12
Die Scheinwerfer von Noras Pick-up schnitten wie Messer aus Licht durch die Dunkelheit kurz vor Tagesanbruch und die Staubwolken, die von den Pferdekoppeln aufstiegen. Als sie das Holztor der großen Ranch vor sich auftauchen sah, steuerte sie den Wagen auf einen von vielen Reifenspuren zerfurchten Parkplatz und hielt inne. Nicht weit weg konnte sie zwei dunkle Fahrzeuge sehen: einen Pick-up-Truck und einen Lieferwagen, an deren Seiten das Emblem, des Instituts prangte. Zwei lange Pferdetransportanhänger standen an einer Koppel in der Nähe, und ein paar Ranch-Arbeiter führten im Licht starker Scheinwerfer Pferde über steile Rampen in die Anhänger hinein.
Nora trat hinaus in die frühmorgendliche Kühle und sah sich um. Es würde erst in etwa eineinhalb Stunden hell werden, aber die Venus leuchtete schon am samtschwarzen Himmel. Nora sah, dass die Fahrzeuge des Instituts leer waren, und vermutete, dass die anderen bereits am Lagerfeuer saßen, wo Goddard die Teilnehmer der Expedition miteinander bekannt machen und sich persönlich von ihnen verabschieden wollte. In einer Stunde würde die Fahrt nach Page in Arizona losgehen, das am Ufer des Lake Powell lag. Höchste Zeit, dass sich auch Nora zu den anderen begab.
Dennoch blieb sie noch einen Augenblick lang stehen. Die Luft war erfüllt von den Geräuschen ihrer Kindheit - dem Klatschen der Sattelriemen, dem Pfeifen und Rufen der Cowboys, dem Trampeln der Pferdehufe in den Transportern und dem Klappern der Gattertore. Während ihr der Geruch von brennendem Pinienholz, Pferden und Staub in die Nase stieg, begann sich ihre innere Verkrampfung langsam zu lösen. Die vergangenen drei Tage über war sie extrem vorsichtig und wachsam gewesen, hatte aber nichts Beunruhigendes entdeckt. Dennoch war ihr die Frage, wer wohl den Brief ihres Vaters eingeworfen hatte, nie ganz aus dem Kopf gegangen. Wenigstens hatte sich die Expedition erstaunlich schnell und reibungslos zusammengefunden, und dabei war nicht ein einziges Wort über das Vorhaben an die Öffentlichkeit gedrungen. Hier, weit weg von Santa Fe, hatte Nora zum ersten Mal seit längerer Zeit das Gefühl, dass sie nicht mehr ständig unter Strom stand. Wenn die Expedition erst einmal begonnen hatte, würde sie ihre seltsamen Verfolger weit hinter sich lassen.
Ein Cowboy mit einem abgewetzten Hut kam aus der Koppel und führte an jeder Hand ein Pferd hinüber zu den Transportfahrzeugen. Der Mann war nicht größer als einen Meter fünfundfünfzig, aber schlank und kräftig gebaut und hatte einen tonnenförmigen Brustkorb und kurze O-Beine. Er drehte sich um und rief den Ranch-Helfern ein paar mit Schimpfwörtern gespickte Anweisungen zu. Das muss Roscoe Swire sein, dachte Nora, der Cowboy, den Goddard für die Expedition angeheuert hat. Es kam ihr vor, als würde Swire sein Geschäft verstehen, aber sie musste auch an einen Ausspruch ihres Vaters denken: »Was ein Cowboy wert ist, weißt du erst, wenn du ihn reiten gesehen hast.« Abermals ärgerte sich Nora über die Art, wie selbstherrlich Goddard darauf bestanden hatte, das Personal bis hin zum Expeditionscowboy höchstpersönlich anzuheuern. Wer zahlt, schafft an, dachte sie.
Nora holte ihren Sattel von der Ladefläche des Pick-ups und trat auf den Cowboy zu. »Sie sind Roscoe Swire?«, fragte sie.
