel des Slot-Canons ins Licht des jenseitigen Tales traten, wusste Nora sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Pferde, die sich sonst immer locker über die spärliche Weide verteilt hatten, standen eng aneinander gedrängt am Fluss und warfen die Köpfe zurück. Nora ließ ihren Blick rasch über das Tal, die Wände des Canons und das Devil's Backbone schweifen, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.
Swire steckte den Revolver in seinen Gürtel und ging voran zu den Pferden. »Sie reiten Compafiero«, sagte er zu Smithback, während er einen Sattel vom Boden aufnahm und ihn einem der Pferde auf den Rücken legte. »Er ist zu dumm, um Angst zu kriegen.«
Nachdem Nora Arbuckles gesattelt hatte, hielt sie die beiden Tiere fest, während Swire ihnen die Hufeisen abnahm. Schweigend fuhr er mit einer Nietklinge unter die umgebogene Spitze des Nagels und achtete peinlich darauf, dabei nicht das Nagelloch zu beschädigen. Als alle Nägel gerade waren, hebelte er das Eisen vom Huf. Nora war beeindruckt von Swires Geschick, denn sie wusste, dass das Abnehmen und Anbringen von Hufeisen ohne die entsprechende Zange weder üblich noch einfach war.
Als Swire seine Arbeit beendet hatte, gab er Nora die acht Hufeisen zusammen mit neuen Nägeln, einem Hammer und einer Krokodilzange zum Umbiegen der Hufnägel. »Sind Sie sicher, dass Sie damit umgehen können?«, fragte er. Nora nickte, und der Cowboy signalisierte Smithback, dass er jetzt aufsitzen könne.
»In der Nacht hat es hier starken Wind gegeben«, sagte Swire, während er den Sattelgurt noch einmal nachzog und Smithback die Zügel reichte. »Vermutlich hat er hier im Tal die Spuren im Sand verweht, aber möglicherweise haben Sie ja auf der anderen Seite des Bergrückens mehr Glück.«
Bevor Nora aufstieg, überprüfte sie den festen Sitz ihres Sattels. »Smithback braucht eine Waffe«, sagte sie.
Swire zögerte einen Augenblick, dann reichte er dem Journalisten seinen Revolver und eine Hand voll Patronen.
»Ich hätte lieber das Gewehr«, bat Smithback.
Swire schüttelte den Kopf. »Wenn jemand über diesen Bergrücken kommt, dann möchte ich ihn gut ins Visier nehmen können«, entgegnete er.
»Aber passen Sie bloß auf, dass nicht wir es sind«, bemerkte Smithback beim Aufsitzen.
Nora wandte sich an Swire. »Danke für die Pferde«, sagte sie und setzte Arbuckles in Bewegung.
»Augenblick noch«, rief Swire. Nora drehte sich zu ihm um.
»Viel Glück«, brummte der Cowboy nach kurzem Zögern.
Nora und Smithback verließen den Fluss und ritten quer über das unebene Land auf den in tiefem Schatten liegenden Bergrücken zu. Durch das Plätschern des Flusses und die Rufe der Zaunkönige hörte Nora ein leises, gleichmäßiges Geräusch, das sie an das Brummen eines starken Elektromagneten erinnerte. Als sie den Kamm eines niedrigen Hügels erreichten, entdeckte Nora den Ursprung davon: Es waren die Kadaver von Hoosegow und Crow Bait, um die herum riesige Schwärme von Fliegen surrten.
»Großer Gott«, murmelte Smithback.
Arbuckles fing an, leise zu wiehern und unruhig auf den Vorderhufen zu tänzeln. Nora lenkte ihn nach links und ritt in weitem Bogen auf der dem Wind zugewandten Seite um die toten Pferde herum. Aus sicherer Entfernung warf sie einen Blick auf die herausgerissenen Eingeweide, die wie graublaue, von unzähligen Fliegen überkrabbelte Spiralen in der Sonne dampften. Als sie auf der anderen Seite des Hügels und damit außer Sichtweite der Kadaver waren, hielt sie Arbuckles an.
»Was ist los?«, fragte Smithback.
»Ich möchte mir das doch noch einmal genauer ansehen.«
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich hier bleibe?«, fragte Smithback mit gepresster Stimme.
