7
Nora konnte sich nicht erinnern, jemals in einer heißeren, stickigeren Wohnung gewesen zu sein als in der von Peter Holroyd. Die Luft darin war nicht nur tot, dachte sie grimmig, sie befand sich schon im Stadium der Verwesung. »Haben Sie vielleicht etwas Eis?«, fragte sie.
Holroyd, der vier Stockwerke hinuntergegangen war, um ihr aufzusperren und seine Post zu holen, schüttelte seinen struppigen Kopf. »Tut mir Leid, das Eisfach ist kaputt.«
Nora sah ihm zu, wie er seine Post durchging. Unter seinem sandfarbenen Haarschopf spannte sich die außergewöhnlich blasse Haut seines Gesichts über zwei vorspringende Backenknochen, und wenn er sich bewegte, schienen ihm seine Glieder immer irgendwie im Weg zu sein. Seine Beine schienen ein wenig zu kurz für seinen mageren Oberkörper und seine langen, knochigen Arme geraten zu sein. Den melancholischen Eindruck, den Holroyds Erscheinung auf Nora machte, straften seine wachen grünen Augen Lügen, die intelligent und hoffnungsvoll in die Welt blickten. Holroyds Geschmack in punkto Kleidung war ziemlich fragwürdig: Er trug eine gestreifte bräunliche Polyesterhose und ein Karohemd mit V-Ausschnitt.
Nora trat ans Fenster, wo sich schmuddelige gelbe Vorhänge in der matten Parodie einer Abendbrise bauschten, und sah hinaus auf die dunklen Boulevards von Ost-Los Angeles. An der nächsten Kreuzung leuchtete das Reklameschild von »Al's Pizza«, wo sie zwei Abende zuvor Holroyd zum ersten Mal gesehen hatte. Jetzt, nachdem sie zwei Nächte bei einer Freundin in Thousand Oaks, einer hässlichen, kleinkarierten Ecke von L.A., verbracht hatte, verstand sie Peters Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer schon ein wenig besser.
Seufzend trat sie vom Fenster zurück. Das Zimmer war so kahl, dass sie nicht einmal erkennen konnte, ob Holroyd ein guter oder schlechter Hausmann war. Ein kleines, aus Ziegeln und Sperrholzbrettern improvisiertes Bücherregal und zwei alte Klappstühle, auf denen mehrere Ausgaben des »Old Bike Journal« herumlagen, waren die einzige Einrichtung. Auf dem Boden lag ein altertümlich aussehender, verkratzter Motorradhelm. »Gehört Ihnen die Maschine, die da unten unter der Laterne steht?«
»Ja. Das ist eine Indian Chief, Baujahr 1946; in großen Teilen zumindest«, erklärte Holroyd grinsend. »Ich habe die Maschine als halbes Wrack von meinem Großonkel geerbt und sie nach und nach wieder aufgemöbelt. Fahren Sie etwa auch Motorrad?«
»Mein Dad hatte eine alte Geländemaschine, mit der ich früher immer auf unserer Ranch herumkutschiert bin. Und dann hat mir mein Bruder ein paar Mal seine Harley geliehen, bevor er sie auf der Route 66 zu Schrott gefahren hat.« Nora wandte sich wieder dem Fenster zu. Auf dem Fensterbrett standen ein paar seltsam aussehende Pflanzen: Sie hatten dunkelrote, fast schwarz wirkende Blätter und bildeten einen kleinen Dschungel aus wild durcheinander wachsenden
Stängeln und Blüten. Die sind wahrscheinlich die Einzigen hier, denen die Hitze in dieser Wohnung nichts ausmacht, dachte sie.
Ein kleines Gewächs mit dunkelvioletten Blüten interessierte sie besonders. »Was ist denn das?«, fragte sie und griff neugierig nach den Blättern.