Er drehte sich zu ihr um und zog mit einer Geste, die höflich und ironisch zugleich war, seinen Hut. »Zu Ihren Diensten«, sagte er mit einer für einen so kleinen Mann erstaunlich tiefen Stimme. Swire hatte einen buschigen Schnurrbart, fleischige Lippen und trotz seiner großen, traurigen Augen, die Nora irgendwie an die einer Kuh erinnerten, etwas Kampflustiges, ja fast Aufsässiges an sich.
»Ich bin Nora Kelly«, stellte sie sich vor und drückte ihm die kleine Hand. Sie war rau und schwielig. Nora hatte das Gefühl, einen Wetzstein anzufassen.
»Dann sind Sie ja der Boss von dem Ganzen hier«, sagte Swire grinsend. »Angenehm.« Er warf einen Blick auf Noras Sattel. »Wo haben Sie den her?«
»Der gehört mir. Ich dachte, dass Sie ihn vielleicht in einem der Pferdeanhänger verstauen könnten.«
Swire setzte sich bedächtig seinen Hut wieder auf. »Der sieht so aus, als hätte er schon ganz schön was mitgemacht.«
»Ich besitze ihn seit meinem sechzehnten Lebensjahr.«
Swire lächelte wieder. »Sieh mal einer an: eine Archäologin, die reiten kann.«
»Ich kann auch Packpferde beladen und ziemlich gut mit dem Lasso umgehen«, erklärte Nora.
Swire holte ein Stück Kautabak aus seiner Hosentasche und schob es sich in den Mund. »Bescheidenheit ist wohl nicht gerade Ihr Ding«, bemerkte er, während er schon zu kauen begann. Dann besah er sich den Sattel genauer. »Ein schönes Stück. Ein Dreiviertel-Single-Rig. Kommt wohl aus der Valle-Gande-Sattlerei, oder? Wenn Sie den jemals verkaufen wollen, lassen Sie es mich wissen.«
Nora lachte.
»Die anderen sind gerade hinauf zur Feuerstelle gegangen. Was sind das für Leute? Ein Haufen New Yorker auf Urlaub oder was?«
»Die meisten von ihnen kenne ich selber nicht«, antwortete Nora, der Swires sarkastische Art gefiel. »Wir sind eine gemischte Gruppe. Manche Leute glauben, dass alle Archäologen so wie Indiana Jones sein müssten, aber mir sind schon eine ganze Menge untergekommen, die sich nicht einmal dann auf einem Pferd halten könnten, wenn es um ihr Leben ginge. Es hängt ganz davon ab, welche Art von Feldforschung sie bisher gemacht haben. Viele von ihnen trauen sich nur selten aus ihren Vorlesungssälen oder Labors heraus, und deshalb möchte ich wetten, dass wir es am ersten Tag mit einer ganzen Reihe wund gerittener Hinterteile zu tun bekommen werden.« Nora dachte dabei an Holroyd und an Sloane Goddard, das Mädchen aus der besseren Gesellschaft. Auch von den anderen wusste sie nicht, wie sie sich im Sattel machen würden.
»Das ist gut«, sagte Swire. »Ohne wunden Hintern macht das Reiten nur halb so viel Spaß.« Er kaute auf seinem Priem herum und deutete nach links in Richtung auf ein kleines Pinienwäldchen. »Die Feuerstelle ist da oben.«
Nora folgte einem kleinen Weg zwischen Wacholderbüschen und Pinien und sah bald den Schein des Feuers zwischen den Bäumen hervorleuchten. Dicke Stücke mächtiger Goldkiefernstämme lagen in drei hintereinander gestaffelten Ringen um die Feuerstelle herum, die sich am Fuß einer hohen, überhängenden Felswand befand. Hier und da war der Eingang zu einer Höhle zu erkennen. Der Flammenschein spielte flackernd über den Sandstein und tauchte ihn in ein warmes, orangefarbenes Licht. Sich vor einer längeren Reise im Kreis um ein Feuer zu versammeln war eine alte Tradition der Pueblo-Indianer, und nachdem sie erlebt hatte, wie pietätvoll Goddard mit den Mimbres- Schalen umgegangen war, erstaunte es Nora nicht allzu sehr, dass er diese Abschiedszeremonie vorgeschlagen hatte. Sie war ein weiterer Beweis für Goddards Achtung vor der indianischen Kultur.
