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Nora lenkte ihren Pick-up durch den Frühabendverkehr und konzentrierte sich darauf, dass ihr der Highway nicht vor den Augen verschwamm. Seit ihrer Studienzeit, in der sie in nächtelangen Marathonsitzungen für ihr Examen gebüffelt hatte, war sie nicht mehr so müde gewesen. Zwar hatte ihr Holroyd am Abend zuvor angeboten, dass sie in seiner Wohnung übernachten könne, aber sie war spät nachts noch nach Santa Fe zurückgefahren. Vormittags um zehn war sie schließlich im Institut angekommen und hatte sich durch einen langen Arbeitstag gequält, zu allem Überfluss musste sie auch noch die Schlussbeurteilungen für ihre Studenten schreiben. Immer wieder waren ihre Gedanken dabei zu ihrer geplanten Expedition in die verborgene Stadt Quivira abgeschweift. Dabei war ihr klar geworden, dass sie sich trotz ihrer Entdeckung der Anasazi-Straße nicht noch einmal an Blakewood wenden konnte. Die Chancen, ihn doch noch umzustimmen, standen nach wie vor äußerst schlecht. Als sie ihm nach der Mittagspause auf dem Gang begegnet war, hatte er sie nur flüchtig und unterkühlt gegrüßt.
Nora trat auf die Bremse, schaltete hinunter in den zweiten Gang und bog in die Verde Estates ab, wo sich ihre Wohnung befand. Zu ihrer Überraschung hatte Nora am späten Nachmittag einen Anruf von Emest Goddards Sekretärin erhalten und war für den nächsten Vormittag in dessen Büro gebeten worden.
Bisher hatte Nora noch nie persönlich mit dem Vorsitzenden des Verwaltungsrats zu tun gehabt und hatte sich nicht denken können, weshalb der mächtigste Mann des Instituts sie sprechen wollte. Hoffentlich ging es nicht darum, dass sie zwei Tage lang unentschuldigt gefehlt hatte und mit ihren Scherben vom Rio Puerco noch keinen Schritt vorangekommen war. Vermutlich hatte Blakewood den Vorsitzenden gebeten, dieser unbotmäßigen jungen Assistenzprofessorin einmal gehörig auf die Finger zu klopfen.
Auf der Fahrt durch die kurvigen Straßen des Wohnviertels schaltete Nora die Scheinwerfer ein. Obwohl Verde Estates auf dem Reißbrett entstanden war, hatten seine Architekten auf bemühte Anleihen beim Santa-Fe-Kolonialstil verzichtet, die man in vielen ähnlichen Neubaugebieten fand. Weil die Anlage etwas älter war, waren die größeren Obst- und Nadelbäume, die man hier gepflanzt hatte, schon ziemlich hoch gewachsen und nahmen den Gebäuden etwas von ihrer geradlinigen Strenge. Als Nora den Pick-up auf den Parkplatz lenkte, spürte sie, wie sich ein Gefühl warmer Ruhe in ihrem Körper ausbreitete. Sie hatte vor, sich eine halbe Stunde lang auszuruhen, bevor sie sich etwas Leichtes zum Essen machte, duschte und zu Bett ging. Vielleicht würde sie ja auch noch eine Weile an den Rohrblättem für ihre Oboe herumschnitzen, denn das war die Tätigkeit, bei der sie sich am besten entspannten konnte. Viele Oboisten empfanden das Anfertigen der Rohrblätter als eine lästige Pflichtübung, aber Nora hatte schon immer Freude daran gehabt. Sie zog den Zündschlüssel ab, nahm Akten- und Reisetasche und ging quer über den Parkplatz hinüber zu ihrer Wohnungstür. Im Geiste legte sie sich bereits die Dinge zurecht, die sie für das Rohrblattschneiden brauchen würde: eine Juwelierslupe, ein gutes Stück Bambus, Seidenfaden und ein Blatt Fischhaut, um undichte Löcher zu verschließen. Mr. Roehm, ihr Oberlehrer auf der Highschool, hatte das Anfertigen von Doppelrohrblättem immer mit der Herstellung von Fliegen für das Angeln verglichen: eine Kunst und eine Wissenschaft für sich, bei der man zahllose Fehler machen konnte und bei der es ständig etwas zu basteln gab.
