28
Oben auf der Anhöhe hielt Skip den Wagen an und wartete darauf, dass sich die Staubwolke, die er durch das plötzliche Bremsen verursacht hatte, verzog. Es war einer jener trocken-heißen Juninachmittage, wie es sie nur vor dem Einsetzen der sommerlichen Regenperiode gab. Nur eine einzige kleine Kumuluswolke schwebte einsam und verlassen über den Jemez-Bergen.
Einen Augenblick lang dachte Skip, dass es wohl das Beste sei, den Wagen zu wenden und zurück in die Stadt zu fahren. In der Nacht war er plötzlich wach geworden und hatte einen Einfall gehabt. Thurber war noch immer nicht wieder aufgetaucht, und Skip fühlte sich auf unerklärliche Weise für sein Verschwinden verantwortlich. Um diese Schuld wenigstens teilweise wieder abzutragen, hatte er beschlossen, Teresas Hund Teddy Bear unter seine Fittiche zu nehmen und ihn später Nora zu geben. Schließlich war Teresa in seinem und Noras Ranchhaus getötet worden. Und wer wäre besser dazu geeignet gewesen, für Teresas Hund zu sorgen, als ihre alte Nachbarin und Freundin Nora?
Aber was ihm in der Nacht noch als eine gute Idee erschienen war, kam ihm jetzt gar nicht mehr so großartig vor. Lieutenant Martinez hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass die Untersuchungen noch andauerten und dass er das alte Haus der Cabrillas-Ranch nicht betreten dürfe. Nun, das hatte er auch gar nicht vor: Er wollte ja nur zum Haus von Teresa fahren und den Hund holen. Dennoch wusste Skip, dass er sich mit dieser Aktion in große Schwierigkeiten bringen konnte.
Er legte den Gang wieder ein, trat aufs Gas und fuhr den Hügel hinunter. An der alten Ranch seiner Familie vorbei lenkte er den Wagen auf Teresas lang gestreckten, niedrigen Hof zu, der ganz still und verlassen dalag. Was war das bloß für eine idiotische Idee, hier herauszufahren, ging es Skip durch den Kopf. Inzwischen musste ja irgendwer die Tiere weggebracht haben, und wer auch immer das getan hatte, hatte bestimmt auch Teddy Bear mitgenommen. Trotz dieser Einsicht beschloss Skip, doch noch nach dem Hund zu sehen, um nicht den ganzen Weg umsonst gemacht zu haben.
Er ließ den Motor laufen und die Wagentür offen stehen, während er zum Haus ging und an der Vordertür nach Teddy Bear rief. Doch kein Bellen antwortete ihm.
Die alte, an vielen Stellen mit schwarzem Isolierband geflickte Fliegengittertür war fest verschlossen. Automatisch wollte Skip anklopfen, hielt dann aber inne. »Teddy Bear!«, rief er noch einmal.
Stille.
Spontan blickte Skip hinüber nach Las Cabrillas. Vielleicht war der Hund ja zu dem Haus gelaufen. Skip ging zum Wagen, schaltete den Motor ab und machte ein paar Schritte auf dem Pfad hinüber zur Ranch, bevor er abrupt stehen blieb. Seine Hand glitt an seinen Gürtel und ruhte kurz auf dem Griff des alten Revolvers, der früher einmal seinem Vater gehört hatte. Die Waffe war schwer und klobig und donnerte los wie eine Kanone, aber ein Schuss von ihr stoppte jeden Angreifer. Skip hatte sie nur einmal in seinem Leben abgefeuert und sich dabei den Handknöchel verstaucht. Zwei Tage danach hatten ihm noch die Ohren vom Knall des Schusses geklingelt. Jetzt fand er es beruhigend, die Waffe bei sich zu haben.
Beim alten Haus seiner Familie angekommen, rief er zuerst an der Hintertür mit sanfter Stimme: »He, Teddy Bear! Wo steckst du denn, du alter Köter?« Als sich daraufhin nichts rührte, ging er um die Ranch herum und trat durch die Vordertür ein. Die Küche bot ein Bild der Verwüstung. Die Bodenbretter waren herausgerissen worden, und aus den Wänden starrten ihn große Löcher an wie leere Augenhöhlen. An der Tür im hinteren Teil des Raumes sah Skip das gelbe Plastikband, mit dem die Polizei den Durchgang zum Wohnzimmer abgesperrt hatte. Mehrere schmale Fährten von kleinen, rötlichschwarzen Pfotenabdrücken liefen vom Wohnzimmer zur Küchentür. Vorsichtig darauf bedacht, nicht auf die Spuren zu treten, ging Skip in die Küche.
Ein widerwärtiger Geruch schlug ihm entgegen, gefolgt vom lauten Surren unzähliger Fliegen. Skip würgte und machte instinktiv einen Schritt zurück. Dann holte er draußen tief Luft, ging vorsichtig bis zu dem gelben Band und warf einen Blick ins Wohnzimmer.