Als Nora in den Lichtkreis des Feuers trat, sah sie, dass bereits mehrere Menschen auf den Baumstämmen saßen und sich leise miteinander unterhielten. Aaron Black, den Geochronologen von der University of Pennsylvania, erkannte sie auf Anhieb an seiner imposanten Gestalt: Black maß fast zwei Meter und hatte einen breiten Schädel und riesige Hände. Der Eindruck von körperlicher Größe wurde durch seine kerzengerade Haltung noch unterstützt, und sein ständig ein wenig vorgestrecktes Kinn ließ ihn irgendwie wichtigtuerisch erscheinen.
Als Wissenschaftler hatte Black einen hervorragenden Ruf, und Nora hatte auf Fachkongressen des Öfteren miterlebt, wie er mit einem brillanten Vortrag die falsche Datierung einer Ausgrabungsstätte schier in der Luft zerrissen hatte. Das machte ihn bei seinen Kollegen zwar nicht gerade beliebt, aber Black genoss seine Rolle als gnadenloser Vernichter falscher Theorien. In Fachkreisen galt er deshalb als gleichermaßen begehrter wie gefürchteter Meister der archäologischen Datierung, von dem man sagte, dass ihm noch nie ein Fehler unterlaufen sei. Sein arroganter Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass auch er selbst diese Meinung teilte.
»Hallo, Dr. Black«, grüßte Nora und trat auf ihn zu. »Ich bin Nora Kelly.«
»Oh«, sagte Black, während er aufstand und Nora die Hand gab. »Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Dabei sah er ein wenig verlegen aus. Vielleicht passt es ihm ja nicht, unter einer Frau zu arbeiten, dachte Nora. Anstatt der Fliege und des Leinenjacketts, die auf Archäologie-Kongressen seine Markenzeichen waren, trug Black nun einen nagelneuen Wüstenanzug, der aussah, als käme er direkt aus dem Katalog irgendeines Expeditionsausrüsters. Dem wird bestimmt als Erster der Hintern wehtun, ging es Nora durch den Kopf. Wenn er nicht schon vorher schlappmacht.
Nun kam Holroyd auf sie zu, schüttelte ihr die Hand und umarmte sie kurz und ungelenk, bevor er peinlich berührt einen Schritt zur Seite machte. Mit seinem glücklichen Gesicht und seinen hoffnungsfroh schimmernden grünen Augen erinnerte er Nora an einen Pfadfinder, der sich auf sein erstes Zeltlager freut.
