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Sloane lag, sämtliche Muskeln angespannt, unter dem Busch und lauschte angestrengt in die Nacht. Die Heftigkeit des Gewitters hatte nachgelassen, und der Regen war zu einem leichten Nieseln geworden. Sloane schirmte das Zifferblatt ihrer Uhr mit der Hand ab und drückte auf den Knopf der Beleuchtung: Es war kurz vor halb elf. Die Wolken begannen sich zu zerstreuen und trieben in Fetzen um einen drei viertel vollen Mond. Trotzdem war es noch dunkel im Tal, dunkel genug jedenfalls, um Nora glauben zu lassen, sie könne sich unbemerkt ins Lager schleichen.

Wieder einmal fragte sich Sloane, was wohl aus Swire und Bonarotti geworden war. Keinen von beiden hatte sie in der Stadt gesehen, und im Lager waren sie offenbar auch nicht. Vielleicht hatten sie sich irgendwo in den Häusern der Stadt verkrochen oder waren gar ins Kiva gegangen und kümmerten sich jetzt um Black. Wie dem auch sei, es war jedenfalls gut, dass sie sich nicht im Lager herumtrieben. Nora konnte sich schließlich nicht ewig verstecken. Bald würde sie kommen, um nach Smithback zu sehen.

Sloane wandte ihren Blick wieder auf das Zelt, das wie ein Lampenschirm aus Stoff durch die Dunkelheit zu ihr herüberleuchtete. Im Lager war es immer noch still. Sloane konzentrierte sich darauf, die natürlichen Geräusche des Tales wie das Rauschen des Flusses herauszufiltern und nur noch auf Noras Kommen zu achten. Zehn Minuten vergingen, dann eine Viertelstunde. Der Mond versteckte sich abermals hinter den dichten Wolken, und es begann wieder Regen zu fallen, begleitet von in der Feme grollendem Donner. Hier mit der Pistole in der Hand auf Nora zu warten war schwieriger, als Sloane es sich vorgestellt hatte. Sie fühlte, wie Wut in ihr aufstieg, die sich halb auf Nora, halb aber auch auf ihren Vater richtete. Wenn er ihr vertraut und sie als Leiterin der Expedition eingesetzt hätte, dann wäre nichts von all dem passiert. Mit einer Anwandlung von Furcht dachte Sloane an das, was ihr jetzt bevorstand. Sie musste es tun, weil man sie dazu zwang.

Sloane lenkte ihre Gedanken wieder auf die wundervolle Keramik oben in der Stadt und erinnerte sich noch einmal daran, dass es genau diese Entdeckung war, die ihr keine andere Wahl ließ. Selbst wenn es ihr gelänge, Noras Anschuldigungen irgendwie zu entkräften, wäre sie als Archäologin für den Rest ihres Lebens erledigt, ganz abgesehen von ihrem Vater, der tief in seinem Herzen genau wissen würde, dass sie...

Da war es. Endlich. Das Knacken eines Zweiges, das leise Geräusch von vorsichtigen Schritten auf nassem Sand. Zumindest glaubte sie, diese Geräusche durch das Rauschen des Flusses und das Plätschern des Regens vernehmen zu können.

Jemand bewegte sich auf das Zelt zu und achtete dabei mit außergewöhnlicher Sorgfalt darauf, nicht gehört zu werden.

Sloane zögerte einen Augenblick. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Nora sich so gut anschleichen konnte. Aber wer sonst sollte sich heimlich dem Zelt nähern?

Sloane atmete tief ein und öffnete den Mund, um Nora anzusprechen und ihr eine letzte Chance zu einer gütlichen Einigung zu geben. Wenn sie Aragons Tod, den Wetterbericht und alles andere vergäße, dann wäre es vielleicht doch noch möglich... Aber nein: Sloane erinnerte sich an den Ausdruck auf Noras Gesicht, als sie ihr mit zusammengebissenen Zähnen das Wort »Mord« entgegengeschleudert hatte und schwieg.

Mit sanftem Druck von Daumen und Mittelfinger hob sie ihre 38er und hielt die Handgelenke dabei möglichst locker, um den Rückstoß abzufedern Sloane war keine schlechte Schützin, und auf diese kurze Entfernung konnte sie ihr Ziel nicht verfehlen. Noras Tod würde kurz und vermutlich auch schmerzlos sein. In ein paar Minuten würden sie und Smithback bereits im Fluss liegen und unaufhaltsam auf den schmalen Slot-Canon am Ende des Tales zutreiben. Und sollte wider Erwarten einer der anderen die Schüsse hören, dann konnte sie ihnen ja noch immer erzählen, dass sie auf eine Schlange gefeuert habe.

Sloane wartete mit erhobener Waffe. Die Schritte waren so leise und kamen so zögerlich, dass sie nicht sagen konnte, ob sie sich näherten oder entfernten. Aber dann sah sie auf einmal einen Schatten vor der beleuchteten Zeltwand.

Sloane atmete langsam durch die Nase aus. Der Schatten war zu groß, um der o-beinige Swire zu sein, und für Aaron Black oder Bonarotti zu klein. Blieb also nur noch Nora. Langsam schlich sich der dunkle Umriss an der Zeltwand entlang und blieb vor dem Eingang stehen.

