65

Nora hievte ihren Körper auf das Felsband vor der Stadt, stand auf und hastete in den Alkoven hinein. Nachdem sie über die niedrige Begrenzungsmauer gesprungen war, lief sie über den Hauptplatz in die Dunkelheit zwischen den Häuserblöcken.

Dort hielt sie an und lehnte sich schluchzend mit dem Rücken an eine Wand. Ihr Atem ging keuchend, und vom raschen Laufen hatte sie Seitenstechen. Vor dem Alkoven rauschte beständig der Regen, aber Nora glaubte noch immer den Schuss zu hören, der durch das nächtliche Tal gegellt war. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Sloane mit der Waffe in der Hand vor Bills Zelt stehen. Sloane musste Bill gefunden und ihn ermordet haben. Nora war so überwältigt von Schmerz und Verzweiflung, dass sie einen Augenblick lang sogar daran dachte, sich einfach auf den Hauptplatz zu stellen und auf Sloane zu warten, um sich ebenfalls von ihr erschießen zu lassen.

Ein Blitz zuckte über den Himmel, und der Donnerschlag, der ihm folgte, hallte laut in dem großen Hohlraum des Alkovens wider. Allein schon vom Aufenthalt in der Stadt wurde Nora übel. Es gab nur einen Ort, an dem sie noch eine Chance hatte, und das war Aragons Tunnel hinter den Kornspeichern.

Nora huschte über den Platz, wobei sie darauf achtete, möglichst wenig Spuren im Staub zu hinterlassen. Wenn sie sich in dem Tunnel versteckte, konnte sie Sloane vielleicht auflauern und ihr die Waffe entreißen...

Unentschlossen blieb Nora stehen. Was sie machte, war dumm. Sie handelte in Panik und traf falsche Entscheidungen. Nicht nur, dass sie in dem Tunnel in der Falle saß, er war außerdem voll von dem tödlichen Pilzstaub.

Wieder flammte draußen ein Blitz aus den Wolken, in dessen Licht sie Sloane mit der Pistole in der Hand gerade über dem Rand der Klippe auftauchen sah.

»Nora!«, hörte sie Sloane laut rufen. »Nora, um Gottes willen, warten Sie!«

Nora wirbelte herum und rannte los in Richtung auf die hintere Wand des Alkovens.

Ein weiterer Blitz zerriss den Nachthimmel und warf für Sekundenbruchteile ein bläuliches Licht ins Dunkel der alten Stadt. Einen Augenblick später krachte der Donner vom Himmel herab, dichtauf gefolgt von einem zweiten Geräusch: einem Schuss, der in dem Alkoven erschreckend laut widerhallte.

Nora verbarg sich in den dunkelsten Schatten und schlich, so rasch sie es wagen konnte, an der Wand entlang zu dem Abfallhaufen. Sie achtete darauf, nicht auf Blacks Abdeckplanen zu treten, und arbeitete sich in Richtung auf den ersten Turm vor, der schwarz und massiv unmittelbar vor ihr aufragte.

Als sie von hinten heranhastende Schritte hörte, versteckte sie sich hinter der Ecke des Turmes, an dem noch die alte Pfahlleiter aus der Zeit der Anasazi lehnte. Weil das Geräusch im Alkoven gespenstisch widerhallte, konnte Nora nicht sagen, aus welcher Richtung es genau kam. Sie brauchte Zeit, um nachzudenken, um sich einen Plan zurechtzulegen. Jetzt, da Sloane in der Stadt war, konnte sie sich vielleicht unbemerkt zu der Strickleiter zurückschleichen, hinunter ins Tal klettern und...

Die Schritte klangen auf einmal ganz nah. Nora hörte keuchendes Atmen, und dann sah sie Sloane um die Vorderseite des Turmes biegen.

Voller Verzweiflung schaute sich Nora nach einer Fluchtmöglichkeit um: Da war der Abfallhaufen, dort der schmale Durchgang, der zu Aragons Tunnel führte, und auf der andere Seite der Pfad hinaus auf den Felssims hoch über dem Tal. Alle drei Richtungen waren Sackgassen, in denen Sloane sie irgendwann einholen würde. Langsam drehte Nora sich um und wartete schicksalsergeben auf das, was jetzt unweigerlich kommen musste: das Knallen des Schusses, der stechende Schmerz und schließlich das Ende.