»Dr. Kelly?«, tönte eine Stimme aus der Dunkelheit, während eine weitere Gestalt in den Schein des Feuers trat. Es war ein kleiner, dunkelhäutiger Mann Mitte fünfzig, der eine beunruhigende, irgendwie scharf wirkende Ausstrahlung und ein eindrucksvolles Gesicht hatte: dunkle, bräunliche Haut, schwarze zurückgekämmte Haare, verschleierte Augen und eine lange, gebogene Nase. »Ich bin Enrique Aragon.«
Als Aragon ihr die Hand gab, bemerkte Nora, dass seine Finger lang und schmal wie die einer Frau waren. Er sprach mit einer gelassenen, präzise klingenden Stimme, in der ein kaum wahrnehmbarer mexikanischer Akzent mitschwang. Auch ihn hatte Nora schon des Öfteren bei Vorträgen auf archäologischen Kongressen gesehen, wo er immer einen zurückgezogenen und abweisenden Eindruck gemacht hatte. Unter Archäologen galt Aragon, der Träger der Hrdlicka- Medaille war, als der beste physikalische Anthropologe des Landes - ein Umstand, der für Goddard zweifelsohne mit den Ausschlag gegeben hatte, ihn zu der Expedition einzuladen. Es war schon erstaunlich, dachte Nora, wie es Goddard in so kurzer Zeit gelungen war, Wissenschaftler vom Format eines Black und Aragon für das Unternehmen zu gewinnen. Noch mehr allerdings erstaunte es sie, dass diese beiden Männer, die ihr so viel an Erfahrung und Ansehen voraushatten, nun tatsächlich unter ihrem Kommando standen. Energisch schüttelte Nora den Anflug des Zweifels ab, der sie bei diesem Gedanken überkam: Als Expeditionsleiterin musste sie von Anfang an Führungsqualitäten an den Tag legen und durfte sich nicht wie eine Assistenzprofessorin benehmen, die es gewohnt war, sich Rat von erfahreneren Kollegen zu holen.
»Wir sind gerade dabei, uns einander vorzustellen«, sagte Aragon mit einem kurzen Lächeln. »Das hier ist Luigi Bonarotti, unser Koch und Lagermanager.« Er trat einen Schritt beiseite und machte Platz für einen Mann, der gerade herbeigekommen war, um Nora zu begrüßen.
Als Bonarotti ihr die Hand gab, sah er sie aus dunklen sizilianischen Augen durchdringend an. Dann machte er eine angedeutete Verbeugung, und Nora roch einen Hauch von teurem After Shave. Der Italiener trug einen kakifarbenen Expeditionsanzug mit makellosen Bügelfalten und machte einen ausgesprochen gepflegten, europäischen Eindruck.
»Müssen wir denn wirklich den ganzen Weg vom See zur Ausgrabungsstätte im Sattel zurücklegen?«, fragte Black.
»Nein«, antwortete Nora. »Ein ganzes Stück werden wir auch zu Fuß gehen.«
Black verzog missvergnügt das Gesicht. »Ich hätte den Einsatz von Hubschraubern für sinnvoller gehalten. Bisher habe ich damit die besten Erfahrungen gemacht.«
»Aber in dieser Landschaft ist das nicht möglich«, erwiderte Nora.
»Und wo bleibt eigentlich dieser Journalist, der unsere Expedition für die Nachwelt festhalten soll? Ich würde ihn gerne kennen lernen.«
»Er stößt im Hafen von Wahweap zu uns, zusammen mit der Tochter von Dr. Goddard.«
Sie setzten sich auf die Baumstämme vor dem Feuer, und Nora genoss die Wärme der Flammen und den Duft des brennenden Zedernholzes. Während sie dem Zischen und Knistern der Scheite lauschte, hörte sie, wie Black sich im Hintergrund immer noch über die Zumutung beschwerte, auf ein Pferd steigen zu müssen. Die Flammen tanzten über die Sandsteinwand mit ihren dunkel gähnenden Höhleneingängen. Einmal glaubte Nora in einer der Höhlen einen Lichtschein zu erkennen, der aber gleich wieder verschwand. Vermutlich war es nur eine Sinnestäuschung gewesen. Aus einem unerfindlichen Grund musste Nora plötzlich an Platos Höhlengleichnis denken. Und wie würden wir wohl den Höhlenbewohnern Vorkommen, wenn sie da drinnen unsere Schatten über die Wand huschen sähen?, fragte sie sich.
Auf einmal bemerkte Nora, dass die Unterhaltung neben ihr aufgehört hatte. Ihre neuen Gefährten starrten ins Feuer und schienen alle ihren Gedanken nachzuhängen. Nur Holroyd grübelte nicht vor sich hin, sondern blickte über die Flammen hinweg auf die erleuchtete Felswand.
