29
Der erste volle Arbeitstag in Quivira war außerordentlich erfolgreich verlaufen. Die Teilnehmer der Expedition hatten sich mit einer Professionalität ans Werk gemacht, die Nora ebenso beeindruckt wie erfreut hatte. Besonders Black, der sofort mit der Untersuchung der Abfallhaufen begonnen hatte, war seinem Ruf als hervorragender Feldarchäologe vollauf gerecht geworden. Holroyd hatte mit bemerkenswerter Geschwindigkeit ein Funknetz auf die Beine gestellt, über das sämtliche Teilnehmer drahtlos miteinander kommunizieren konnten, ganz egal, wo in der Stadt sie sich gerade aufhielten. Quivira schien auf alle, ob Profi oder Amateur, eine ganz spezielle, fast magische Faszination auszuüben. Als die Expeditionsmitglieder dann am Abend rings ums Feuer saßen, war die Unterhaltung immer wieder ins Stocken geraten. Alle Augen waren wie auf ein unsichtbares Kommando hinauf zu der dunklen Wand des Canons gewandert, in der sich hoch oben die verborgene Stadt befand. Als der folgende Vormittag langsam zu Ende ging und sich die schwüle Frühsommerhitze über den Canon legte, herrschte im schattigen Alkoven von Quivira noch angenehme Kühle. Holroyd war hinauf zu seiner Funkstation geklettert, hatte mit dem Institut Kontakt aufgenommen und war ohne Probleme über die Strickleitern wieder nach unten gelangt. Nun widmete er sich seiner anderen Aufgabe, die darin bestand, die Häuserkomplexe von Quivira mit dem Protonenmagnetometer zu untersuchen. Danach wollte er mit dem GPS die genauen Koordinaten der Ausgrabungsstätte festlegen.
Nora hockte in der Nähe der Strickleiter auf der Mauer am Rand des Alkovens und öffnete erwartungsvoll ihr Lunchpaket, das Bonarotti für sie und die anderen über den Flaschenzug heraufgeschickt hatte. Es bestand aus einem dicken Stück Port-Salut-Käse, vier großen Scheiben Parmaschinken und köstlich duftendem Brot, das Bonarotti in seinem großen Bratentopf nach dem Frühstück gebacken hatte. Nora aß rasch und ohne großes Zeremoniell und trank dazu Wasser aus ihrer Feldflasche. Als Leiterin der Expedition fiel ihr die Aufgabe zu, die gesammelten Daten über die Stadt und ihre Artefakte genau zu katalogisieren, und am Nachmittag wollte sie nachsehen, was die anderen inzwischen Neues gefunden hatten.
Als sie mit dem Essen fertig war, begab sie sich zum großen vorderen Platz der Ruinenstätte. Hier, unterhalb des Planetariums, waren Black und Smithback mit der Untersuchung der Müllhalde beschäftigt, die aus einem großen Haufen staubiger, mit zerbrochenen Tierknochen, Holzkohle und Tonscherben versetzter Erde bestand. Als Nora näher kam, sah sie Smithbacks Kopf aus einem Graben hinten am Haufen herausragen. Der Journalist machte nicht gerade einen glücklichen Eindruck. Sein Gesicht war schmutzig, und seine Stirnlocke schwang im Takt der Schaufelbewegungen hin und her. Ungewollt musste Nora lächeln. Obwohl sie es Smithback gegenüber nie zugegeben hätte, hatte sie begonnen, in seinem Buch herumzuschmökern, und musste sich eingestehen, dass eine Art beängstigender Faszination davon ausging. Etwas merkwürdig kam es ihr allerdings vor, dass Smithback auf wundersame Weise all die Heldentaten, die er in seinem Buch beschrieb, stets persönlich miterlebt hatte.
Blacks Stimme hallte von den Wänden des Alkovens wider. »Sind Sie denn mit Planquadrat F eins immer noch nicht fertig, Bill?«
»Schieben Sie sich Ihr F eins sonst wo hin«, murmelte Smithback.