Holroyd sah zu ihr herüber und ließ vor Schreck seine Post fallen. »Nicht anfassen!«, rief er. Nora zog rasch ihre Hand zurück. »Das ist Tollkraut«, erklärte er und bückte sich, um die Umschläge wieder aufzuheben. »Ein giftiges Nachtschattengewächs.«
»Machen Sie Witze?«, fragte Nora. »Und was ist das hier?« Sie deutete auf die Pflanze daneben, die exotisch aussehende, dunkelbraune Stacheln aufwies.
»Eisenhut. Er erhält Acontin, ein schreckliches Gift. Und da in der Schale sehen Sie drei der giftigsten Pilze, die es auf der Welt gibt: den Grünen Knollenblätterpilz, den Fliegenpilz und Amanita virosa, den Kegelhütigen Knollenblätterpilz, und in diesem Topf da...«
»Ist schon gut«, sagte Nora, die fand, dass die Kappe des Fliegenpilzes aussah wie die Haut eines Pestkranken. »Haben Sie Feinde?«, fragte sie Holroyd.
Holroyd warf die Post in den Papierkorb und sah sie laut lachend mit einem Funkeln in seinen grünen Augen an. »Andere Leute sammeln Briefmarken, und ich sammle nun mal Giftpflanzen.«
Nora folgte ihm in die Küche, die ebenso spärlich eingerichtet war wie der Rest der Wohnung. Ein alter Holztisch zwei Stühle und ein Kühlschrank waren die einzigen Möbel in dem kleinen Raum. Auf dem Tisch sah Nora eine Tastatur, eine Drei-Tasten-Maus und den größten Computer-Monitor, der ihr je untergekommen war.
Holroyd lächelte, als er Noras bewundernde Blicke bemerkte. »Ganz nette Anlage, nicht wahr? Im Labor habe ich auch keine bessere. Watkins hat diese Computer vor ein paar Jahren für seine wichtigsten Leute gekauft und sie ihnen nach Hause gestellt. Er ist nun mal der Meinung, dass jemand, der für ihn arbeitet, kein Privatleben hat. Und damit hat er vermutlich sogar Recht, zumindest, was mich betrifft«, fügte er mit einem schrägen Blick auf Nora hinzu.
Nora hob fragend die Augenbrauen. »Dann bringen Sie also doch manchmal Ihre Arbeit mit nach Hause.«
Das Lächeln verschwand aus Holroyds Gesicht, als ihm klar wurde, was sie damit sagen wollte. »Aber nur Arbeit, die nicht der Geheimhaltung unterliegt«, antwortete er, während er in einen verknitterten Plastikbeutel griff und eine DVD-RAM herauszog. »Die Daten, um die Sie mich gebeten haben, unterliegen ihr allerdings sehr wohl.«
»Wie konnten Sie sie dann aus dem Labor schmuggeln?«
»Ich habe die Rohdaten, die das Shuttle heute Vormittag zur Erde gefunkt hat, einfach auf eine zusätzliche DVD gebrannt. Ich habe immer ein paar leere Disks bei mir, so dass das nicht weiter auffällt.« Holroyd wedelte mit der DVD herum, die das schwache Licht in der Küche regenbogenfarben reflektierte. »Wenn man die richtige Sicherheitsstufe hat, ist der Diebstahl von Daten ein Kinderspiel. Allerdings sind die Strafen dann umso höher, falls man dabei erwischt wird.« Holroyd verzog das Gesicht.
»Das ist mir klar«, sagte Nora. »Vielen Dank, Peter.«
Holroyd sah sie an. »Sie wussten, dass ich Ihnen helfen würde, nicht wahr? Sie wussten es, noch bevor Sie neulich die Pizzeria verließen.«
Nora erwiderte seinen Blick. Er hatte Recht. Nachdem er ihr erklärt hatte, wie man an die Daten herankommen könne, war sie davon überzeugt gewesen, dass er es auch tun würde. Aber sie wollte seinen Stolz nicht kränken. »Ich habe es gehofft«, antwortete sie. »Aber sicher war ich mir erst, als Sie mich am nächsten Morgen anriefen. Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihre Hilfe zu schätzen weiß.«
Nora sah, dass Holroyd rot wurde. Er wandte sich abrupt ab und öffnete die Tür des Kühlschranks. Drinnen sah Nora zwei Dosen alkoholfreies Bier, etwas Orangensaft und einen großen Computer. Sie trat einen Schritt vor und erkannte, dass von dem Computer dünne Kabel hinaus zu dem Monitor auf dem Tisch liefen.
