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Eine Stunde später hatte sich die ganze Expedition, inklusive Swire, schweigend um das Feuer versammelt. Obwohl es wieder aufgehört hatte zu regnen, standen immer noch dunkle, metallfarbene Wolken am Himmel, und in der Luft lag ein Geruch nach Feuchtigkeit und Ozon.

Alle waren sie noch wie betäubt von Holroyds Tod, der jeden Einzelnen von ihnen tieferschütterte. Nora litt darüber hinaus auch unter immensen Schuldgefühlen, denn schließlich war sie es gewesen, die Holroyd mit auf die Expedition genommen hatte. Unbewusst, das wurde ihr jetzt klar, hatte sie, um ihr Ziel zu erreichen, seine Gefühle für sie ausgenutzt. Peter, bitte, vergib mir, dachte sie, während sie hinüber zu dem verschlossenen Zelt blickte, in dem jetzt Holroyds Leiche lag.

Von allen Expeditionsteilnehmern ging nur Bonarotti seiner gewohnten Arbeit nach. Er legte eine luftgetrocknete Salami neben mehrere Laibe frisch gebackenen Brotes, die er auf seinem improvisierten Serviertisch aufgereiht hatte. Als ihm klar wurde, dass niemandem nach Essen zu Mute war, schlug er die Beine übereinander und zündete sich eine Zigarette an.

Nora befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen. »Enrique«, sagte sie, mühsam um Fassung ringend. »Was können Sie uns über Peters Tod mitteilen?«

Aragon sah sie mit seinen unergründlichen schwarzen Augen an. »Nicht viel, fürchte ich. Ich bin nicht dafür ausgerüstet, eine Autopsie vorzunehmen. Meine Möglichkeiten, eine genaue Diagnose zu stellen, sind deshalb stark eingeschränkt. Aber ich habe Proben von seinem Blut, Speichel und Urin genommen, die ich gerade mikrobiologisch untersuche. Außerdem analysiere ich Stücke seiner Haut und den Ausfluss aus den Geschwüren an seiner Brust, aber keiner der Tests ist bislang abgeschlossen.«

»Was kann denn so rasch zu seinem Tod geführt haben?«, fragte Sloane.

»Genau diese Frage macht eine Diagnose ja so schwierig«, antwortete Aragon. »In seinen letzten Minuten zeigte er Anzeichen von Zyanose und akuter Atemnot, was beides auf eine Lungenentzündung hinweisen würde. Nur kann sich eine Lungenentzündung nicht so schnell entwickeln. Und dann war da noch diese Lähmung...« Er verstummte einen Augenblick. »Ohne ein ordentliches Labor kann ich ihn weder punktieren noch eine Magenspülung vornehmen, ganz zu schweigen von einer Autopsie.«

»Was mich interessiert«, meldete sich Black zu Wort, »ist die Frage, ob die Krankheit ansteckend ist und ob möglicherweise schon andere von uns infiziert sind.«

Aragon seufzte und blickte zu Boden. »Das ist schwer zu sagen. Aber bisher gibt es keine Hinweise, die in diese Richtung deuten. Vielleicht werden meine primitiven Bluttests uns ja mehr Aufschlüsse bringen. Ich habe darüber hinaus ein paar Petrischalen mit Kulturen angesetzt für den Fall, dass wir es doch mit einem ansteckenden Erreger zu tun haben. Ich stelle nur ungern Spekulationen an, aber... «Er verstummte.

»Trotzdem wäre es gut, wenn Sie uns Ihre Spekulationen mitteilen würden, Enrique«, bat Nora leise.

»Nun gut. Wenn Sie mich nach meinem ersten Eindruck fragen, dann sage ich Ihnen Folgendes: Der rasche Ausbruch und Verlauf der Erkrankung deuten viel eher auf eine akute Vergiftung hin als auf eine Infektion.«

Nora sah Aragon entsetzt an.