Black tauchte, in einer Hand eine Schaufel, in der anderen einen Staubwedel, hinter dem Abfallhaufen auf und schien bester Laune zu sein. »Nora«, sagte er lächelnd, »das wird Sie interessieren. Wir haben hier eine kulturelle Sequenz vor uns, die klarer ist als alles, was seit Kidders Ausgrabungen am Rio Pecos je gefunden wurde. Und das bereits bei der Kontrollgrabung, die wir gestern durchgeführt haben. Jetzt sind wir gerade dabei, uns die ersten Planquadrate der Testgrabung anzusehen.«
»Der Mann sagt immer >wir<«, bemerkte Smithback und stützte sich auf seine Schaufel. Dann streckte er eine zitternde Hand in Richtung Nora aus und flehte theatralisch: »Um der Güte Gottes willen, habt Ihr nicht einen Schluck Wasser für einen armen, verdurstenden Sünder?«
Nora reichte ihm ihre Feldflasche, und Smithback nahm einen tiefen Zug. »Der Mann ist ein echter Sklaventreiber«, sagte er, während er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte. »Beim Bau der Pyramiden kann es nicht schlimmer zugegangen sein. Ich möchte auf einen anderen Posten versetzt werden.«
»Als Sie sich für diese Expedition gemeldet haben, hat man Ihnen gesagt, dass dazu auch Schaufelarbeit gehört«, erwiderte Nora und ließ sich ihre Feldflasche reichen. »Und außerdem gibt es doch nichts Besseres für einen Journalisten, als mittendrin im Geschehen zu sein. Ich dachte immer, im Dreck zu wühlen gehört zu Ihrem Job.«
»Auch du, mein Sohn Brutus?«, fragte Smithback seufzend.
»Kommen Sie und sehen Sie sich an, was wir schon alles geschafft haben«, sagte Black und geleitete Nora zu einem schmalen Graben, der den Abfallhaufen präzise durchschnitt.
»Ist das die Kontrollgrabung?«, wollte Nora wissen.
»Ja«, erwiderte Black. »Ein wunderschönes Bodenprofil, finden Sie nicht auch?«
»Es ist perfekt«, antwortete Nora, die tatsächlich noch nie so saubere Arbeit gesehen hatte, von den zu Tage geförderten Ergebnissen ganz zu schweigen. Black und Smithback hatten Dutzende verschiedener, braun, grau und schwarz gefärbter Schichten freigelegt, anhand derer man genau nachvollziehen konnte, woraus sich die Müllhalde im Lauf der Zeit aufgebaut hatte. Die einzelnen Schichten hatte Black mit nummerierten Fähnchen markiert, weitere kleinere Fähnchen bezeichneten die Stellen, an denen er Proben entnommen hatte. Neben der Grabung lagen ordentlich nebeneinander aufgereiht Dutzende von Plastikbeuteln und Glasröhrchen, in denen Nora Samenkörner, Knochensplitter und Holzkohlenstückchen erkennen konnte. In der Nähe hatte Black ein tragbares Wasserflotationslabor sowie ein Stereomikroskop aufgebaut, um vor Ort Pollen, Samenkörner und menschliche Haare untersuchen zu können. Daneben stand ein kleiner Papierchromatograph, mit dem man in Flüssigkeiten gelöste Substanzen analysieren konnte. Black leistete hoch professionelle Arbeit, und das mit bemerkenswerter Schnelligkeit und Sicherheit.
»Eine Sequenz wie aus dem Lehrbuch«, sagte der Geochronologe. »Ganz oben haben wir eine Schicht aus der Pueblo-III-Zeit, in der sich auch Scherben von Keramik im Ritzdekor und Rotware befinden. Darunter ist eine Schicht aus der Epoche von Pueblo II. Der Abfallhaufen dürfte nicht älter als tausend Jahre sein. Ich würde ihn etwa auf das Jahr neunhundertfünfzig nach Christi Geburt datieren.«
»Das ist ja die Zeit, in der die Anasazi auch den Chaco Canon im großen Stil ausgebaut haben«, meinte Nora.