Am Boden in der Mitte des Raumes befand sich eine große, geronnene Blutlache, die an manchen Stellen von fehlenden Bodenbrettern unterbrochen wurde. Fast hätte Skip sich vor Ekel übergeben müssen. Großer Gott, ich habe gar nicht gewusst, dass ein Mensch so viel Blut in sich hat, schoss es ihm durch den Kopf. Die Lache dehnte sich in seltsam weitläufigen Verästelungen bis an alle Wände des Wohnzimmers aus und ging an ihren Rändern in ein Durcheinander aus zahlreichen Pfotenabdrücken über. In der Mitte, wo die Blutlache etwas tiefer gewesen war, wimmelte es von weißen Maden.
Skip wurde es von dem Anblick so übel, dass er sich am Türrahmen festhalten musste. Überall schwirrten Fliegen herum, die er durch sein Erscheinen aufgeschreckt hatte. Sie wirbelten vor seinen Augen wie ein schwarzer Vorhang. In einer Ecke des Raumes stand ein zusammengeklapptes Stativ, auf dessen einem Bein mit weißer Schablonenschrift SANTA FE POLICE DEPARTMENT geschrieben stand.
»O nein!«, murmelte Skip. »Die arme Teresa.«
Ein paar Minuten lang verharrte er reglos und starrte auf den blutverschmierten Boden des Wohnzimmers. Dann drehte er sich um und ging steifbeinig durch die Küche zurück zur Eingangstür.
Nach der drückenden Hitze, die innen im Haus geherrscht hatte, kam Skip die Luft draußen nun fast kühl vor. Direkt vor dem Haus blieb er stehen, atmete tief durch und sah sich um. Dann formte er mit den Händen einen Trichter um seinen Mund und rief zum letzten Mal: »Teddy Bear!«
Er wusste, dass er eigentlich gehen sollte. Jemand von der Polizei, vielleicht sogar Martinez höchstpersönlich, konnte jeden Moment hier vorbeikommen. Trotzdem blieb Skip noch eine Weile und betrachtete den Hof, in dem er als Kind so oft gespielt hatte. Obwohl ihm das, was Teresa zugestoßen war, immer noch ein Rätsel war, kam es ihm so vor, als habe sich das Böse hier in diesem Haus inzwischen irgendwie aufgelöst. Oder vielleicht war es auch nur woanders hingegangen.
Von Teddy Bear war noch immer nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte man ihn mit den anderen Tieren abgeholt. Seufzend drehte Skip sich um und ging den Hügel hinauf zu seinem Wagen. Es war ein alter Plymouth Fury, Baujahr 1971, der früher einmal seiner Mutter gehört hatte. Obwohl sein olivgrüner Lack mittlerweile mit Rostflecken übersät war, mochte Skip das Auto sehr, wenn ihm auch die vordere Stoßstange, die mit ihren mächtigen Chromhörnern schräg nach unten hing, ein wildes, fast schon bedrohliches Aussehen verlieh. Inzwischen hatte der alte Wagen schon so viele Beulen, dass wohl manche Autofahrer meinten, eine mehr oder weniger würde nun auch nichts mehr ausmachen, und ihn beim Parken ramponierten, ohne sich groß darum zu scheren.
Als Skip das Auto erreicht hatte, sah er, dass Teddy Bear vor Hitze hechelnd auf dem Fahrersitz saß. Seine riesige Zunge hing ihm aus dem Maul, und er hatte den Sitz schon voller Geifer getropft. Der Hund machte den Eindruck, als ginge es ihm gut.
»Teddy Bear, du alter Racker!«, rief Skip.
Der Hund leckte ihm winselnd die Hand.
»Rutsch rüber, verdammt noch mal. Ich habe hier den Führerschein!« Mit diesen Worten bugsierte Skip den fünfzig Kilo schweren Hund auf den Beifahrersitz und klemmte sich selbst hinter das Steuer.
Nachdem er den Revolver im Handschuhfach verstaut hatte, legte Skip den Gang ein und fuhr zurück zur Straße. Dabei fiel ihm auf, dass er sich jetzt besser fühlte als seit vielen Tagen. Irgendwie war er, trotz des grässlichen Anblicks, der sich ihm im Wohnzimmer geboten hatte, erleichtert, dass er diese spezielle Pilgerfahrt hinter sich gebracht hatte. In Gedanken ging er schon die weitere Gestaltung des Abends durch. Zuerst würde er eine Ladung Hundefutter kaufen, was zwar ein großes Loch in seine bescheidene Haushaltskasse reißen würde, aber unbedingt erforderlich war. Dann würde er zum »Noodle Emporium« fahren und sich eine Portion Mei Fun mit Curry genehmigen und dabei das Buch über die Töpferei der Anasazi weiterlesen, das ihm Sonya Rowling vor zwei Tagen gegeben hatte. Es war ein fantastischer Text, der Skip nachts lange aufbleiben, Absätze anstreichen und Bemerkungen an den Rand der Seiten schreiben ließ. Vor lauter Lesen hatte er sogar vergessen, die neue Flasche Mescal aufzumachen, die seit Tagen auf seinem Couchtisch stand.