Nachdem Nora aufgesperrt hatte und eingetreten war, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Tür und schloss erschöpft die Augen. Sie war so müde, dass sie nicht einmal mehr den Lichtschalter betätigen konnte. So stand sie eine ganze Weile im Dunkeln und hörte das tiefe Brummen des Kühlschranks und das hysterische Bellen eines Hundes in der Nachbarschaft. Merkwürdig. In ihrer Wohnung lag ein Geruch, der ihr bisher noch nie aufgefallen war. Ist schon seltsam, dachte sie, wie seltsam, dachte sie, wie fremd einem nach nur zwei Tagen die eigene Wohnung vorkommt.
Auf einmal fiel Nora auf, dass sie etwas vermisste: das vertraute Ticktack von Krallen auf dem Linoleum, das kühle Gefühl einer feuchten Hundeschnauze, die sie freundlich an ihren Fußknöchel stupste. Nora atmete tief durch, dann stieß sie sich von der Tür ab und machte Licht. Thurber, ihr zehn Jahre alter Basset, ließ sich nicht blicken.
»Thurber?«, rief Nora in die Wohnung hinein und überlegte sich kurz, ob sie wieder nach draußen gehen und dort nach ihrem Hund suchen sollte. Aber Thurber war nun einmal ein extrem häusliches Lebewesen und verließ nur im äußersten Notfall seine geliebten vier Wände.
»Thurber?«, rief sie noch einmal. Als sie ihre Aktentasche neben den Sofatisch stellte, entdeckte sie dort einen Zettel, auf dem stand: Nora, bitte ruf mich an. Skip.
Der muss wohl dringend Geld brauchen, dachte sie schmunzelnd, denn normalerweise war »bitte« für ihren Bruder ein Fremdwort. Der Zettel erklärte auch Thurbers Abwesenheit. Sie hatte Skip gebeten, sich um den Hund zu kümmern, während sie in Kalifornien war, und er hatte Thurber vermutlich mit zu sich in die Wohnung genommen, um nicht ständig hin- und herfahren zu müssen.
Nora drehte sich um und wollte schon ihre Schuhe abstreifen, überlegte es sich dann aber anders, als sie sah, wie staubig der Boden war. Ich muss hier dringend sauber machen, dachte sie, während sie zur Treppe ging.
Im Badezimmer zog sie die Bluse aus, wusch sich Gesicht und Hände, befeuchtete sich die Haare und streifte ein altes, verwaschenes Sweatshirt mit dem Aufdruck UNIVERSITY OF NEVADA - LAS VEGAS« über, das sie gerne zum Rohrblattschnitzen trug. Auf dem Weg ins Schlafzimmer blieb sie stehen und sah sich noch einmal in der Wohnung um. Sie war so rasch mit einem Urteil über Holroyds Appartement bei der Hand gewesen, das ihr in seiner unpersönlichen Kahlheit fast schon exzentrisch vorgekommen war, aber wenn sie es genau betrachtete, sah ihre eigene Wohnung auch nicht viel anders aus. Irgendwie hatte sie nie die Zeit gefunden, um sie richtig einzurichten. Wenn eine Wohnung ein Spiegel der Seele war, was sagten dann diese unordentlichen Räume über sie aus? Dass sie eine Frau war, die lieber in alten Ruinen herumstöberte als sich ihre eigenen Wände wohnlich zu gestalten? Vieles, was hier herumstand, gehörte nicht einmal ihr, denn im Gegensatz zu Skip, der lediglich die Bibliothek und die alte Pistole ihres Vaters hatte haben wollen, hatte sie eine Menge Möbel von ihren toten Eltern übernommen.
Nora schüttelte den Kopf und griff schmunzelnd nach ihrer Haarbürste auf der Kommode.
Aber die Bürste war nicht da.