»Ganz genau«, bestätigte Black. »Unter dieser Schicht« - er deutete auf eine dünne Lage brauner Erde - »haben wir sterilen Boden.«
»Das heißt, dass die Stadt rasch gebaut wurde«, sagte Nora.
»Richtig. Aber nun möchte ich Ihnen etwas zeigen.« Black öffnete einen der Plastikbeutel und ließ vorsichtig drei Tonscherben auf ein Stück Filz gleiten, das er auf der Erde ausgebreitet hatte. Die kleinen Bruchstücke schimmerten im Licht der Mittagssonne.
Nora atmete scharf ein. »Schwarz auf gelbe Goldglimmerkeramik«, murmelte sie. »Wunderschön.«
Black zog eine Augenbraue in die Höhe. »Jetzt sagen Sie bloß, dass Sie so etwas schon einmal gesehen haben. Diese Scherben gehören zu den Seltensten der Seltenen.«
»Ja, doch. Bei meiner Ausgrabung am Rio Puerco haben wir eine einzige Scherbe gefunden, die allerdings stark verwittert war. Meines Wissens wurde noch nie ein intaktes Gefäß dieser Keramik entdeckt.« Dass Black bereits bei seiner ersten Grabung auf drei dieser seltenen Scherben gestoßen war, bewies einmal mehr die Außergewöhnlichkeit von Quivira.
»Ich selbst habe noch nie solche Scherben in situ zu Gesicht bekommen«, sagte Black. »Das Zeug ist fantastisch. Hat es eigentlich schon mal jemand datiert?«
»Nein. Bisher sind ja auch nur zwei Dutzend davon gefunden worden, und alle so verstreut, dass man sie zeitlich nicht einordnen konnte. Aber wer weiß, vielleicht entdecken Sie ja hier genügend, um eine Datierung vornehmen zu können.«
»Ja, vielleicht«, meinte Black und steckte die Scherben mit Hilfe einer großen, an ihren Spitzen mit Gummi überzogenen Pinzette wieder zurück in den Plastikbeutel. »Und jetzt sehen Sie sich einmal das hier an.« Er ging vor dem Bodenprofil in die Hocke und deutete mit seiner Handschaufel auf eine Serie von abwechselnd dunklen und hellen Schichten, die alle eine große Anzahl Tonscherben enthielten. »Ganz offenbar hatte die Stadt nicht immer dieselbe Bewohnerzahl. Die meiste Zeit des Jahres über dürften hier relativ wenige Menschen gelebt haben. Ich würde sagen fünfzig, mehr bestimmt nicht. Im Sommer aber wuchs die Anzahl der Einwohner drastisch an, was den Schluss nahe legt, dass Quivira möglicherweise eine Pilgerstätte war, die an ihrer Bedeutung Chaco Canon bei weitem übertraf. Das lässt sich anhand der zerbrochenen Gefäße und der Asche aus den Herden klar erkennen.«
Eine Pilgerstätte, dachte Nora. Das klang ganz wie Aragons Theorie von einer Stadt der Priester, die Black so vehement abgelehnt hatte. Nora beschloss, Black nicht auf diesen Widerspruch hinzuweisen. »Woher wissen Sie, dass die Pilger im Sommer kamen?«
»Durch die Zählung der Blütenpollen«, antwortete Black. »Aber das ist noch nicht alles. Wie ich ja bereits sagte: Wir haben mit der Testgrabung erst angefangen. Dennoch ist schon jetzt klar, dass der Abfallhaufen in zwei Teile getrennt war.«
Nora sah ihn neugierig an. »In zwei Teile getrennt?«
»Ja. Im hinteren Teil des Haufens finden sich Bruchstücke von sehr schön bemalter Keramik und jede Menge Truthahn-, Hirsch-, Wapiti- und Bärenknochen. Außerdem gibt es dort Pfeilspitzen und Tonperlen, während wir im vorderen Teil bisher nur auf Scherben ganz einfacher, krude gefertigter Ritzdekorkeramik gestoßen sind. Auch die Tierknochen dort differieren stark von denen im hinteren Teil, was auf andere Ernährungsgewohnheiten schließen lässt.«
»Was für Knochen haben Sie denn im vorderen Teil gefunden?«
»Hauptsächlich die von Ratten«, antwortete Black. »Ab und zu waren aber auch ein paar Eichhörnchen- und Kojotenknochen darunter. Im Flotationslabor habe ich auch eine Menge zerdrückter Teile von Küchenschaben, Grashüpfern und Grillen isolieren können. Erste Untersuchungen unter dem Mikroskop haben ergeben, dass die meisten von ihnen geröstet waren.«
»Bedeutet das, dass die Menschen hier Insekten gegessen haben?«, fragte Nora ungläubig.