Aber Sloane hatte es gar nicht auf sie abgesehen. Sie ging am Rand des Turmes in die Hocke und spähte vorsichtig um die Ecke. Die linke Hand hatte sie flach auf die schwer atmende Brust gepresst, die rechte hielt die Pistole, die nicht auf Nora, sondern hinaus in die Dunkelheit des Platzes gerichtet war.

»Nora, hören Sie mir zu«, keuchte Sloane. »Etwas verfolgt uns.«

»Etwas?«, wiederholte Nora.

»Etwas Schreckliches.«

Nora starrte Sloane an. Was ist das jetzt wieder für ein Trick?, fragte sie sich. Selbst im blassen Licht des Mondes konnte sie in Sloanes mandelförmigen Augen eine Mischung aus Angst, Erstaunen und aufkeimender Panik erkennen.

»Ich flehe Sie an, schauen Sie nach hinten!«, bat Sloane, während sie sich wieder abwandte.

Sloanes eindringlicher Ton ließ Nora tun, was von ihr verlangt wurde. Ihr Mund war auf einmal wie ausgetrocknet.

»Nora, bitte, Sie müssen mich anhören«, flüsterte Sloane, wobei sie sich bemühte, gleichmäßiger zu atmen. »Swire und Bonarotti sind verschwunden. Ich fürchte, dass wir als Einzige noch übrig sind. Und jetzt sind wir dran.«

»Wovon reden Sie denn überhaupt?«, fragte Nora. Doch während ihr die Worte noch über die Lippen kamen, wusste sie die Antwort eigentlich schon.

»Eine grauenvolle Kreatur ist hinter mir her«, keuchte Sloane. »Sie hat rote, glühende Augen und einen Pelz. Ich habe sie angeschossen, aber das scheint ihr nichts ausgemacht zu haben. Wenn wir uns jetzt trennen, sind wir verloren. Nur gemeinsam haben wir eine Chance.«

Nora starrte in die Dunkelheit hinter dem Abfallhaufen. Sie durfte sich von ihrer Angst jetzt nicht lahmen lassen. Obwohl ihr bewusst war, dass die Frau neben ihr nicht nur für das Scheitern der Expedition verantwortlich war, sondern auch Aragon und Smithback auf dem Gewissen hatte, musste sie ihr Recht geben. Mehr als vor Sloane hatte sie Angst vor den grässlichen Gestalten, die sie im alten Ranchhaus ihrer Familie überfallen hatten und die nun jeden Moment hier auftauchen konnten.

Die Stadt bot viele Möglichkeiten, sich zu verstecken, aber über kurz oder lang würde die Kreatur sie überall aufstöbern. Was sie brauchten, war ein Ort, an dem Sloane und sie sich zumindest bis Tagesanbruch verteidigen konnten. War es erst einmal hell, würden die Karten neu gemischt...

In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass ihr und Sloane eigentlich nur noch ein Ausweg blieb. »Wir verschanzen uns im Turm!«, sagte sie.

Sloane drehte sich zu ihr um und nickte.

So schnell sie konnte, krabbelte Nora die Stableiter hinauf auf das Dach des an den Turm angrenzenden Hauses. Sloane folgte ihr und warf die Leiter, als sie oben ankam, mit einem Fußtritt um. Hintereinander hasteten die beiden Frauen durch einen niedrigen, halb verfallenen Eingang in den stockdunklen, leicht schief stehenden Turm hinein.

Dort hielt Nora inne, holte ihre Taschenlampe aus der Hosentasche und leuchtete nach oben. Beim Anblick der auf schmalen Simsen stehenden Pfahlleitern bekam sie es mit der Angst zu tun. Um dort hinaufzusteigen, musste man einen Fuß auf kleine, aus der Turmwand ragende Steine stellen und den anderen in die Kerben der Pfahlleitern. Es führten nacheinander drei in die Höhe. Sie waren von ihren Erbauern absichtlich so konstruiert worden, um den Aufstieg so beschwerlich wie möglich zu machen.