Nora stieg ab, gab Smithback die Zügel ihres Pferdes und ging zurück zum Ort des Massakers. Von ihrer Ankunft aufgescheucht, erhoben sich die Fliegen in einer dichten, wütend brummenden Wolke. Obwohl der Wind den Sand rings um die Stelle verweht hatte, konnte Nora hier einige alte Hufabdrücke sowie frische Pfotenspuren von Kojoten erkennen. Bis auf die Abdrücke von Swires Stiefeln waren jedoch keinerlei menschliche Fußspuren zu finden. Wie Swire gesagt hatte, waren den Tieren die Eingeweide aus dem Leib gerissen und in linksdrehenden Spiralen angeordnet worden. In den Augenhöhlen der Pferdeschädel steckten leuchtend bunte Arafedern, die Nora in dieser kargen Landschaft entsetzlich fehl am Platz erschienen, und aus den aufgeschlitzten Leibern der Pferde ragten bemalte, mit Federn geschmückte Zweige.
Als Nora sich zum Gehen wenden wollte, fiel ihr auf, dass die Schlächter den beiden Tieren je ein rundes Stück aus dem Fell herausgeschnitten hatten. Nora besah sich daraufhin die Kadaver noch einmal genauer. Sie stellte fest, dass den Pferden auch an Brust und Unterleib ähnliche Fellstücke fehlten. Warum haben sie das nur gemacht?, fragte sich Nora. Und wieso an diesen Stellen? Was könnte das für eine Bewandtnis haben?
Sie schüttelte den Kopf und entfernte sich nachdenklich vom Schauplatz des Gemetzels.
»Wer kann das bloß getan haben?«, fragte Smithback, als sie wieder im Sattel saß.
Ja, wer? Genau dieselbe Frage hatte sich Nora während der vergangenen Stunde immer wieder gestellt, aber die Antwort, die ihr darauf am wahrscheinlichsten erschien, war gleichzeitig auch diejenige, welche sie am meisten erschreckte.
Zwanzig Minuten später hatten sie den Fuß des Bergrückens erreicht, und nach weiteren zwanzig Minuten standen sie am Ende des Pfades oben auf dem Grat. Hier hielt Nora an, stieg von ihrem Pferd und sah sich um. So weit ihr Auge reichte, breitete sich wild zerklüftetes Canon-Land vor ihr aus. Im Norden sah sie im blauen Dunst den weit entfernten Buckel von Bamey Top, während sich im Nordosten das dunkle Massiv des Kaiparowits-Plateaus erhob. Direkt vor ihr lagen die schmalen, gefährlichen Serpentinen des auf der steilen Seite des Bergrückens nach unten führenden Pfades. Irgendwo unten in der Tiefe mussten Fiddelhead, Hurricane Deck und Beetlebum liegen.
»Sagen Sie mir bitte, dass wir da nicht hinuntermüssen«, bat Smithback.
Nora gab keine Antwort. Sorgfältig suchte sie den Boden des Bergkamms ab, konnte aber keine Hufspuren finden. Vermutlich hatte der hier oben ständig wehende Wind sie längst verwischt.
Auch auf dem Weg, den sie soeben zurückgelegt hatten, hatte nichts auf die Anwesenheit von Reitern hingewiesen. Nora fragte sich, wie die mysteriösen Pferdemörder es nur geschafft hatten, so wenige Spuren zu hinterlassen.
Nora dachte an den bevorstehenden Abstieg. Die grauenvolle Erinnerung daran, wie sie sich, mit den Beinen in der Luft zappelnd, mit letzter Kraft am Rand der Klippe festgekrallt hatte, ließ sie einen Augenblick erschauern. Sie rieb sich die Fingerspitzen, die jetzt nicht mehr bandagiert waren, ihr aber immer noch etwas wehtaten. »Ich gehe erst einmal zu Fuß nach Spuren suchen«, sagte Nora zu Smithback. »Warten Sie so lange hier.«
»Ich tue alles, was Sie wollen«, entgegnete Smithback. »Nur hetzen Sie mich nicht diesen Pfad hinab. Ich kann mir kaum eine üblere Weise vorstellen, um einen Berg hinunter zukommen. Außer einen Absturz natürlich. Aber der wäre wenigstens etwas schneller.«
Nora begann vorsichtig den Weg hinabzusteigen. Der erste Teil wies keinerlei Spuren von Reitern auf, was allerdings zu erwarten gewesen war, da er aus reinem Fels bestand. Dann aber kam Nora an eine Stelle, an der loses Geröll den Pfad bedeckte, und hier zeichnete sich auf einem kleinen, sandigen Fleck ganz deutlich ein frischer Hufabdruck ab. Er stammte von einem unbeschlagenen Pferd.