»Ganz ohne Zweifel.«
»Also ich bevorzuge mein Ungeziefer al dente«, sagte Smithback und schmatzte ekelhaft mit den Lippen.
Nora sah Black an. »Und was für Schlüsse ziehen Sie aus all diesen Funden?«
»Das ist nicht leicht, denn schließlich hat man bisher noch in keiner Ausgrabungsstätte der Anasazi etwas Vergleichbares entdeckt. Im Zusammenhang mit anderen Kulturen gilt so etwas jedoch als ein klares Indiz, dass es damals Sklaverei gegeben hat. Die Herren und die Sklaven aßen verschiedene Speisen und benutzten auch unterschiedliche Teile des Abfallhaufens.«
»Aber es gibt bisher nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass die Anasazi Sklaven hielten, Aaron.«
»Nun, jetzt haben wir einen. Entweder gab es hier in der Stadt Sklaverei oder eine Gesellschaft mit extremen Klassenunterschieden - beispielsweise eine Priesterkaste, die im Luxus lebte, und eine Unterschicht, die unter bitterer Armut litt. Für eine Mittelklasse dazwischen habe ich noch keine Beweise gefunden.«
Nora blickte auf Quivira, das am Stadtrand von der Mittagssonne beschienen wurde. Blacks Entdeckung schien alles, was man bisher über die Anasazi wusste, auf den Kopf zu stellen. »Vielleicht sollten wir noch keine voreiligen Schlüsse ziehen. Warten wir lieber, bis wir sämtliche Informationen gesammelt haben«, schlug sie vor.
»Selbstverständlich. Im Moment bin ich gerade dabei, verkohlte Samenkörner für die Kohlenstoff-14-Datierung und menschliche Haare für eine DNS-Analyse zu sammeln.«
»Apropos Samenkörner«, sagte Nora. »Wissen Sie eigentlich, dass die meisten Kornspeicher im hinteren Teil der Stadt noch voller Mais und Bohnen sind?«
Black richtete sich auf. »Nein, davon hatte ich keine Ahnung.«
»Sloane hat es mir heute früh erzählt. Das legt die Vermutung nahe, dass die Stadt im Herbst bald nach der Ernte verlassen wurde. Und zwar ziemlich rasch.«
»Sloane«, wiederholte Black beiläufig. »Sie war vor ein paar Minuten hier. Wissen Sie, was sie jetzt gerade treibt?«
Nora, die ihre Blicke über die Stadt hatte schweifen lassen, wandte sich wieder Black zu. »Sie ist wohl irgendwo in den Häusern im Zentrum. Sie wollte sehen, wie Peter mit dem Magnetometer vorankommt. Ich werde später zu ihr gehen, aber zuerst möchte ich schauen, was Aragon macht.«
Black verzog nachdenklich das Gesicht, aber anstatt Nora etwas zu erwidern, legte er Smithback die Hand auf die Schulter und sagte: »Na, was halten Sie davon, wenn Sie jetzt Planquadrat F eins fertig ausgraben, mein schaufelschwingender Freund?«
»Und wir reden hier von der Sklaverei bei den Anasazi...«, murmelte Smithback.