Wenn sie und Sloane es tatsächlich bis hinauf in den kleinen Raum unter dem Dach des Turmes schaffen sollten, konnten sie sich vielleicht gegen die Skinwalker verteidigen. Sloane hatte eine Pistole, und mit etwas Glück würden sie dort oben einen Haufen Steine finden, den die Anasazi zu Zwecken der Verteidigung angelegt hatten.

»Na los, rauf mit Ihnen!«, drängte Sloane.

Nora überprüfte ihre Taschenlampe. Die Batterien wurden schon schwach, aber sie hatte keine andere Wahl, als sie angeschaltet zu lassen, denn ohne die Leitern genauer zu sehen, würden sie es niemals bis hinauf in den Turm schaffen. Sie ließ die Lampe in die Brusttasche ihres Hemdes gleiten und nach oben herausleuchten. Dann überprüfte sie die Stabilität der ersten Pfahlleiter, holte tief Luft und stellte einen Fuß in die unterste Kerbe. Mit weit gespreizten Beinen arbeitete sie sich, so schnell sie es wagte, nach oben. Feiner Holzstaub rieselte aus dem von Trockenfäule angegriffenen Pfahl, der bedenklich zu knarzen begann, als Sloane ihr in kurzem Abstand folgte.

Ais sie den ersten Sims erreicht hatten, hielt Nora inne, um Luft zu schöpfen. Während sie keuchend auf dem schmalen Steinband kauerte, hörte sie außerhalb des Turmes ein Geräusch wie von einer Leiter, die gegen eine Lehmziegelwand gelehnt wird.

Ohne weiter Zeit zu verlieren, begann Nora damit, den zweiten Pfahl hinaufzuklettern, der knackte und knirschte und einen noch morscheren Eindruck als der erste machte. Nach Atem ringend und leise schluchzend, erreichte sie den zweiten Sims. Von unten hörte sie das Geräusch von Schritten. Eine dunkle Form schob sich vor das Viereck aus schwachem Mondlicht, das den Eingang zum Turm markierte. Sloane, die ebenfalls gerade am Sims ankam, stieß einen leisen Fluch aus.

Einen Augenblick lang war Nora unfähig, sich zu bewegen, aber ein in dem engen Raum ohrenbetäubend lauter Schuss aus Sloanes Pistole löste ihre Erstarrung. Klopfenden Herzens richtete Nora den Strahl ihrer Taschenlampe nach unten. Die Gestalt stieg mit raschen, sicheren Bewegungen bereits die erste Leiter hinauf.

»Sparen Sie sich Ihre Munition auf, bis wir oben sind!«, rief Nora und drängte Sloane auf die dritte und letzte Leiter.

»Was haben Sie vor?«, flüsterte Sloane.

Nora schob sie lediglich weiter die Leiter hinauf und trat, nachdem sie sich auf dem Sims, so gut es ging, ausbalanciert hatte, mit einem Fuß gegen den Pfahl der zweiten Leiter. Sie spürte, wie das alte Holz erzitterte, und verpasste ihm einen zweiten und einen dritten Tritt. Unter sich hörte sie die kratzenden Geräusche, mit denen die Kreatur nach oben kletterte. Nora nahm alle ihre Kraft zusammen und trat noch einmal gegen den Leiterpfahl, der knirschend nachgab und zur Seite stürzte. Nora vernahm einen gedämpften Schrei und sah im schwachen Schein ihrer Taschenlampe, wie der Skinwalker abrutschte und nach unten stürzte. Im Fallen griff er katzengleich nach einem Vorsprang in der Mauer und hielt sich dort einen Augenblick fest, bevor er sich wieder zurück auf den jetzt schräg stehenden Pfahl schwang und weiter nach oben zu klettern begann. Nora trat noch einmal dagegen, doch der Pfahl hatte sich in der Mauer verklemmt und bewegte sich nicht mehr.

Mit schmerzenden Armen und Beinen tastete sich Nora die dritte Leiter hinauf zu dem Loch, durch das man in den oberen Turmraum gelangte. Sloane streckte ihr schon die Hand entgegen, um ihr nach oben zu helfen.