»Hier draußen ist es zu heiß für ihn«, erklärte Holroyd, während er die DVD in das Gehäuse des Computers schob und die Tür wieder schloss. »Packen Sie doch schon mal Ihre Karte aus.«
Nora holte eine topografische Karte aus ihrer Aktentasche und begann sie zu entfalten. Dann hielt sie inne. »Ihnen ist hoffentlich klar, dass das, was wir Vorhaben, etwas ganz anderes ist, als in einem klimatisierten Büro vor dem Computer zu sitzen«, sagte sie. »Bei einer Ausgrabung wie der unseren muss jeder zwei oder drei Jobs übernehmen. Sie kommen zwar als Spezialist für Radarmessung und Kommunikation mit, aber es wird auch erwartet, dass Sie mit einer Schaufel umgehen können. Und das aus gutem Grund.«
Holroyd blinzelte sie an. »Was soll das jetzt? Wollen Sie mir die Expedition etwa madig machen?«
»Ich will nur, das Ihnen klar ist, worauf Sie sich einlassen.«
»Sie haben doch gesehen, was ich für Bücher lese. Ich weiß, dass das kein Sonntagsausflug wird. Das ist ja gerade der Reiz an der Sache.« Er setzte sich an den Holztisch und schob sich die Tastatur in Position. »Indem ich Ihnen diese Daten beschaffe, riskiere ich ein paar Jahre Gefängnis. Glauben Sie im Ernst, dass ich mich da vor einem bisschen Schaufelei fürchte?«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Nora und lächelte. Sie zog sich einen Klappstuhl aus Plastik heran und nahm Platz. »Wie funktioniert Ihr Radar eigentlich genau?«
»Radarwellen sind nichts anderes als eine elektromagnetische Strahlung, die man so in etwa mit den Lichtwellen vergleichen kann. Wir schicken diese Strahlen vom Shuttle aus hinunter auf die Erde und fangen ihre Reflexionen auf, die unsere Computer dann digital hochrechnen und zu einem Bild zusammenfügen.« Holroyd drückte ein paar Tasten. Nach einer kurzen Pause erschien ein kleines Fenster am unteren Rand des Bildschirms, in dem die Statusanzeige über den Ladevorgang eines komplexen Programms erschien. Nach und nach öffneten sich kleine Symbolleisten in den anderen Ecken und schließlich ein großes, leeres Fenster in der Mitte des Monitors.
Holroyd klickte sich mit der Maus durch eine Reihe von Menüs, woraufhin sich in dem zentralen Fenster Zeile für Zeile ein Bild in künstlich wirkenden Rottönen aufbaute.
»Ist das alles?«, fragte Nora ein wenig enttäuscht. Sie hatte ein bisschen mehr erwartet als dieses verwirrende, monochrome Muster, das in keiner Weise an eine Landschaft erinnerte.