Nora nahm ihr Funkgerät zur Hand. »Enrique, hier spricht Nora. Können Sie mich hören?«
»Laut und deutlich«, kam nach ein paar Sekunden die Antwort.
»Wo sind Sie gerade?«
»In dem Tunnel hinter den Kornspeichern.«
»Und was tun Sie dort?«
Aragon zögerte einen Moment mit der Antwort. »Das sollten Sie sich besser selbst ansehen. Kommen Sie doch zu mir, und zwar von der Westseite her.«
Nora ging um den Abfallhaufen herum in Richtung hinterer Turm. Diese Geheimniskrämerei ist typisch für Aragon, dachte sie. Warum kann dieser Mann einem nur keine klare Antwort geben? Als sie an dem Turm vorbei war, stieß sie auf den engen Durchgang, der hinter den Kornspeichern an der Rückwand der Höhle verlief. Hier war es dunkel und kühl, die Luft roch nach Sandstein und Rauch. Der gewundene Durchgang führte zunächst an zwei Kornspeichern vorbei, bis er schließlich unter der Erde verschwand. Dieser tunnelartige Gang zählte ebenfalls zu den Besonderheiten, die es nur in Quivira gab. Seine Decke war so niedrig, dass man nur auf allen vieren vorwärts kam. Nachdem Nora ein Stück weit durch die Dunkelheit gekrochen war, sah sie vor sich Aragons Licht.
Bei ihm angelangt, bemerkte sie, dass sie sich wieder aufrichten konnte. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ ihr den Atem stocken: Aragon hockte mitten in einem riesigen Haufen von menschlichen Gebeinen, die vom Schein der Gaslaterne gespenstisch beleuchtet wurden. Er hatte sich eine Juwelierlupe in ein Auge geklemmt und hielt einen Knochen in der Hand, den er gerade mit einer Schublehre vermaß. Neben ihm lagen die - hier unnötigen - Instrumente, die man sonst braucht, um menschliche Überreste aus der sie umgebenden Erde zu lösen: Bambusspäne, Holzpflöcke, Rosshaarpinsel. Das Zischen der Gaslaterne unterbrach als einziges Geräusch die Stille.
Als Aragon Nora hörte, blickte er auf. Sein von unten beleuchtetes Gesicht kam ihr wie eine unergründliche Maske vor.
»Was ist das hier?«, fragte Nora. »Eine Art Katakombe?«
Aragon ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Erst nachdem er den Knochen vorsichtig auf einen Haufen zurückgelegt hatte, sagte er mit tonloser Stimme: »Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat, aber es ist das größte Beinhaus, das ich je gesehen habe. Ich habe gehört, dass man Ähnliches bei den Ausgrabungen steinzeitlicher Stätten in der Alten Welt gefunden hat, aber noch nie in Nordamerika und schon gar nicht in diesen Ausmaßen.«
Nora betrachtete den Knochenhaufen. Ganz oben lagen diverse komplette Skelette, darunter befand sich eine dicke Schicht durcheinander geworfener, mehrmals gebrochener Knochen, zu denen auch viele eingeschlagene Schädel zählten. In den Steinwänden an der Rückseite des Tunnels sah Nora Dutzende von Löchern, aus denen Stücke verrotteter Holzbalken ragten. »Auch ich habe so etwas noch nie gesehen«, sagte sie leise.