»Heißt das, dass es jetzt wirklich ernst wird?«, fragte Smithback wenig begeistert, als Nora ihm von ihrer Entdeckung berichtete.
»Ja«, antwortete Nora. »Swire hat keine Halluzinationen gehabt. Hier oben war wirklich ein Reiter.«
Sie atmete ein paar Mal tief durch, bevor sie Arbuckles am Zügel nahm und abermals begann, behutsam nach unten zu steigen. Am Anfang des Pfades scheute das Pferd, ließ sich dann aber von Noras entschlossenen Worten wieder in Bewegung setzen. Smithback folgte ihr .mit Companero. Während ihr von hinten das Schnauben der Pferde und das gedämpfte Geräusch von unbeschlagenen Hufen auf hartem Fels an die Ohren drang, wandte Nora nicht eine Sekunde lang den Blick von dem steilen Pfad. Dabei bemühte sie sich, regelmäßig und ruhig zu atmen, denn die kleinste Unsicherheit, der winzigste Fehltritt hätte hier unweigerlich zu einem Sturz hinab in die gähnende Tiefe geführt. Nur einmal gestattete sie sich einen Blick auf das ausgetrocknete Tal, dessen mit verkrüppelten Wacholderbüschen bewachsene Felsformationen aus der Höhe wie eine Hand voll schwarz gepunkteter Kieselsteine wirkten. Während sie vorsichtig weiterging, überlegte Nora bereits, wie sie ihr Pferd am besten über die schwierigsten Stellen des Steigs bringen könnte.
Kurz vor der zweiten Kehre hörte sie, wie Arbuckles' Hufe ausrutschten, und ließ in Panik die Zügel los, aber mit ein paar raschen, trappelnden Schritten fing sich das Pferd wieder und blieb zitternd stehen. Es war ganz offensichtlich, dass es mit den bloßen Hufen einen sehr viel besseren Halt auf dem Fels hatte als mit den Hufeisen. Als Nora sich bückte, um die Zügel wieder aufzunehmen, flogen zwei Krähen, die sich vom Aufwind nach oben tragen ließen, direkt an ihr vorüber. Sie waren so nahe, dass Nora die kleinen, schwarzen Knopfaugen der aufgebracht krächzenden Vögel erkennen konnte.
Nach zwanzig weiteren bangen Minuten hatte sie das untere Ende des Pfades erreicht. Ein Blick über die Schulter sagte ihr, dass Smithback ebenfalls gerade die letzten Meter hinter sich brachte. Sie war darüber so erleichtert, dass sie den Journalisten am liebsten umarmt hätte.
Dann drehte der Wind, und ein entsetzlicher Gestank stieg ihr in die Nase. Er kam von den drei toten Pferden, die etwa fünfzig Meter von ihr entfernt auf ein paar scharfkantigen Felsen lagen. Wer auch immer den Bergrücken hinaufgeritten war, musste an den toten Tieren vorbeigekommen sein und sie gesehen haben.
Nora gab Smithback Arbuckles' Zügel in die Hand und ging, geplagt von Schuldgefühlen, hinüber zu den verwesenden Kadavern. Die Pferde, die weit voneinander entfernt lagen, boten ein grausiges Bild: Der Bauch war ihnen aufgeplatzt, die Eingeweide herausgequollen. An einer sandigen Stelle zwischen den Felsblöcken fand Nora schließlich das, wonach sie gesucht hatte: die Abdrücke von nicht beschlagenen Pferdehufen. Zu ihrem Erstaunen sah sie, dass die Spuren nicht von Süden kamen, sondern aus dem Norden, wo in einer Entfernung von vielen Tagesritten das kleine Indianerdorf Nankoweap lag. Der oder die mysteriösen Reiter waren also offenbar nicht der Expedition gefolgt.
»Die Spur führt nach Norden«, sagte Nora, als sie wieder bei Smithback war.