»Eine Vergiftung?«, rief Black, sichtlich erleichtert. »Aber wer sollte denn Peter vergiften wollen?«

»Es muss ja nicht einer von uns gewesen sein«, warf Sloane ein, »sondern jemand von den Leuten, die unsere Pferde getötet und die Funkgeräte zerstört haben.«

»Wie gesagt, das ist alles pure Spekulation«, sagte Aragon und hob hilflos die Hände. »Hat Holroyd etwas anderes als wir gegessen?«, fragte er an Bonarotti gewandt.

Der Koch schüttelte den Kopf.

»Und was ist mit dem Wasser?«

»Das hole ich aus dem Fluss«, antwortete Bonarotti. »Ich lasse es durch ein Filter laufen. Und außerdem haben wir alle davon getrunken.«

Aragon rieb sich das Gesicht. »Die ersten Testergebnisse werden noch ein paar Stunden auf sich warten lassen«, sagte er. »Bis dahin können wir nicht ausschließen, dass Holroyd an einer ansteckenden Krankheit gestorben ist. Deshalb schlage ich vor, dass wir als Vorsichtsmaßnahme seine Leiche so schnell wie möglich aus dem Lager schaffen.«

In der Stille, die auf seine Worte folgte, war aus Richtung des Kaiparowits-Plateaus entferntes Donnergrollen zu vernehmen.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Black.

Nora sah ihn an. »Liegt das nicht auf der Hand? Wir müssen so schnell wie möglich verschwinden.«

»Nein!«, platzte Sloane heraus.

Nora drehte sich erstaunt zu ihr um.

»Wir können jetzt nicht einfach aus Quivira abhauen«, erklärte Sloane. »Dazu ist diese Ausgrabung viel zu wichtig. Wer immer unsere Funkgeräte kaputtgemacht hat, will uns von hier vertreiben, damit er die Stadt ungehindert ausplündern kann. Mit unserem Aufbruch würden wir ihm nur einen Gefallen erweisen.«

»Das stimmt«, sagte Black.

»Aber es ist gerade ein Mann gestorben«, konterte Nora. »Vielleicht an einer ansteckenden Krankheit, aber möglicherweise hat man ihn auch ermordet. In beiden Fällen bleibt uns keine andere Wahl. Wir haben den Kontakt mit der Außenwelt verloren und können keine Hilfe holen. Die Sicherheit der Expeditionsteilnehmer hat Vorrang vor allen ändern Erwägungen.«

»Wir sprechen hier von der größten Entdeckung in der Geschichte der modernen Archäologie«, sagte Sloane mit heiserer, eindringlich klingender Stimme. »Alle von uns haben dafür ihr Leben riskiert. Und jetzt, bloß weil einer gestorben ist, sollen wir einfach unsere Sachen packen und uns aus dem Staub machen? Damit wäre Peters Opfer ja vollkommen sinnlos.«

Black, der während ihrer Worte merklich blass geworden war, brachte mit Mühe ein zustimmendes Nicken zu Stande.

»Für Sie und mich und vielleicht für den Rest von uns Wissenschaftlern mag das ja zutreffen«, erwiderte Nora. »Aber Peter war ein Außenstehender.«

»Aber er wusste, was für ein Risiko er einging«, entgegnete Sloane. »Sie selbst haben ihn schließlich daraufhingewiesen - oder haben Sie das etwa versäumt?« Während sie sprach, blickte sie Nora starr in die Augen. Obwohl sie nicht weiterredete, war ganz klar, was sie mit ihrer Bemerkung hatte zum Ausdruck bringen wollen.

»Ich weiß, dass Peters Teilnahme an der Expedition auf meine Initiative zurückgeht«, sagte Nora mit mühsam kontrollierter Stimme. »Damit werde ich leben müssen, aber es ändert jetzt nichts an unserer Situation. Tatsache ist, dass Roscoe, Luigi und Bill Smithback immer noch bei uns sind. Alle drei sind keine Wissenschaftler. Und jetzt, da wir um die Gefahr wissen, in der wir uns befinden, haben wir kein Recht mehr, ihre Sicherheit aufs Spiel zu setzen.«

»Hört, hört!«, murmelte Smithback.