»Eine solche Bestattungspraxis ist bisher unbekannt«, erklärte Aragon. »Meiner Meinung nach haben wir es hier mit Knochen aus zwei verschiedenen Perioden zu tun: Die älteren, die den weitaus größeren Teil darstellen, wurden offenbar achtlos durcheinander geworfen, während die kompletten Skelette darüber aus einer jüngeren Periode stammen dürften. Ich vermute allerdings, dass auch diese nicht bestattet wurden, sondern dass man sie ziemlich hastig auf die bereits existierenden Knochenhaufen gelegt hat.«
»Haben Sie denn an den Knochen Spuren von Gewalt feststellen können?«
»Nicht an den kompletten Skeletten, die ganz oben liegen.«
»Und an den Knochen darunter?«
Aragon zögerte. »Die untersuche ich gerade«, antwortete er schließlich.
Nora spürte, wie sich ein ungutes Gefühl in ihrer Magengrube ausbreitete. Sie war zwar nicht zimperlich, aber die leichenhausartige Atmosphäre des Tunnels machte ihr zunehmend zu schaffen. »Was mag das alles nur bedeuten?«, fragte sie.
Aragon blickte auf. »Eine große Anzahl gleichzeitig bestatteter Leichen deutet meistens auf eine gemeinsame Todesursache hin«, erwiderte er. »Eine Hungersnot, eine Epidemie, ein Krieg...« Er hielt inne. »Oder darauf, dass sie geopfert wurden.«
In diesem Augenblick piepste Noras Funkgerät. »Nora, hier spricht Sloane«, kam es aus dem Lautsprecher. »Hören Sie mich?«
Nora zog das Gerät aus seinem Halfter. »Ich bin gerade bei Aragon. Was gibt's?«
»Ich habe hier etwas, das Sie sich unbedingt anschauen sollten. Könnten Sie und Aragon jetzt gleich auf den Großen Platz kommen?« Selbst über Funk war erkennbar, dass Sloanes Stimme vor mühsam unterdrückter Erregung zitterte.
Ein paar Minuten später führte Sloane sie durch eine verschachtelte Abfolge von Räumen im zweiten Stock von einem der Häuser am Stadtrand. »Peter ist hier bei einer Routineuntersuchung mit seinem Protonen-Magnetometer auf einen Hohlraum unter dem Boden gestoßen«, erklärte sie, während sie Nora und Aragon in einen großen Raum führte, der von einer Gaslaterne erleuchtet wurde. Im Gegensatz zu den meisten Räumen, die Nora bisher in Quivira gesehen hatte, war dieser seltsam leer. Holroyd stand in einer Ecke und war mit dem Magnetometer zugange, einem flachen Kasten, der unten zwei Räder hatte und an dessen Griff ein LCD-Monitor befestigt war.
Nora nickte Holroyd kurz zu, bevor sie in die Mitte des Raumes ging, wo im Boden eine kleine, mit Steinplatten eingefasste Grabmulde zu sehen war.
»Wer hat dieses Grab geöffnet?«, fragte Aragon scharf.
Nora spürte, wie auch in ihr der Ärger über diese eigenmächtige Handlungsweise aufstieg.
In der Mulde lagen zwei Skelette, die überhaupt nicht den begrabenen Anasazi ähnelten, die Nora bisher gesehen hatte. Man hatte die Skelette in die einzelnen Knochen zerlegt und in einer großen, bemalten Schale in einem kreisförmigen Arrangement übereinander geschichtet. Ganz obenauf ruhten die gebrochenen Schädel der Toten. Ursprünglich waren die Schalen wohl in Baumwolltücher eingeschlagen gewesen, die aber bis auf ein paar Fetzen völlig verrottet waren. Anhand der Stoffreste konnte Nora erkennen, dass die Tücher in einem außerordentlich feinen Muster aus grinsenden Totenschädeln und Grimassen schneidenden Gesichtern gewebt worden waren. Die Skalps der beiden Toten hatte man sorgfältig auf ihre Schädeldecken drapiert. Einer von ihnen hatte lange weiße Haare gehabt, die zu kunstvollen Zöpfen geflochten und mit eingekerbten Türkisen geschmückt waren. Die andere Leiche hatte braune Haare. Auch sie waren zu Zöpfen geflochten, deren Enden je eine große, auf Hochglanz polierte Seeschnecke zierte. Beiden Schädeln hatte man ein Loch zwischen die vordersten Schneidezähne gebohrt und darin einen roten Karneol eingesetzt.