Nora kauerte sich unter der niedrigen Decke zusammen und sah sich in dem kleinen, vielleicht eineinhalb auf zwei Meter messenden Raum um. Über ihrem Kopf führte ein kleines Schlupfloch hinauf auf das Dach der Turmes. An einer der Wände lag ein verfallenes menschliches Skelett, doch zu Noras Enttäuschung gab es weder Steine noch andere Wurfgeschosse.

Das Einzige, was ihnen blieb, war Sloanes Pistole.

Nora nahm ihre Taschenlampe und leuchtete damit in den dunklen Schacht des Turmes. Von unten näherten sich unaufhaltsam zwei in dem schwachen Lichtstrahl rötlich glühende Augen.

Nora zog ihren Kopf wieder aus dem Loch und schaute hinüber zu Sloane, deren Gesicht vor Anspannung und Entsetzen bleich und abgezehrt aussah. Um den Hals hing ihr noch immer die Kette mit den schimmernden Goldglimmerperlen. Nora schaltete die Taschenlampe aus und dachte nach. Da hockte sie nun zusammen mit der Frau, die zwei ihrer Freunde umgebracht hatte, in diesem winzigen Raum und musste hilflos mit ansehen, wie eine alptraumhafte Kreatur ihnen immer näher kam. Sie schüttelte den Kopf und versuchte verzweifelt, klar zu denken. »Wie viele Kugeln haben Sie noch?«, fragte sie leise.

»Drei«, flüsterte Sloane zurück.

»Passen Sie gut auf«, sagte Nora, der das Zittern in ihrer eigenen Stimme nicht entging. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wenn die Kreatur hier heraufkommt, schalte ich die Taschenlampe ein. Und dann feuern Sie. Okay?«

Sloane musste ein Husten unterdrücken. »Okay.«

»Wir werden nur Zeit für einen, höchstens zwei Schüsse haben. Zielen Sie gut.«

Vorsichtig schob Nora ihren Kopf durch das Loch im Boden des Raumes. Während sie nach unten in die Finsternis lauschte, spürte sie den kühlen Luftzug, der von der heraufkletternden Kreatur nach oben geweht wurde. Er roch nach Staub, Verfall und Purpurwinden. Das kratzende Geräusch von Krallen auf morschem Holz kam immer näher.

»Gleich ist es soweit!«, flüsterte sie Sloane zu. Sie platzierte den Zeigefinger auf dem Einschaltknopf der Taschenlampe. Einen Augenblick wartete sie noch ab, wobei sie meinte, das Schlagen ihres rasenden Herzens und das Rauschen des Blutes in ihren Adern zu hören. Dann holte sie tief Luft und knipste die Lampe an.

Da war sie, die Kreatur, beängstigend nahe, nur noch wenige Zentimeter unter ihr. Mit einem ungewollten Aufschrei nahm sie das grauenvolle Bild in sich auf: den zerzausten, blutdurchtränkten Wolfspelz, die rot glühenden Augen hinter der speckig schimmernden Ledermaske.

»Jetzt!«, schrie sie, und im gleichen Moment ging Sloanes Pistole los.

Im schwachen Licht der Taschenlampe sah Nora, wie der Skinwalker zur Seite geschleudert wurde und Fetzen seines Felles durch die Luft flogen.

»Noch mal!«, rief sie und bemühte sich, den rapide an Helligkeit verlierenden Strahl auf die zuckende Gestalt gerichtet zu halten. Ein weiterer Schuss gellte durch den Turm, gefolgt von einem gedämpften Aufjaulen der Kreatur. Kurz bevor die Lampe endgültig verlosch sah Nora noch, wie sie zusammengekrampft hinab in die Finsternis stürzte.

Nora ließ die nutzlos gewordene Taschenlampe aus der Hand fallen und lauschte nach unten. Aber sie hörte nichts: Kein ersticktes Stöhnen, kein gurgelndes Atemholen drang herauf. Es war keinerlei Bewegung zu erkennen.

»Kommen Sie!«, sagte Sloane. Sie zog Nora wieder in den niedrigen Raum und drängte sie zu dem Loch in der Decke. Nora steckte ihre Arme hindurch und stemmte sich schließlich hinauf auf das Dach des Turmes. Sie trat einen Schritt beiseite und half dann der keuchenden und hustenden Sloane nach oben.