Dann sah Nora, wie erst Aragon, dann Black den Kopf hob. Sie folgte ihren Blicken und stellte fest, dass jetzt doch ein Licht in einer der Höhlen am Fuß der Wand aufblitzte, schwach zwar, aber unverkennbar. Dann hörte sie ein leises, klickendes Geräusch und sah mehr von diesen merkwürdigen, gelblichen Blitzen. Kurz darauf schälte sich eine dunkelgraue Gestalt aus dem schwarzen Eingang der Höhle. Als sie noch weiter vortrat, erkannte Nora die mageren Gesichtszüge von Emest Goddard. Er trat schweigend auf die Gruppe zu. Sein weißes Haar leuchtete rötlich im Schein des Feuers, während er die Wissenschaftler durch die Flammen und den Rauch unverwandt anstarrte. Dann bewegte er seine Hände, und die gelblichen Blitze zuckten zwischen seinen schmalen Fingern hindurch.
Goddard blieb eine ganze Weile stehen und blickte den Expeditionsteilnehmem nacheinander ins Gesicht. Dann steckte er die Gegenstände, die er in den Händen gehalten hatte, in einen Lederbeutel und warf ihn quer über das Feuer Aragon zu, der ihm am nächsten stand. »Reiben Sie diese Steine aneinander«, sagte er mit seiner leisen Stimme, die durch das Knistern der Scheite kaum zu verstehen war. »Und geben Sie sie dann weiter.«
Als Aragon ihr den Sack reichte, griff Nora hinein und spürte darin zwei glatte, harte Steine. Sie nahm sie heraus und besah sie sich im Licht des Feuers. Es waren hübsche, halb durchsichtige Quarze, die aussahen, als wären sie in einem Flussbett glatt geschliffen worden. In sie eingeritzt waren die typischen rituellen Spiralen, die ein Symbol für das Sipapti waren, den Eingang zur Unterwelt der Anasazi- Indianer.
Nora wusste sofort, was das für Steine waren. Sie wandte sich vom Schein des Feuers ab, rieb die Steine in der Dunkelheit aneinander und betrachtete die wundersamen Funken, die sich dabei in ihrem halb transparenten Innern bildeten und sie in der Dunkelheit leuchten ließen.
Goddard sah ihr zu und nickte. »Das sind Blitzsteine der Anasazi«, sagte er ruhig.
»Sind die echt?«, fragte Holroyd, als Nora ihm die Steine weitergab.
»Natürlich«, antwortete Goddard. »Sie stammen aus dem Schatz eines Medizinmanns, den man in einem Großen Kiva bei Keet Seel gefunden hat. Wir haben bisher immer geglaubt, dass die Anasazi solche Steine verwendeten, um bei ihren Regenzeremonien die Blitze eines Gewitters zu symbolisieren, aber jetzt sind wir uns dessen nicht mehr so sicher. Die Spiralen, die in sie eingeritzt sind, symbolisieren vermutlich das Sipapu, aber sie könnten genauso gut eine Quelle darstellen. Auch das kann niemand mit Bestimmtheit sagen.«
Er hüstelte leise. »Und genau das will ich Ihnen mit auf den Weg geben. In den Sechzigeijahren dachten wir noch, wir wüssten alles über die Anasazi. Ich erinnere mich noch gut, wie Henry Ash, der große Archäologe des Südwestens, seinen Studenten nahe legte, sich andere Betätigungsfelder zu suchen. >Die Anasazi sind ausgepresst wie eine Zitrone<, meinte er damals.