»Ich bin beeindruckt«, erwiderte der Journalist. »Was können Sie eigentlich sonst noch diesen Spuren entnehmen? Stammen sie von einem Hengst oder einer Stute? Von einem Pinto oder einem Palomino?«
Nora holte die Hufeisen aus den Satteltaschen und kniete sich neben Arbuckles in den Sand. »Ich kann lediglich feststellen, dass es sich möglicherweise um ein Indianerpferd handelt.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Weil Indianer häufig Pferde ohne Hufeisen reiten. Angloamerikaner hingegen beschlagen ihre Tiere zumeist, sobald sie zugeritten sind.« Sie befestigte die Eisen an Arbuckies' Hufen, klopfte die Nägel durch und bog sie um. Swires Pferde, deren Hufe vom jahrelangen Eisentragen weich und empfindlich waren, durften keine Minute länger als nötig unbeschlagen bleiben.
Smithback zog den Revolver, den Swire ihm gegeben hatte, aus seiner Jackentasche und steckte ihn nach einer kurzen Überprüfung wieder zurück. »Und können Sie sagen, ob jemand auf dem Pferd saß?«, fragte er.
»So eine gute Spurenleserin bin ich nun auch wieder nicht. Aber ich bezweifle, dass ein Mann wie Roscoe unter Halluzinationen leidet.«
Nachdem Nora auch die Hufe von Smithbacks Pferd wieder mit Eisen versehen hatte, begannen die beiden der Spur zu folgen. Bald wurde Nora klar, dass es sich eigentlich um zwei Hufspuren handelte: Die eine führte zum Fuß der Wand hin, die andere von ihr weg. Obwohl der Wind sie teilweise verweht hatte, war noch deutlich zu erkennen, dass sie durch die Schachtelhalmsträucher nach Norden wiesen. Eine Weile liefen Nora und Smithback, die Pferde an den Zügeln hinter sich her führend, am Fuß des Bergrückens entlang, dann bogen sie ab in einen zwischen niedrigen Hügeln aus schwarzem Vulkangestein eingezwängten Hohlweg.
»Wo haben Sie denn das Spurenlesen gelernt?«, wollte Smithback wissen. »Ich wusste gar nicht, dass der Lone Ranger noch auf Vortragsreise ist.«
Nora warf ihm einen irritierten Blick zu. »Ist das für Ihr Buch?«
Smithback verzog in gespielter Überraschung das Gesicht. »Aber nein. Oder doch. Ja. Ich denke schon. Für so ein Buch ist alles wichtig. Aber zunächst einmal interessiert es mich persönlich.«
Nora seufzte. »Ihr Leute aus dem Osten haltet das Spurensuchen immer für eine Art Kunst oder eine angeborene Fähigkeit, die nur bestimmte Völker haben. Aber in Wirklichkeit ist es überhaupt nicht schwer, außer natürlich, wenn man eine Spur auf Fels oder Lava oder im Büffelgras verfolgen muss. In sandigem Gelände wie diesem hier braucht man eigentlich nur hinter der Spur herzugehen.«
»Ich kann es immer noch nicht fassen, wie abgeschieden und öde diese Landschaft ist«, meinte Smithback. »Ganz anders als das Verde Valley, wo ich zur Schule gegangen bin. Aber irgendwie hat diese Kargheit und Leere auch etwas Faszinierendes. Irgendwie kommt sie mir aufgeräumt und sauber vor, so ein bisschen in der Art eines japanischen Teehauses, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich habe mich letztes Jahr ausgiebig mit der Teezeremonie befasst, und seitdem...«
»Sagen Sie, könnten Sie Ihr Mundwerk vielleicht ein wenig im Zaum halten?«, bat Nora, die wegen Smithbacks Geplapper Schwierigkeiten hatte, sich auf die Spur zu konzentrieren. »Bei Ihrem Geschwafel könnte Jesus glatt seine eigene Himmelfahrt vergessen.«
Es folgte eine lange, erholsame Stille, aber dann fing Smithback wieder zu reden an. »Nora«, fragte er ruhig, »könnten Sie mir bitte sagen, was Ihnen an mir nicht gefällt?«
Nora blieb stehen und sah erstaunt zu Smithback hinüber. Seit Beginn der Expedition hatte der Journalist nur selten ein so ernstes Gesicht gemacht wie jetzt. Nora fiel auf, dass seine Cowboy-Klamotten, die ihr noch vor einer Woche ausgesprochen lächerlich vorgekommen waren, inzwischen zu einer staubigen, verknitterten Arbeitskleidung geworden waren, die dem schlanken, hoch gewachsenen Mann sogar ausgesprochen gut stand. Auch die teigige Blässe seines Gesichts war verschwunden und hatte einer rötlichen Bräune Platz gemacht, die viel besser zu der Farbe seiner Haare passte. Mit leisem Erschrecken machte sich Nora klar, dass Smithback sie zum ersten Mal mit ihrem Vornamen angesprochen hatte und nicht mit seinem albernen »Frau Chefin«. Und obwohl sie nicht genau sagen konnte, weshalb, fühlte sie sich sogar ein wenig geschmeichelt, dass es Smithback nicht egal war, was sie von ihm hielt.