Hier, hoch über den Ruinen von Quivira und nur wenige Meter unterhalb der rauen, rissigen Decke des Alkovens, wehte eine leichte, kühle Brise. Nora, die sich körperlich und seelisch total ausgelaugt fühlte, blieb eine Weile reglos stehen. Unterhalb des Turmdaches, das weder mit einer Mauer noch mit Zinnen bewehrt war, erstreckten sich die Häuser Quiviras im silbrig an- und abschwellenden Licht des nur sporadisch hinter vorüberziehenden Regenwolken hervorlugenden Mondes. Nora hörte das Rascheln der Pappein unten im Tal, wo Bill Smithback tot im Sanitätszelt lag.

Nach einer Weile drehte sie sich um und trat hinter Sloane, die mit nach unten gerichteter Waffe vor dem Loch im Dach kniete und hinab in die Dunkelheit starrte. Mehrere Minuten verharrten die beiden Frauen regungslos, doch kein noch so leises Geräusch drang nach oben.

Schließlich stand Sloane auf. »Es ist vorbei«, sagte sie.

Nora nickte geistesabwesend, konnte aber immer noch nicht die Augen von dem schwarzen Loch lösen. Sloane steckte die Pistole in ihren Hosenbund.

»Und was jetzt, Nora?«, fragte sie mit heiserer Stimme.

Nora blickte sie verständnislos an.

»Ich habe Ihnen soeben das Leben gerettet«, fuhr Sloane fort. »Zählt das denn gar nichts?«

Nora brachte kein Wort heraus.

»Okay, ich gebe es zu«, sagte Sloane. »Aaron und ich haben die Gewitterfront gesehen, aber in Bezug auf den Wetterbericht haben wir die Wahrheit gesagt. Sie haben mir keine andere Wahl gelassen, Nora.« Ein leiser Anflug von Wut mischte sich in ihre Stimme. »Warum mussten Sie auch das Tal verlassen? Sie wollten den ganzen Ruhm für sich einheimsen und...« Der Rest des Satzes ging in einem heftigen Hustenanfall unter.

»Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe«, fuhr Sloane mit mühsam kontrollierter Stimme fort. »Aber ich musste es tun. Es tut mir Leid, dass dabei Menschen ums Leben gekommen sind, doch es ließ sich nun mal nicht vermeiden. Sie, Nora, haben das entscheidende Unrecht begangen, indem sie diese Stadt verlassen wollten. Damit hätten Sie die Welt fast um die Entdeckung der wundervollsten Keramik gebracht, die je von Menschenhand geschaffen wurde.«

»Keramik?«, fragte Nora.

»Ja. Das Sonnen-Kiva war voll davon - es ist voll von Schwarz-auf-gelb-Goldglimmerkeramik. Das ist ein unglaublicher Schatz, Nora, von dem Sie nicht die geringste Ahnung hatten. Ich hingegen wusste genau, dass wir ihn finden würden.«

»Zumindest habe ich vorhergesagt, dass sich kein Gold in dem. Kiva befindet.«

»Das war nicht schwer. Keiner von uns hat wirklich an das Gold geglaubt, Aaron und Bonarotti einmal ausgenommen. Aber immerhin waren die alten Berichte nicht gänzlich erlogen, denn die Gefäße der Priester sahen ja golden aus. Es kann durchaus sein, dass die Legenden auf einem Übersetzungsfehler beruhen.«

Sloane rückte näher an Nora heran. »Sie wissen, wie viel diese Goldglimmerkeramik wert ist, von der bisher kein einziges intaktes Gefäß gefunden wurde. Was ja auch gar nicht möglich war, denn es ist alles hier. Hier in Quivira, Nora. Diese Keramik war der wahre Schatz der Anasazi, und sie wurde nur hier hergestellt und aufbewahrt und nirgendwo sonst. Dieser Fund - mein Fund, Nora - ist eine der bedeutendsten Antworten auf die großen Fragen der amerikanischen Archäologie.«

Als Nora die Tragweite der Entdeckung erfasste, vergaß sie einen Augenblick das Grauen und die Gefahr, denen sie gerade entronnen waren. Wenn Sloane die Wahrheit sagt, dann ist alles, was wir bisher gefunden haben, nichts als Kinderkram...