Aber jetzt, nach drei Jahrzehnten geheimnisvoller und unerklärlicher Entdeckungen, müssen wir erkennen, dass wir so gut wie nichts über die Anasazi wissen. Wir verstehen weder ihre Kultur noch ihre Religion. Wir können ihre Felszeichnungen und Symbole nicht entziffern. Wir wissen weder, welche Sprache sie gesprochen haben, noch können wir sagen, weshalb sie überall im Südwesten geheimnisvolle Leuchttürme, Schreine, Straßen und Signalstationen gebaut haben. Ebenso unerklärlich ist für uns, weshalb sie 1150 auf einmal den Chaco Canon verlassen, ihre Straßen rituell verbrannt und sich in die abgelegensten, am schwersten erreichbaren Canons zurückgezogen haben, die sie finden konnten, um sich dort mächtige Städte in den Felswänden zu bauen. Was ist damals passiert? Wovor hatten die Anasazi Angst? Ein Jahrhundert später gaben sie sogar diese Siedlungen auf und ließen das gesamte Colorado-Plateau und das San-Juan-Becken, immerhin ein Gebiet von fast einhundertdreißigtausend Quadratkilometern, unbewohnt zurück. Warum? Tatsache ist, je mehr wir über die Anasazi herausfinden, desto mehr neue Fragen tun sich auf. Manche Archäologen glauben jetzt, dass wir die Rätsel niemals lösen werden.«
Seine Stimme wurde nun noch leiser als zuvor, und trotz der Wärme des Feuers spürte Nora, wie ein kalter Schauder sie durchfuhr.
»Aber ich habe das Gefühl«, flüsterte er heiser, »nein, ich bin sogar überzeugt davon, dass die Stadt Quivira uns die Antworten auf alle unsere Fragen geben wird.«
Er sah noch einmal die um das Feuer versammelten Leute an, einen nach dem anderen. »Sie stehen kurz vor der bedeutendsten Reise, die Sie in Ihrem Leben je unternehmen werden. Sie brechen auf zu einer archäologischen Entdeckung, die sich vielleicht als die wichtigste dieses Jahrzehnts, wenn nicht dieses Jahrhunderts erweisen wird. Aber wir sollten uns nichts vormachen. Quivira wird sich nicht nur als ein Ort der Erkenntnis, sondern auch als ein Ort des Geheimnisses erweisen. Es kann durchaus sein, dass diese Stadt mehr Fragen aufwirft, als sie uns Antworten beschert. Auf jeden Fall aber wird sie für Sie eine Herausforderung darstellen, und zwar in körperlicher wie auch in geistiger Hinsicht, und das in einem Maß, das Sie sich heute noch nicht vorstellen können. Sie werden Augenblicke des Triumphs erleben, aber auch Augenblicke der Verzweiflung. Und in beiden Fällen dürfen Sie nie vergessen, dass Sie das Santa Fe Archaeological Institute repräsentieren, das für seine hochkarätige Forschung ebenso berühmt ist wie für sein vorbildliches moralisches Verhalten.«
Er sah Nora mit einem durchdringenden Blick an. »Nora Kelly arbeitet zwar erst seit fünf Jahren für das Institut, aber sie hat in dieser Zeit bewiesen, dass sie eine hervorragende Archäologin ist. Sie ist die Leiterin dieser Expedition, und ich setze mein vollstes Vertrauen in sie. Vergessen Sie das nicht. Wenn in Wahweap meine Tochter zu Ihnen stößt, wird auch sie sich voll und ganz Dr. Kelly unterstellen, es wird also keinerlei Zweifel geben, wer bei dieser Unternehmung das Sagen hat.«
Goddard trat einen Schritt vom Feuer zurück in Richtung auf die Felswand. Nora musste sich anstrengen, um seine leisen, vom Prasseln der Flammen fast unverständlich gemachten Worte hören zu können.
»Es gibt Menschen, die nicht an die Existenz von Quivira glauben. Sie halten eine Expedition wie diese für Narretei und sind der Meinung, dass ich mein Geld zum Fenster hinauswerfe. Manche äußern sogar Befürchtungen, dass sich das Institut mit dieser Unternehmung bis auf die Knochen blamieren könnte.«
Er hielt inne, bevor er seine Schlussworte sprach. »Aber es gibt diese Stadt. Das weiß ich — und Sie wissen es auch. Und jetzt gehen Sie los und suchen Sie sie.«