Eigentlich hatte sie ihm antworten wollen: Ach, nichts, außer dass Sie ein taktloses, selbstgefälliges Ekel mit einem Ego größer als ganz Texas sind, doch sie hielt sich zurück. Mit einem Schlag war ihr bewusst geworden, dass Smithback ihr trotz seines exzentrischen Verhaltens irgendwie ans Herz gewachsen war und eine solche Behandlung nicht verdient hatte. Jetzt, da sie ihn besser kannte, wusste sie, dass sein Ego durchaus von einer wachen Selbstkritik im Zaum gehalten wurde, die ob ihrer ironischen Art sogar irgendwie sympathisch war. »Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen vorhin über den Mund gefahren bin«, sagte sie schließlich. »Das wollte ich nicht. Und außerdem habe ich nichts gegen Sie. Mich hat es bloß geärgert, dass Sie um ein Haar alles verpatzt hätten.«
»Wie bitte? Was soll ich getan haben?«
Nora beschloss, ihm keine Antwort zu geben. Es war zu heiß für so eine Diskussion, und außerdem war sie zu müde.
Sie gingen langsam weiter, während die Sonne sich ihrem Zenit näherte. Die Hufabdrücke, die einem sehr alten und kaum mehr erkennbaren Pfad zu folgen schienen, führten sie durch eine sonderbare Landschaft aus scharfkantigen Felsen und kleinen Sandsteinbuckeln. Nach einer Weile stiegen die beiden wieder auf ihre Pferde, und Nora verfolgte die Spur aus dem Sattel heraus, was ziemlich anstrengend für ihre Augen war. Hinzu kam, dass die erbarmungslos herabbrennende Mittagssonne von Sand und Felsen so grell reflektiert wurde, dass sich die Farben der Landschaft kaum mehr unterscheiden ließen. Nach langen Kilometern, auf denen es nicht den geringsten Hinweis auf Wasser gab, gelangten Nora und Smithback auf einmal in ein fruchtbares Tal mit saftigem Grün und einem in voller Blüte stehenden Feigenkaktus.
»Das ist ja der reinste Garten Eden«, meinte Smithback, während sie die kleine grüne Oase durchritten. »Wie kann es so etwas mitten in der Wüste geben?«
»So etwas kann von einem einzigen Schauer herrühren«, antwortete Nora. »Der Regen fallt hier anders als bei Ihnen im Osten. Die Niederschläge sind oft auf ein relativ kleines Gebiet begrenzt, so dass es an einer Stelle einen Wolkenbruch gibt, während ein paar hundert Meter weiter alles staubtrocken und ausgedörrt bleibt.«
»Was halten Sie eigentlich von einer kleinen Mittagspause?«, fragte Smithback, als sie wieder in der Wüste waren.
»Nicht viel.«
»Aber es ist schon fast zwei Uhr. Wir New Yorker pflegen zwar spät zu speisen, aber trotzdem meldet sich jetzt bereits mein Magen.«
»Ist es wirklich schon so spät?«, fragte Nora erstaunt und sah auf ihre Uhr. Dann richtete sie sich im Sattel auf und streckte sich. »Wir müssen seit dem Fuß des Bergrückens über zwanzig Kilometer zurückgelegt haben«, sagte sie. »Bald werden wir das Gebiet des Nankoweap-Reservats erreichen.«
»Und was bedeutet das? Meinen Sie, dass die Indianer dort vielleicht einen Cola-Automaten aufgestellt haben?«
»Wohl kaum. In dem Dorf gibt es keinen elektrischen Strom, und außerdem liegt es noch immer zwei Tagesritte von hier entfernt. Viel wichtiger für uns ist, dass wir auf Indianerland den Gesetzen der Nankoweaps unterstehen. Ich könnte mir vorstellen, dass man dort nicht gerade begeistert über zwei Eindringlinge sein dürfte, die auf der Suche nach Pferdekillern sind. Wir müssen hier sehr vorsichtig vorgehen.«
Smithback dachte einen Augenblick nach. »Wenn ich es mir recht überlege, habe ich doch keinen so großen Hunger«, sagte er.