Sloane hustete abermals und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Der Aufstieg schien ihr die letzte Kraft geraubt zu haben. Sie war aschfahl im Gesicht und atmete schwer. Augenblicklich kehrte Nora aus ihren Gedanken in die Realität zurück. Die Krankheit macht sich bemerkbar, dachte sie.

»Sloane, der ganze hintere Teil der Stadt - und ganz besonders das Sonnen-Kiva - ist voll von einem stark pilzbelasteten Staub.«

Sloane runzelte die Stirn, als habe sie Nora nicht richtig verstanden. »Pilzbelasteter Staub?«

»Ja. An diesem Staub ist Peter Holroyd gestorben. Die Skinwalker nennen ihn Leichenpulver und verwenden ihn, um Menschen zu töten.«

Sloane schüttelte ungehalten den Kopf. »Was soll der Quatsch, Nora? Wollen Sie mich damit verwirren, oder was? Ich lasse mir doch von Ihnen die Entdeckung des Jahrhunderts nicht vermiesen.«

Als Nora darauf nichts erwiderte, fuhr Sloane fort: »Wollen wir nicht die Geschichte mit dem Wetterbericht und dem Gewitter für uns behalten, Nora, und uns ganz auf diesen Fund konzentrieren? Sie können sich gar nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, die Entdeckerin dieses Schatzes zu sein. Mein Name wird mit denen von Carter und Wetherill in einem Atemzug genannt werden, und zwar nicht nur deshalb, weil ich die Keramik gefunden habe. Schließlich war ich auch diejenige, die verhindert hat, dass sie schutzlos gemeingefährlichen Plünderern und Grabräubern anheim fiel.«

»Sloane«, sagte Nora langsam. »Die Skinwalker wollten das Kiva nicht ausplündern, sondern es vor uns schützen.«

Sloane brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen. »Hören Sie mir zu, Nora. Wir beide, Sie und ich, werden dieses Kiva und seinen Inhalt der Welt zum Geschenk machen.« Sie holte rasselnd Luft. »Ich bin bereit, meinen Ruhm mit Ihnen zu teilen, wenn Sie im Gegenzug die Sache mit dem Wetterbericht vergessen.«

»Hören Sie, Sloane«, begann Nora, hielt dann aber inne. »Sie verstehen nicht, was ich Ihnen sage, habe ich Recht? Es geht hier um sehr viel mehr als irgendwelchen archäologischen Nachruhm.«

Sloane starrte sie eine Weile schweigend an und zog schließlich ihre Pistole aus dem Hosenbund. »Das habe ich befürchtet, Nora«, murmelte sie. »Wie ich vorhin schon sagte: Sie lassen mir keine andere Wahl.«

»Das ist Unsinn. Sie hatten immer eine andere Wahl.«

Sloane richtete die Waffe auf Nora. »Ach ja?«, fragte sie. »Wofür würden Sie sich denn entscheiden, wenn Sie zwischen unsterblichem Ruhm und einem Leben in Schimpf und Schande wählen müssten?«

Eine Weile blickten sich die beiden Frauen schweigend an. Dann musste Sloane wieder husten, scharf und kratzend.

»Ich wollte nicht, dass es so endet«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Aber Sie haben mir soeben klar vor Augen geführt, dass, es hier heißt: Sie oder ich. Und ich habe nun mal die Waffe.«

Nora erwiderte nichts.

»Ich will, dass Sie sich jetzt umdrehen und an den Rand des Daches treten.«

Sloanes Stimme hatte einen unnatürlich ruhigen Tonfall angenommen, ihre bernsteinfarbenen Augen sahen im Licht des Mondes hart und trocken aus.

Nora nahm den Blick nicht von Sloane und trat einen Schritt zurück.