»Das ist erst der Anfang. Unsere Sensoren berücksichtigen Infrarotemissionen und Radiowellen zugleich, aber das zu erklären würde jetzt zu weit führen. Darüber hinaus tasten wir die Erdoberfläche mit drei verschiedenen Radarbändem ab und schicken die erhaltenen Bilder durch zwei verschiedene Polarisationsfilter. Jede Farbe repräsentiert ein anderes Radarband und eine andere Polarisationsebene. Ich werde jetzt alle diese verschiedenen Bilder zu einem Gesamtbild zusammenfügen, aber das kann ein paar Minuten dauern.«
»Und dann sehen wir unsere Straße?«
Holroyd sah sie amüsiert an. »So einfach ist das leider nicht. Wenn wir die Straße sehen wollen, müssen wir die Daten erst einmal gründlich durch den Wolf drehen.« Er deutete auf den Bildschirm. »Das rötliche Bild hier ist das, was das L-Band Radar sieht. Es hat eine Wellenlänge von dreiundzwanzig Komma fünf Zentimetern und kann trockenen Sand bis zu einer Tiefe von fünf Metern durchdringen. Als Nächstes füge ich das Bild des C-Bands hinzu.«
Ein bläuliches Bild baute sich auf dem Schirm auf.
»Das C-Band hat eine Wellenlänge von sechs Zentimetern und dringt bis zu fast zwei Meter in den Sand ein. Was Sie jetzt sehen, ist also etwas flacher als das erste Bild.« Er drückte ein paar Tasten. »Und jetzt kommt das X-Band mit einer Wellenlänge von drei Zentimetern. Es liefert uns praktisch ein Bild von der Erdoberfläche.«
Ein neonartig leuchtender Grün ton zeigte sich auf dem Monitor.
»Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie Sie aus all dem etwas erkennen wollen«, sagte Nora und starrte auf die verschlungenen farbigen Linien.
»Als Nächstes werde ich die Polarisationen einrechnen. Wir polarisieren den Radarstrahl, den wir nach unten schicken, einmal horizontal und einmal vertikal. Bisweilen kommt dann der horizontal polarisierte Strahl andersherum polarisiert zurück. Das passiert zum Beispiel, wenn der Strahl auf viele vertikal stehende Baumstämme trifft.«
Nora sah, wie eine weitere Farbe auf dem Monitor erschien. Um sie aufzubauen, brauchte das Programm deutlich länger als bei den Bildern zuvor. Offenbar waren dazu komplexere Rechenarbeiten notwendig.
»Das sieht ja aus wie ein De Kooning«, sagte Nora.
»Wie bitte?«
»Ist nicht so wichtig.«
Holroyd wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Was wir jetzt sehen, ist ein Kompositbild, das von der Oberfläche bis etwa fünf Meter tief unter die Erde hinab reicht. Nun müssen wir manche Wellenlängen herausrechnen und andere verstärken. Hier zeigt sich übrigens, ob man sein Handwerk versteht oder nicht.« Nora glaubte, einen Anflug von Stolz in Holroyds Stimme vernehmen zu können.
Rascher als zuvor fing er wieder zu tippen an. Nora sah, wie ein weiteres Fenster auf dem Schirm erschien, über das endlose Zeilen von Programmcodes huschten. Nach und nach legte sich ein zartes Linienmuster auf das Bild der Wüstenoberfläche.
»Mein Gott!«, rief Nora. »Da sind sie ja. Ich wusste gar nicht, dass die Anasazi...«
»Einen Augenblick«, unterbrach sie Holroyd. »Das sind keine alten Indianerstraßen, sondern Pfade, die aus der heutigen Zeit stammen.«
»Aber in der Karte sind doch gar keine Wege eingezeichnet.«
Holroyd schüttelte den Kopf. »Ich vermute, dass das die Spuren von irgendwelchen Tieren sind - vielleicht von Wildpferden, Hirschen, Kojoten oder Pumas - was weiß ich. Ein paar stammen sicher auch von Geländewagen, denn in den Fünfzigeijahren hat man in diesem Gebiet nach Uran gesucht. Die meisten von diesen Spuren dürften mitbloßem Auge nicht zu erkennen sein.«
Nora lehnte sich zurück. »Aber wie sollen wir bei diesem Gewirr bloß die Anasazi-Straße erkennen?«
Holroyd grinste. »Nur Geduld. Je älter ein Weg ist, desto tiefer liegt er. Alte Straßen finden sich oft unter Sandverwehungen oder sind von der Erosion und den vielen Schritten so glatt poliert, dass sie ein ganz anderes Radioecho haben als neuere Wege mit ihren meist noch etwas scharfkantigeren Steinen.«
Er tippte weiter. »Niemand weiß, warum, aber manchmal passieren die verrücktesten Dinge, wenn man die Werte zweier Wellenlängen zusammenrechnet. Man kann sie aber auch durcheinander teilen, potenzieren und die Wurzel daraus ziehen sowie den Cosinus des Alters seiner Mutter davon abziehen.«
»Das klingt nicht allzu wissenschaftlich«, bemerkte Nora.