Verwundert starrte Nora die beiden Toten an, die von einer einmaligen Fülle von Beigaben umrahmt wurden. Sie konnte unzählige Töpfe voller Salz, Türkise, Quarzkristalle, Fetische und gemahlener Pigmente erkennen, dazu zwei kleine Schalen aus Bergkristall, die bis zum Rand mit einem rötlichen Pulver angefüllt waren. Nora vermutete, dass es sich dabei um roten Ocker handeln könnte. Daneben lagen Bündel von Pfeilen, mehrere Büffel- und Hirschfelle, mumifizierte Papageien sowie wunderschön gearbeitete Gebetsstöcke. Zwischen den einzelnen Grabbeigaben hatte sich eine dicke Schicht gelben Staubs abgelagert.
»Ich habe diesen Staub unter dem Mikroskop untersucht«, sagte Sloane. »Er besteht aus den Blütenpollen von mindestens fünfzehn verschiedenen Blumenarten.«
Nora starrte sie ungläubig an. »Wieso denn Pollen?«
»Weil die Grabkammer vermutlich bis zum Rand mit Blumen voll war.«
Nora schüttelte den Kopf. »Die Anasazi haben ihre Toten nie auf diese Art und Weise bestattet. Auch diese Einlegearbeit zwischen den Schneidezähnen ist völlig untypisch.«
Aragon ließ sich so plötzlich neben dem Grab nieder, dass Nora zuerst dachte, er fiele auf die Knie, um zu beten. Aber dann beugte er 300sich nach unten und schaute sich unter dem Licht einer Taschenlampe verschiedene Knochen aus der Nähe an. Während der Lichtstrahl über die beiden glitt, sah Nora, dass einige der Knochen zerbrochen waren und andere so wirkten, als seien sie an einem Ende angesengt worden. Dann hörte sie, wie Aragon scharf Luft holte. Er richtete sich auf und hatte auf einmal einen ganz anderen Gesichtsausdruck als vorhin. »Ich möchte Sie um Erlaubnis bitten, einige dieser Knochen vorübergehend für eine Untersuchung entfernen zu dürfen«, sagte er mit kühler, förmlicher Stimme.
Dass ausgerechnet Aragon sich mit einem solchen Ersuchen an sie wandte, erstaunte Nora mehr als alle anderen. »Tun Sie das«, hörte sie sich sagen. »Aber erst, nachdem wir die Fundstätte fotografiert und ordnungsgemäß dokumentiert haben.«
»Selbstverständlich. Aber sobald das geschehen ist, würde ich gerne noch eine Probe von diesem rötlichen Pulver entnehmen.«
Aragon stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Nora blieb am Rand der Grabkammer stehen und starrte hinab auf die beiden Toten, während Sloane das Stativ für ihre Großformatkamera aufbaute und Holroyd das Magnetometer ausschaltete. Dann trat er auf Nora zu. »Unglaublich, nicht wahr?«, sagte er leise.
Nora schenkte ihm ebenso wenig Beachtung wie Sloane. Sie dachte an Aragon und wie eigenartig sein Gesicht ausgesehen hatte. Auch sie spürte, dass an diesem Grab etwas merkwürdig, seltsam, ja irgendwie falsch war. Auf gewisse Weise, dachte sie, ist das überhaupt kein Grab hier. Gut, einige Indianerstämme aus der Pueblo-IV-Epoche hatten ihre Toten verbrannt; andere hatten deren Knochen nach einiger Zeit wieder ausgegraben und in Gefäßen ein zweites Mal bestattet. Aber in keinem einzigen Grab hatte man bisher zerbrochene und angekohlte Knochen gefunden, ebenso wenig wie Blütenstaub und eine so reiche Fülle an sorgfältig angeordneten Beigaben.