»Ich habe nur noch eine Kugel«, erklärte Sloane. »Aber mehr werde ich auch nicht brauchen, wenn es so weit kommen sollte. Also drehen Sie sich jetzt um, Nora. Bitte!«

Nora tat, was Sloane von ihr verlangte. Vor ihr lag der nächtliche Canon wie ein breiter, finsterer Fluss. Undeutlich konnte sie im Mondlicht die violett schimmernde Felswand auf der anderen Seite erkennen. Sie wusste, dass sie jetzt eigentlich Angst, Bedauern und Verzweiflung verspüren sollte, aber das Einzige, was sie fühlte, war eiskalter Hass auf Sloane und ihren erbärmlichen, fehlgeleiteten Ehrgeiz. Eine Kugel, dachte sie und machte sich bereit, sich kurz vor dem Schuss zur Seite zu werfen.

Sloane trat hinter sie. »Na los, springen Sie schon«, sagte sie.

Doch Nora rührte sich nicht. Sie horchte hinaus in die Nacht. Das Gewitter war vorüber, und aus dem Tal drangen das Quaken der Frösche und das Surren der nächtlichen Insekten herauf.

»Ich würde Sie lieber nicht erschießen«, hörte sie Sloane sagen. »Aber wenn Sie mich dazu zwingen, muss ich es tun.«

»Sie sind ein mieses Miststück, Sloane Goddard«, fauchte Nora. »Ich hoffe, dass Gott Sie dafür strafen wird, dass Sie Enrique Aragon und Bill Smithback umgebracht haben!«

»Smithback!« Der Ton in Sloanes Stimme klang so erstaunt, dass Nora sich unwillkürlich zu ihr umdrehte. Und da sah sie etwas, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ: Aus dem Loch im Turmdach kroch eine dunkle, zerzauste Gestalt mit bemalten Armen und einem zottigen Wolfspelz, der zwischen Brust und Bauch voller Blut war.

Nora schrie auf, und Sloane wirbelte herum, gerade als sich das Wesen mit einem hasserfüllten Knurren auf sie stürzte. Im Mondlicht blitzten fast gleichzeitig das Metall der Pistole und die Klinge eines Steinmessers auf, und schon wälzten sich Sloane und die Kreatur im Staub. Nora ließ sich auf die Knie fallen und krabbelte auf allen vieren vom Dachrand weg. Im gnadenlosen Licht des Mondes sah sie, wie die Gestalt ihr schreckliches schwarzes Messer wieder und immer wieder in Sloanes Brust und Kehle stieß. Sloane schrie mit schrill kreischender Stimme und schlug wild um sich. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung gelang es ihr, sich halb aufzurichten und die Waffe auf die Kreatur zu richten und abzudrücken. Die Kugel traf die Klinge des Messers, die in tausend Obsidian-Splitter zersprang. Mit einem wütenden Aufschrei warf sich die dunkle Gestalt mit ihrem vollen Gewicht auf Sloane, wodurch beide den Halt verloren und inmitten einer dichten Staubwolke über den Rand des Turmes rutschten.

Entsetzt beobachtete Nora, wie die beiden ineinander verkrallten Körper auf der Begrenzungsmauer aufschlugen und von dort aus weiter ins Tal stürzten. Bevor sich der Mond wieder hinter einer dunklen Wolke verbarg, fiel sein Licht einen Moment auf Sloanes Pistole, die um die eigene Achse wirbelnd in der Dunkelheit verschwand.

Zitternd vor Aufregung legte sich Nora auf den Rücken und schnappte nach Luft.

Sloanes Schüsse hatten den Skinwalker also nicht getötet. Er war leise den Turm heraufgestiegen und hatte in dem kleinen Raum unter dem Dach auf seine Chance gewartet. Jetzt waren sie beide tot, der Skinwalker und Sloane, und das Grauen hatte ein Ende.

Dankbar stand Nora auf und ging zu dem Loch im Dach, als sie eine plötzliche Erkenntnis traf wie ein Keulenschlag: Es waren zwei in Pelze gehüllte Gestalten gewesen, die sie vor knapp drei Wochen in dem verlassenen Ranchhaus angegriffen hatten. Und das konnte nur eines bedeuten:

Irgendwo im. nächtlichen Tal von Quivira musste noch ein weiterer Skinwalker herumschleichen.