»Ich finde, die drei sollten für sich selbst entscheiden«, sagte Sloane, deren Augen im Licht des von Sturmwolken zerfetzten Himmels ganz dunkel wirkten. »Schließlich sind sie keine gedungenen Sherpas, sondern haben ihr persönliches Interesse am Gelingen dieser Expedition.«

Nora schaute von Sloane zu Black und dann auf den Rest der Expeditionsteilnehmer. Alle erwiderten schweigend ihren Blick. Mit einer Art dumpfem Erstaunen wurde ihr klar, dass Sloane soeben ihre Führerschaft offen in Frage gestellt hatte und die anderen an ihrer Entscheidung zumindest zweifelten. Eine leise Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass das unfair war: Jetzt, da sie um Peter Holroyd trauerte, durften sie ihr das doch nicht antun. Nora musste sich zwingen, logisch zu denken. Natürlich hätte sie als Leiterin der Expedition einfach den Befehl zum Verlassen der Ruinenstätte erteilen können, doch schien sich in der unberechenbaren, emotional aufgeheizten Stimmung nach Holroyds Tod eine neue Gruppendynamik zu entwickeln. Obwohl Nora wusste, dass sie ihre Entscheidungen nicht von den anderen absegnen lassen musste, wollte sie doch lieber alle daran beteiligen. »Was immer wir tun, wir tun es gemeinsam«, sagte sie also. »Lassen Sie uns darüber abstimmen.«

Als Ersten sah sie Smithback an.

»Ich denke wie Nora«, sagte er ruhig. »Das Risiko ist zu groß. Wir sollten von hier verschwinden.«

Noras Blick wanderte weiter zu Aragon. Der Arzt erwiderte ihn kurz, dann sagte er, an Sloane gewandt: »Ich bin derselben Meinung.«

Als Nächster war Black dran. Er schwitzte. »Ich unterstütze Sloanes Vorschlag«, erklärte er mit schriller, angespannter Stimme.

»Und Sie, Roscoe?«, fragte Nora.

Der Cowboy blickte hinauf in den Himmel. »Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätten wir dieses gottverdammte Tal hier überhaupt nicht betreten, Ruine hin oder her. Und jetzt fängt es an zu regnen, und der Slot-Canon ist der einzige Ausgang. Wir sollten zusehen, dass wir unsere Hintern hier rauskriegen.«

Nora sah hinüber zu Bonarotti. Der Italiener winkte abwesend und blies den Rauch seiner Zigarette spiralenförmig in die Luft. »Mir ist es egal. Ich schließe mich der Mehrheit an.«

Nora wandte sich wieder an Sloane. »Das sind vier Stimmen gegen zwei bei einer Enthaltung. Damit dürfte ja wohl alles klar sein.« Dann schlug sie einen sanfteren Ton an. »Aber wir werden hier nicht alles stehen und liegen lassen, sondern den restlichen Tag dafür nutzen, die wichtigsten Arbeiten abzuschließen, die Ausgrabung zu sichern und weitere Fotos zu machen. Außerdem werden wir ein paar repräsentative Artefakte einpacken und mitnehmen, wenn wir morgen in aller Frühe aufbrechen.«

»Den restlichen Tag?«, fragte Black. »Um diese Ausgrabung zu sichern, brauchen wir erheblich länger.«

»Tut mir Leid, aber das geht nicht. Wir werden tun, was wir können, aber mehr Zeit haben wir nicht. Um Zeit zu sparen, schlage ich vor, dass wir nur die wirklich notwendigen Sachen mitnehmen und den Rest vergraben.«

Niemand sagte ein Wort. Sloane, deren Gesicht einer undurchdringlichen, emotionslosen Maske glich, hörte nicht auf, Nora anzustarren.

»Dann lassen Sie uns mal loslegen«, sagte Nora schließlich. »Bis Sonnenuntergang haben wir noch eine Menge zu tun.«