»Ich bin gespannt, was Black zu diesem Grab sagen wird«, hörte sie Sloanes Stimme von hinten.
Ich glaube nicht, dass das hier ein Grab ist, dachte Nora bei sich. Mir sieht das eher nach einem Opfer aus.
Als sie hinaus auf das teilweise von der Sonne beschienene Dach des Hauses traten, legte Nora sanft eine Hand auf Sloanes Arm.
»Ich dachte, wir hätten eine Vereinbarung getroffen«, sagte sie ruhig.
Sloane drehte sich um und sah sie an. »Wie meinen Sie das?«
»Sie hätten das Grab nicht ohne vorherige Rücksprache mit mir öffnen dürfen. Das war eine eklatante Verletzung der Grundsätze, die ich für diese Grabung aufgestellt habe.«
Während Sloane Nora zuhörte, schien sich die Farbe ihrer Augen zu verdunkeln. »Dann meinen Sie also, dass das Öffnen des Grabes keine gute Idee war?«, fragte sie mit leiser Stimme, die Nora an das Schnurren einer Katze erinnerte.
»Ja, das meine ich. Bevor wir so etwas tun, müssen wir die Stadt zuallererst erkunden und katalogisieren. Außerdem sind Gräber ganz besonders sensible Fundstätten. Aber darum geht es gar nicht, das habe ich Ihnen ja schon in Petes Ruine erklärt. Wenn man eine professionelle Archäologin sein will, dann kann man nicht einfach das ausgraben, wozu man gerade Lust hat.«
»Wollen Sie damit sagen, dass ich keine professionelle Archäologin bin?«
Nora atmete tief durch. »Sie sind zumindest nicht so erfahren, wie ich dachte.«
»Ich musste dieses Grab einfach öffnen«, erwiderte Sloane unvermittelt.
»Und weshalb?«, fragte Nora, der es nicht gelang, einen sarkastischen Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen. »Haben Sie dort vielleicht nach etwas Bestimmtem gesucht?«
Sloane fing an, etwas daherzureden, hielt dann aber inne. Sie kam näher, so nahe, dass Nora die heiße Wut zu spüren glaubte, die von ihr ausstrahlte. »Sie sind genauso machtbesessen wie mein Vater, Nora Kelly«, fauchte sie. »Seit ich zu dieser Expedition gestoßen bin, haben Sie mich ständig auf dem Kieker gehabt und nur darauf gelauert, dass mir ein Fehler unterläuft. Mit dem Öffnen dieser Grabmulde habe ich nichts falsch gemacht. Das Magnetometer hat einen Hohlraum angezeigt, und alles, was ich getan habe, war, zusammen mit Holroyd eine Steinplatte aufzuheben. Ich habe nichts berührt und auch nichts beschädigt.«
Nora hatte Mühe, ihre Fassung zu bewahren. »Wenn Sie sich nicht an die Regeln halten können«, sagte sie so sachlich wie möglich, »dann werde ich Sie Aragon unterstellen. Von ihm können Sie lernen, wie man die Integrität einer Ausgrabungsstätte respektiert und den Vorgaben der Expeditionsleitung entspricht.«
»Und damit meinen Sie wohl sich selbst«, entgegnete Sloane abfällig. »Dabei musste eigentlich ich die Leiterin dieser Expedition sein. Oder haben Sie etwa schon vergessen, wer das alles hier bezahlt?«
»Nein, sicher nicht«, sagte Nora, der es gelang, trotz ihrer Wut ihre Stimme neutral zu halten. »Aber gibt es ein besseres Beispiel dafür, wie wenig Ihr Vater Ihnen vertraut?«
Einen Augenblick lang blieb Sloane sprachlos vor ihr stehen. Sie ballte die Fäuste und ihr sonnengebräuntes Gesicht wurde ganz dunkel vor Zorn. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging.
Nora sah ihr nach wie sie betont aufrecht und stolz zu der Leiter am sonnenbeschienenen Rand des Daches schritt.