Die Spur führte sie immer weiter in ein unendliches Labyrinth aus Trockentälern, Dünenfeldern und verborgenen Schluchten hinein. Obwohl Nora sicher war, dass sie sich bereits auf Indianderterritorium befanden, hatten sie weder einen Zaun noch ein Schild gesehen, das die Grenze markiert hätte. Diese Art von abgelegenem, wirtschaftlich wertlosem Ödland hatten die Weißen überall im Westen den Indianern überlassen.
»Was habe ich eigentlich so Schlimmes getan?«, fragte Smithback plötzlich.
»Wie bitte?«, fragte Nora und fuhr im Sattel herum.
»Vorhin haben Sie gesagt, ich hätte um ein Haar alles verpatzt. Ich habe darüber nachgedacht und kann mir einfach nicht vorstellen, was Sie damit meinen.«
Nora spornte Arbuckles zu einer rascheren Gangart an. »Ich habe Angst, dass alles, was ich Ihnen sage, später einmal in Ihrem Buch auftauchen wird.«
»Das wird es nicht. Versprochen.«
Nora ritt weiter, ohne etwas zu erwidern.
»Wirklich, Nora. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Ich will nur wissen, was in Ihnen vorgeht.«
Abermals verspürte Nora eine seltsame Befriedigung ob seines Interesses für sie. »Welche Informationen haben Sie darüber, wie ich überhaupt von Quivira erfahren habe?«, fragte sie, ohne den Blick von der Spur zu nehmen.
»Nur, dass Ihnen Holroyd dabei geholfen hat, die Stadt ausfindig zu machen. Außerdem hat Dr. Goddard einmal erwähnt, dass Ihr Vater der eigentliche Entdecker sei. Ich wollte Sie schon längst bitten, mir mehr darüber zu erzählen, aber Sie...«, Smithback verstummte.
Stimmt, dachte Nora mit einem Anflug von Schuldbewusstsein, ich hätte dir den Kopf abgerissen, wenn du das getan hättest. »Vor etwa zwei Wochen«, begann sie, »wurde ich im alten Ranchhaus meiner Familie von zwei Männern angegriffen. Zumindest dachte ich, dass es Männer waren, die sich in Tierfelle gehüllt hatten. Sie verlangten, dass ich ihnen einen Brief geben solle, doch meine Nachbarin hat sie mit ihrer Schrotflinte verjagt. Zunächst wusste ich nicht, was für einen Brief sie gemeint hatten, aber dann fand ich ein viele Jahre altes Schreiben meines Vaters an meine Mutter. Irgendjemand hatte es erst kürzlich mit der Post geschickt. Wer das getan hat und aus welchen Gründen, konnte ich bis jetzt nicht herausfinden. In dem Brief schrieb mein Vater, dass er Quivira entdeckt habe, und gab eine Beschreibung des Weges zu der Stadt, die zwar ziemlich vage war, aber immerhin genügte, um sie mit Peters Hilfe zu finden. Ich glaube, dass die Angreifer ebenfalls herauskriegen wollten, wo Quivira liegt. Ich vermute, dass es Grabräuber sind, die es auf die Schätze der Stadt abgesehen haben.«
Nora hielt inne und befeuchtete sich mit der Zunge ihre von der Sonne ausgetrockneten Lippen. »Aus diesen Gründen hatte ich versucht, nichts über unsere Expedition an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, was uns allem Anschein nach ja auch gelungen war. Aber dann tauchten Sie am Hafen von Wahweap auf. Und zwar mit Ihrem Notizbuch in der einen und einem Megafon in der anderen Hand.«
»Ach so.« Auch ohne sich umdrehen zu müssen wusste Nora, dass der Journalist zerknirscht war. »Tut mir Leid. Mir war zwar klar, dass der Zweck der Expedition geheim war, aber ich wusste nicht, dass man nicht einmal etwas über ihr bloßes Stattfinden verlauten lassen durfte.« Er hielt inne. »Ich habe aber keine Details genannt, das wissen Sie genau.«
Nora seufzte. »Das kann schon sein. Aber Sie haben immerhin für Aufsehen gesorgt. Aber vergessen wir das, ja? Ich habe vermutlich zu heftig reagiert, wenn auch aus Gründen, die Sie jetzt wohl nachvollziehen können. Ich war ziemlich angespannt.«
Schweigend ritten sie weiter. »Und was halten Sie nun von meiner Geschichte?«, fragte Nora schließlich.