Der Wagen polterte über das Viehgitter, und kurz danach erreichte Skip die Hauptstraße, wo er Gas gab und den Fury in Richtung Stadt lenkte. Er hatte es eilig, von der alten Ranch wegzukommen. Der Hund streckte den Kopf aus dem Fenster, und sein Gewinsel verwandelte sich in aufgeregtes Schnüffeln. Geifer rann ihm aus dem Maul und zog im Fahrwind lange Fäden.
Als Skip den Hügel nach Fox Run hinunterfuhr, dachte er an die Tonscherben, die er tagsüber bei seiner Arbeit sortiert hatte. Die Sandpiste ging nun in eine gepflegte Teerstraße über, zu deren beiden Seiten sich der neue Golfplatz erstreckte. Nach knapp einem Kilometer kam am Ende der langen Gefällestrecke eine scharfe Kurve, mit der die Straße einem großen, aus dem Wüstenboden aufragenden Basaltfelsen auswich. Hier, wo Skip als Junge noch mit dem Geländemotorrad seines Vaters herumgefahren war, standen jetzt das Haus des Golfclubs sowie eine Wohnanlage mit sechshundert Luxusappartements. Zehn Jahre ist das her, sinnierte er. Damals hatte es hier im Umkreis von fünf Kilometern nicht ein einziges Haus gegeben, ganz zu schweigen von mehreren Golfplätzen mit insgesamt zweiundsiebzig Löchern.
Der schwere Wagen war auf der abschüssigen Straße relativ schnell geworden. Skip, der in Gedanken schon wieder bei seinen Tonscherben war, sah, dass er sich der Kurve näherte, und trat aufs Bremspedal.
Es ließ sich ohne erkennbaren Widerstand bis auf den Wagenboden durchtreten.
Skip umklammerte das Lenkrad fester und spürte, wie ihm das Adrenalin heiß in die Adern schoss. Wieder und wieder trat er auf das Pedal, doch es tat sich nichts. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er nach vom. Die Linkskurve und der Felsen dahinter rasten auf ihn zu. Mit schrecklicher Klarheit sah Skip das Metallschild, das an dem Felsen befestigt war:
GOLF CLUB Fox RUN VORSICHT: GOLFSPIELER ÜBERQUEREN DIE STRASSE.
Ein Blick auf den Tachometer sagte ihm, dass er über hundert Stundenkilometer schnell war. Mit dieser Geschwindigkeit würde er die Kurve niemals kriegen. Der Wagen würde ausbrechen und gegen die Klippe knallen. Skip trat auf die Feststellbremse, aber nichts tat sich. Schließlich schob er in seiner Verzweiflung den Wahlhebel der Automatik in den Rückwärtsgang. Sofort verspürte er einen gewaltigen Ruck, begleitet von einem schrillen, quietschenden Geräusch und dem Geruch heißgelaufenen Metalls. Der vor Schreck laut aufjaulende Hund wurde nach vorne gegen die Windschutzscheibe geschleudert. Aus dem Augenwinkel sah Skip, wie eine Gruppe weißhaariger Golfer ihn mit weit aufgerissenen Augen anglotzte, während der Fury wild schleudernd an ihnen vorbeischoss. Ein anderer sprang von einem Golfkarren herunter und rannte in Richtung Clubhaus.
Skip schrie etwas, das er wegen des lauten Quietschens der Reifen nicht einmal selbst hören konnte. Die Felswand flog an ihm vorbei und dann pflügte der Wagen mit blockierenden Rädern über eine gepflegte sattgrüne Rasenfläche, bis er in einer Wolke von aufspritzendem Sand, die gegen Kühler und Windschutzscheibe klatschte, abrupt zum Stehen kam.
Skip saß bewegungslos da und umklammerte noch immer das Lenkrad. Anstatt des Kreischens der Reifen hörte er jetzt das Ticken abkühlenden Metalls und erkannte, dass er Glück im Unglück gehabt hatte und in einem Sandbunker des Golfplatzes gelandet war. Teddy Bear, der direkt vor ihm auf dem Armaturenbrett hing, begann ihn mit seiner riesigen Zunge hingebungsvoll zu lecken.
Und von draußen drangen die Geräusche rasch herbeieilender Schritte und aufgeregte Rufe herein. Dann hörte Skip, wie jemand an die Windschutzscheibe klopfte. »Hallo?«, fragte eine besorgte Stimme. »Ist alles in Ordnung, meine Junge?«
Skip antwortete nicht, sondern nahm die zitternden Hände vom Lenkrad und legte sich rasch den Sicherheitsgurt an.