Sloane zielte sorgfältig auf die Silhouette. Das war's dann also, dachte sie, während sie den Atem anhielt, auf die Pause zwischen zwei Herzschlägen wartete und abdrückte.

Die kurzläufige Waffe in ihren Händen zuckte nach hinten, und der Knall des Schusses hallte von den Canon-Wänden wider. Sloane hörte ein Keuchen und ein scharrendes Geräusch. Als sich der Pulverdampf vor ihren Augen verzogen hatte, sah sie, dass die Silhouette vor der schwach beleuchteten Zeltwand verschwunden war. Alles war still.

Zitternd kroch Sloane unter dem Busch hervor und stand auf. Sie hatte es getan. Mit eingeschalteter Taschenlampe und gezückter Pistole ging sie langsam auf das Zelt zu. Kurz davor zögerte sie einen Moment. Der Anblick würde nicht leicht zu verkraften sein. Aber dann holte sie tief Luft, trat entschlossen einen weiteren Schritt vor und leuchtete mit ihrer Taschenlampe auf den Boden.

Dort, wo die sterbende Nora in ihrem Blut hätte liegen sollen, war nichts.

Sloane war so bestürzt, dass ihr fast die Waffe aus der Hand gefallen wäre. Entsetzt starrte sie hinab auf den Sand vor ihren Füßen. Wie hatte sie auf diese Entfernung bloß vorbeischießen können? Mit dem Strahl der Taschenlampe leuchtete sie den Boden ab, bis sie am anderen Ende des Zeltes einen großen Blutfleck fand, neben dem sich im feuchten Sand deutlich ein Fußabdruck abzeichnete.

Sloane trat näher. Der Abdruck konnte unmöglich von Nora stammen - ja, nicht einmal von einem Menschen. Er sah aus wie der einer großen, mit Krallen versehenen Tierpfote.

In Panik leuchtete Sloane den Boden rings um das Zelt ab. Dabei hörte sie sich rasch nähernde Schritte und sah, wie Nora quer, durch das Tal auf das Zelt zugerannt kam. Als sie Sloane erkannte, änderte sie ihre Richtung und lief auf die Strickleiter zu. Der Schuss hatte sie aus ihrem Versteck gescheucht, aber auf eine Art und Weise, die Sloane ganz und gar nicht gefiel.

Sloane richtete die Pistole auf Nora, ließ sie aber gleich wieder sinken. Jetzt, da sie wusste, dass Nora nicht am Zelt gewesen sein konnte, fragte sie sich, auf wen oder was sie dann geschossen hatte.

Langsam schlich sie mit ihrer Taschenlampe über den Lagerplatz und entdeckte hinter der letzten Reihe der Zelte eine seltsame Gestalt.

Sloane konnte kaum fassen, was sie sah. Im gelblichen Lichtkegel stand ein buckliges, zerzaustes Wesen, das sie schweigend anstarrte. Vor dem Gesicht trug es eine Ledermaske, aus deren Augenlöchern rote Pupillen hervorglühten. Die mit wilden weißen Mustern bemalten Arme und Beine waren ebenso wie der Pelz, in den der restliche Körper der Gestalt gehüllt war, blutverschmiert.

Gleichzeitig von ungläubigem Staunen wie auch von Panik erfüllt, trat Sloane instinktiv einen Schritt zurück. Das musste das Wesen sein, das sie angeschossen hatte. Deutlich konnte sie die große Wunde an seiner Brust erkennen, aus der schwarz glänzendes Blut quoll. Es war ein Wunder, dass die Gestalt sich noch auf den Beinen ' halten konnte. Mehr als das: Aus dem kraftvollen Heben und Senken ihrer Brust schloss Sloane, dass sie noch überaus lebendig war.

Obwohl diese Begegnung nur Bruchteile einer Sekunde dauerte, kam es Sloane vor, als wäre die Zeit zum Stillstand gekommen. Sie spürte, wie ihr das Herz rasend gegen die Rippen hämmerte.

Und dann machte die Kreatur mit einer entsetzlich boshaft langsamen Entschlossenheit einen Schritt auf sie zu.

Von Panik überwältigt, ließ Sloane die Taschenlampe fallen und fing an zu rennen. Alles, was sie an diesem Tag bewegt hatte - sogar das Kiva und die Sturzflut -, war mit einem Schlag vergessen ob ihres Verlangens, dieser monströsen Erscheinung zu entfliehen. Das war das Ding, das die Pferde zerfetzt und Holroyds Leiche geschändet hatte... Auf einmal musste Sloane an Swire und Bonarotti denken und rannte noch schneller auf die Strickleiter zu.

Oben in der Wand konnte sie gerade noch Nora erkennen, die mit raschen Bewegungen zur Stadt hinaufkletterte. So schnell sie konnte, hetzte Sloane ihr hinterher und versuchte dabei verzweifelt, nicht an das blutende pelzige Geschöpf zu denken, das ihr mit feucht tappenden Schritten durch die Dunkelheit nachsetzte.