»Ich ärgere mich, dass ich Ihnen versprochen habe, sie nicht zu veröffentlichen. Glauben Sie eigentlich, dass diese Burschen noch immer hinter Ihnen her sind?«
»Hätte ich sonst darauf bestanden, persönlich auf diese Suche zu gehen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Pferdekiller dieselben Personen sind, die mich damals angegriffen haben. Wenn dem so ist, dann bedeutet das übrigens auch dass sie inzwischen wissen, wo Quivira liegt.«
Plötzlich führte der Pfad aus dem Gewirr von Felsen und Canons heraus auf eine schmale, an einen ausgestreckten Finger erinnernde Hochfläche, die etwa in der Mitte von einem Haufen großer Felsblöcke unterteilt wurde. Nach beiden Seiten boten sich Nora und Smithback atemberaubende Ausblicke auf unzählige Canons, von denen viele so tief waren, dass man ihre ihm Schatten liegende Talsohle nicht sehen konnte. Im Osten standen in weiter Feme die bläulichen, schneebedeckten Gipfel der Henry Mountains, die Nora unnahbar und einsam vorkamen.
»Ich habe gar nicht bemerkt, dass wir so viel an Höhe gewonnen haben«, meinte Smithback, während sie sich der quer über die Mitte der Hochfläche liegenden Felsbarriere näherten.
In diesem Moment stieg Nora der Geruch von brennendem Zedernholz in die Nase. Sie machte Smithback ein Zeichen, dass er leise absteigen solle.
»Riechen Sie das auch?«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wir befinden uns in der Nähe eines Lagerfeuers. Ich schlage vor, dass wir die Pferde hier lassen und uns zu Fuß ein wenig umsehen.«
Nachdem sie die Tiere an einem Beifußbusch angebunden hatten, gingen sie langsam auf die Felsen zu, die das andere Ende der Hochfläche vor ihren Blicken verbargen. »Wäre es nicht toll, wenn auf der anderen Seite eine Badewanne voller eiskalter Ceiveza stünde?«, fragte Smithback leise beim Hinaufklettern. Nora ging auf alle viere und krabbelte vorsichtig auf eine Lücke zwischen den Felsen zu. Smithback tat es ihr nach, und gemeinsam spähten sie dann auf die andere Seite.
Am Ende der Hochfläche loderte unter den knorrigen Asten eines toten Wacholderbusches ein kleines Feuer, von dem nur wenig Rauch aufstieg. Über den Flammen hing an einem von zwei Astgabeln gehaltenen Holzspieß ein gehäutetes Kaninchen, und im Windschatten der Felsen lagen ein alter Armeeschlafsack sowie mehrere in Leder eingeschlagene Bündel. Unterhalb des Abhangs links von dem kleinen Lager sah Nora ein an einem langen Seil angebundenes, grasendes Pferd. Die Spur, der sie und Smithback die ganze Zeit gefolgt waren, führte zwischen den Felsblöcken hindurch direkt zu diesem Lagerplatz.
Der Ausblick von ihrem Beobachtungsposten war fantastisch. An drei Seiten fielen verwitterte Felshänge ab in eine raue Landschaft voller trockener Salzpfannen und weit verstreuter, riesiger Felsblöcke, die bereits lange Schatten warfen. Am Horizont dahinter konnte Nora die unregelmäßig geformte dunkle Silhouette des dicht bewaldeten Aquarius-Plateaus erkennen. Eine Heuschrecke zirpte verloren in der Hitze des Spätnachmittags.
Nora atmete langsam aus. Hier in dieser kahlen, verlassenen Landschaft fand sie es irgendwie lächerlich, wie beim Cowboy-und-Indianer-Spielen auf Händen und Knien herumzukriechen und zwischen zwei Felsen hindurch auf ein bratendes Kaninchen zu starren. Aber dann dachte sie an die pelzigen Gestalten in dem verlassenen Ranchhaus und die in der Sonne dampfenden, von Fliegenschwärmen umschwirrten Eingeweide der toten Pferde. »Sieht aus, als wäre niemand da«, flüsterte Nora. Ihre eigene Stimme kam ihr laut und dünn vor, und sie spürte, wie ihr vor Angst die Haut zu kribbeln begann.