Holroyd grinste. »Nein, aber das ist es ja gerade, was mir an dieser Arbeit den meisten Spaß macht. Wenn Daten so versteckt sind wie die von Ihrer Straße, dann kann man sie nur mit Intuition und Kreativität zum Vorschein bringen.«
Er arbeitete konzentriert und kontinuierlich weiter, und alle paar Minuten gab es weitere Veränderungen an dem Bild, die manchmal dramatisch und manchmal eher unscheinbar waren. Als Nora Holroyd einmal eine Frage stellte, schüttelte er bloß den Kopf und runzelte nachdenklich die Stirn. Dann verschwanden auf einmal sämtliche Linien auf dem Schirm, und Holroyd tippte fluchend eine Abfolge von Befehlen ein, bis sie wieder sichtbar waren.
Die Zeit verging, und Holroyd wurde zunehmend frustrierter. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, während seine Finger immer rascher auf die Tastatur einhämmerten. Auf dem billigen Stuhl fing Noras Rücken an zu schmerzen, und sie rutschte auf der Suche nach einer bequemeren Sitzposition unruhig hin und her.
Nach einer Weile lehnte sich Holroyd mit einem leise gemurmelten Fluch zurück. »Jetzt habe ich alle mir bekannten Methoden und Tricks ausprobiert, aber die Straße will einfach nicht erscheinen.«
»Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass ich entweder Hunderte von Spuren und Wegen auf den Schirm bekomme oder überhaupt keine.« Er stand auf und ging zum Kühlschrank. »Wollen Sie auch ein Bier?«
»Gerne«, sagte Nora und sah auf die Uhr. Obwohl es bereits acht Uhr abends war, herrschte in der Wohnung noch immer eine unerträgliche Hitze.
Nachdem Holroyd Nora eine Dose Bier gereicht hatte, setzte er sich wieder hin und legte die Füße auf den Küchentisch. Unter seinen Hosenbeinen kamen bleiche, haarlose Knöchel zum Vorschein. »Haben diese Anasazi-Straßen vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches an sich? Etwas, das sie von Tier- und Reifenspuren unterscheidet?«
Nora dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf.
»Wofür wurden die Straßen denn verwendet?«
»Möglicherweise waren es gar keine wirklichen Straßen.«
Holroyd nahm die Füße vom Tisch und setzte sich wieder gerade hin. »Wie meinen Sie das?«
»Die Straßen geben uns Archäologen nach wie vor Rätsel auf. Die Anasazi kannten weder das Rad, noch hatten sie irgendwelche Lasttiere. Eigentlich hatten sie gar keine Verwendung für ein Straßen System, und wir wissen noch immer keine befriedigende Antwort auf die Frage, weshalb sie ein solches überhaupt mit großem Aufwand angelegt haben.«
»Das klingt interessant«, warf Holroyd ein.
»Wenn die Archäologen etwas nicht verstehen, dann behaupten sie meistens, dass es einem religiösen Zweck dient. Genau das sagen sie auch über die Straßen der Anasazi. Sie sollen in erster Linie Pfade für die Geister der Toten gewesen sein, auf denen diese ihren Weg zurück in die Unterwelt finden sollten.«
»Wie sehen diese Straßen eigentlich aus?«, fragte Holroyd und nahm einen Schluck von seinem Bier.