Verdutzt hielt Nora einen Augenblick lang mit ausgestreckter Hand inne. Das Fehlen der Bürste war etwas Außergewöhnliches, denn als Archäologin hatte Nora sich angewöhnt, ihre Dinge möglichst in situ zu belassen. Während ihr die feuchten Haare kühl in den Nacken fielen, ging sie noch einmal im Geiste durch, was sie vor drei Tagen vormittags im Schlafzimmer gemacht hatte. Wie üblich hatte sie sich die Haare gewaschen und danach gebürstet. Und dann hatte sie die Bürste zurück auf die Kommode gelegt.
Aber jetzt war sie nicht mehr da. Nora starrte die merkwürdige, unerklärliche Lücke zwischen ihrem Kamm und der Schachtel mit den Kosmetiktüchern an. Dieser verdammte Skip, dachte sie plötzlich, aber in ihren Arger mischte sich auch Erleichterung. Weil sein eigenes Badezimmer eine einzige Schimmelkolonie war, genoss es ihr Bruder, sich heimlich bei ihr zu duschen, wenn sie nicht da war. Vermutlich hatte er auch ihre Bürste benutzt und sie dann irgendwo hingeschmissen...
Nora atmete scharf ein. Ein unbestimmtes Gefühl in der Magengrube sagte ihr, dass diese Sache nichts mit Skip zu tun hatte. Der merkwürdige Geruch, der Staub im Gang, das Gefühl, dass ihre Sachen nicht am richtigen Platz waren... Sie wirbelte herum und hielt nach weiteren Dingen Ausschau, die nicht in Ordnung waren, aber alles schien an seinem gewohnten Platz zu sein.
Und dann hörte sie auf einmal ein leises, kratzendes Geräusch von draußen. Sie sah zu den Fenstern, aber die reflektierten nur das helle Innere der Wohnung. Nora schaltete das Licht aus. Draußen war eine klare, mondlose Nacht, in der unzählige Sterne am samtschwarzen Wüstenhimmel funkelten. Nora hörte wieder das Kratzen, diesmal lauter als zuvor.
Mit einem Anflug von Erleichterung dachte sie, dass das Thurber sein musste, der sich an der hinteren Tür zu schaffen machte. Zu allem Überfluss hatte Skip es also auch noch fertig gebracht, den Hund auszusperren. Kopfschüttelnd ging Nora nach unten in die Küche. Sie zog den Riegel von der Tür, öffnete sie und ging automatisch in die Hocke, damit Thurber sie begrüßen konnte.
Aber der Basset war nirgends zu sehen. Der Wind blies eine kleine Staubwolke auf die Betonstufe vor der Tür, die von den Scheinwerfern eines vorbeifahrenden Autos in helles Licht getaucht wurde. Der Lichtkegel glitt die kleine Straße hinter den Häusern entlang und huschte dabei über den Rasen, einen kleinen Fichtenhain und schließlich über eine große, pelzige Gestalt, die sofort zurück in die schützende Dunkelheit sprang. Schlagartig wurde Nora klar, dass sie diese Bewegung schon einmal gesehen hatte - vor ein paar Nächten, als eine ähnliche Gestalt mit unnatürlich anmutender Schnelligkeit neben ihrem Auto hergerannt war.
Von Entsetzen gepackt taumelte Nora zurück in die Küche. Ihr Gesicht brannte heiß, und sie rang nach Luft. Dann war der Augenblick der Lähmung vorbei, und eine unbändige Wut ergriff von ihr Besitz. Sie packte die schwere Taschenlampe, die auf der Küchentheke lag und stürmte zur Tür. Auf der Schwelle blieb sie stehen und leuchtete den Garten ab, aber von der pelzigen Gestalt war nichts mehr zu sehen. Nicht einmal Fußspuren hatte sie auf der lockeren Erde vor der Küchentür hinterlassen.
»Lasst mich in Frieden, verdammt noch mal!«, schrie Nora in die schwarze Nacht hinaus, aber die einzigen Geräusche waren das verlorene Seufzen des Windes, das Bellen eines Hundes in der Feme und das Klappern der Taschenlampe in ihrer zitternden Hand.