»Stimmt, aber wer auch immer hier sein Lager aufgeschlagen hat, der kommt bestimmt bald wieder. Was machen wir jetzt?«
»Ich denke, wir steigen wieder auf und reiten ganz normal um die Felsen herum. Und dann warten wir ab, dass der Kaninchengriller zurückkommt.«
»Na klar. Damit er uns mir nichts, dir nichts aus dem Sattel schießen kann.«
Nora sah ihn an. »Haben Sie eine bessere Idee?«
»Ja. Wie wäre es, wenn wir zurückreiten und nachsehen würden, was Bonarotti Gutes zum Abendessen kocht?«
Nora schüttelte ungeduldig den Kopf. »Dann gehe ich eben alleine dort hinunter. Eine einzelne Frau wird man schon nicht gleich abknallen.«
»Ich würde Ihnen das nicht empfehlen«, entgegnete Smithback. »Wenn das die Typen sind, die Sie überfallen haben, werden sie wohl kaum Rücksicht darauf nehmen, dass Sie eine Frau sind.«
»Und was schlagen Sie stattdessen vor?«
Smithback zögerte. »Vielleicht sollten wir uns ja lieber verstecken und erst einmal schauen, wer denn nun wirklich zurück zu diesem Feuer kommt. Dann können wir uns noch immer überlegen, was wir tun.«
»Und wo sollen wir uns verstecken?«
»Zwischen den Felsen hinter uns. Von dort aus haben wir einen guten Überblick und werden trotzdem nicht gesehen.«
Sie gingen zu ihren Pferden, banden sie abseits des Pfades fest und verwischten ihre Spuren. Dann kletterten sie wieder auf die Felsen über dem Lagerplatz und versteckten sich in einer Spalte zwischen zwei großen Blöcken. Kaum hatten sie sich niedergelassen, da hörte Nora ein Unheil verheißendes, rasselndes Zischen. Nicht weit von ihnen lag im Schatten eines Felsens eine zusammengerollte Klapperschlange, die ihren ambossförmigen Kopf langsam hin und her bewegte.
»Jetzt können Sie mir beweisen, dass Sie eine gute Schützin sind«, meinte Smithback.
»Nein«, entgegnete Nora.
»Warum nicht?«
»Weil man den Schuss meilenweit hören würde. Wollen Sie das wirklich?«
Smithback richtete sich mit einem Ruck auf. »Ich schätze, diese Frage ist überflüssig.«
Er deutete auf eine Anhöhe neben der Hochfläche, auf der auch Nora jetzt einen Mann erkennen konnte, an dessen rechter Hüfte ein Revolver hing. Wie lange er schon da stand und sie beobachtete, konnte Nora nicht sagen.
Auf einmal erschien ein Hund neben dem Mann. Als das Tier Nora und Smithback erblickte, fing es wütend an zu bellen. Der Mann rief dem Hund einen kurzen Befehl zu, worauf er sich neben ihn setzte und verstummte.
»Gott im Himmel, das sieht nicht gut für uns aus«, murmelte Smithback. »Wir hocken hier praktisch wie auf dem Präsentierteller.«
Nora wusste nicht, was sie tun sollte. Sie spürte das Gewicht ihrer Waffe am Gürtel. Wenn der Mann einer von denen war, die sie überfallen und die Pferde getötet hatten, dann...
Der Mann stand bewegungslos vor der immer tiefer sinkenden Sonne.
»Sie haben uns in dieses Schlamassel gebracht«, sagte Smithback. »Jetzt sorgen Sie gefälligst dafür, dass wir da wieder rauskommen.«
»Vielleicht sollten wir dem Herrn nett Guten Tag sagen?«
»Brillanter Einfall«, sagte Smithback und hob zögernd die Hand zum Gruß.
Der Mann auf dem Berg erwiderte die Geste. Dann setzte er sich in Bewegung und stieg, gefolgt von seinem Hund, mit seltsam steifbeinigen Schritten den Abhang hinab. Auf einmal blieb er abrupt stehen. So rasch, dass Nora nicht mehr reagieren konnte, zog er seinen
Revolver und schoss.