»Meistens machen sie nicht allzu viel her, so dass man sie oft nur mit Mühe erkennen kann, wenn überhaupt.«
Holroyd sah sie erwartungsvoll an. »Wie sahen diese Straßen früher einmal aus?«, fragte er.
»Sie waren exakt zehn Meter breit und mit Adobe-Ziegeln gepflastert. Auf der Großen Nördlichen Straße hat man Scherben von Keramikgefäßen gefunden, die möglicherweise rituell zerschlagen wurden, um sie dadurch zu weihen. Am Rand der Straßen gab es Schreine, die man Herraduras nennt, aber wir haben keine Ahnung, wozu sie...«
»Einen Augenblick, bitte«, unterbrach sie Holroyd. »Sie haben gerade gesagt, dass die Straßen mit Adobe-Ziegeln gepflastert seien. Woraus bestehen diese Ziegel genau?«
»Hauptsächlich aus getrocknetem Lehm.«
»Kommt dieser Lehm von einem speziellen Ort?«
»Nein, meistens nahm man Lehm oder Schlamm, der in der Nähe vorkam, rührte ihn mit Wasser an und machte Ziegel daraus, die man dann in der Sonne trocknen ließ.«
»Schade.« Der hoffnungsvolle Ton verschwand aus Holroyds Stimme ebenso rasch wie er aufgekeimt war.
»Ansonsten gibt es nicht viel über die Straßen zu sagen. Wir wissen nur, dass die Große Nördliche Straße um das Jahr 1250 aufgegeben wurde, wohl im Rahmen einer speziellen Zeremonie. Die Anasazi haben dazu große Haufen Reisig auf der Straße angezündet. Auch die Schreine am Straßenrand haben sie verbrannt, ebenso ein paar Gebäude, von denen ich eines ausgegraben habe. Es trägt den Namen Bumed Jacai, und es gibt Spekulationen, dass es eine Art Leucht- oder Signalturm gewesen sein könnte. Aber nur Gott weiß allein, wofür die Anasazi es wirklich verwendet haben.«
Holroyd beugte sich vor. »Sie haben tatsächlich Reisig auf den Straßen verbrannt?«
»Auf der Großen Nördlichen Straße auf jeden Fall, die anderen wurden bisher noch nicht untersucht.«
»Weiß man, wie groß diese Feuer waren?«
»Ziemlich groß«, antwortete Nora. »Wir haben an mehreren Stellen ausgedehnte Holzkohleschichten entdeckt.«
Holroyd knallte die Bierdose auf den Tisch und fing wieder an, auf der Tastatur herumzutippen. »Holzkohle - Kohlenstoff also -hat eine ganz ausgeprägte Radarsignatur«, erklärte er. »Selbst kleine Mengen davon verschlucken die Strahlen fast vollständig.«
Das Bild auf dem Monitor begann sich abermals zu verändern. »Worauf wir achten müssen, ist das genaue Gegenteil von dem, wonach ich bisher gesucht habe«, murmelte Holroyd. »Anstatt nach einer bestimmten Reflexion zu forschen, müssen wir schwarze Stellen finden, an denen die Radarstrahlen absorbiert werden.«
Er drückte eine letzte Taste, und Nora sah, wie das alte Bild vom Monitor verschwand. Und dann, als sich das neue quälend langsam aufbaute, erkannte sie auf einmal eine lang gezogene, dunkle Linie, die sich leicht verwischt in vielen Bögen durch die Landschaft wand. Obwohl sie an vielen Stellen unterbrochen war, war Nora sofort klar, was sie vor sich hatte.
»Bitteschön!«, sagte Holroyd, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und Nora freudestrahlend ansah.
»Ist das tatsächlich meine Straße nach Quivira?«, fragte Nora mit zitternder Stimme.
»Nein«, gab Holroyd zurück, »das ist unsere Straße nach Quivira.«