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Um Mitternacht stand der Halbmond hoch am dunklen Himmel und tauchte das karge Ödland im Süden Utahs in ein fahles, bläuliches Licht. Über dem weit verzweigten Labyrinth aus Canons nordwestlich des Lake Powell lag tiefe Ruhe, und selbst in dem tagsüber vom Lärm der Motorboote und Jetskis erfüllten Jachthafen von Wahweap schliefen alle fest.
Nur im Tal von Chilbah stiegen zwei Gestalten langsam eine schmale Felsspalte hinauf, in der sich ein verborgener Pfad befand. Es war der Weg der Priester, der Hintereingang nach Quivira, den jahrhundertelange Erosion fast unsichtbar gemacht hatte.
Nach einem kurzen Anstieg durch die schwarze Schlucht erreichten die beiden Gestalten das Sandsteinplateau, wo sich in einer Wand die Stadt verbarg. Aus dem Tal hinter sich hörten sie ein Pferd wiehern und aufgeregt mit den Hufen stampfen. In dieser Nacht hatten die beiden Gestalten den Pferden ebenso wenig etwas angetan wie dem Cowboy, der sie bewachte, obwohl es ihnen ein Leichtes gewesen wäre, ihm von hinten die Kehle durchzuschneiden, als er Tabak kauend, das Gewehr in der Hand, auf einem Baumstamm gesessen hatte. Sollte er ruhig noch eine Weile dort bleiben, sie würden sich zu gegebener Zeit schon um ihn kümmern.
Geschmeidig und verstohlen wie Tiere der Nacht huschten die beiden Gestalten über das breite Plateau weit oberhalb des Tales. Dabei vermieden sie das schwache Licht des Mondes und bewegten sich, soweit es ging, in den Schatten unterhalb der Felsen. Bis auf das leise Geräusch, mit dem die schweren Wolfsfelle, die von ihren Rücken fast bis auf den Boden hingen, manchmal an den Steinen streiften, stahlen sich die Gestalten so leise wie Gespenster durch die Dunkelheit.
Nach einer Weile blieben sie beide gleichzeitig stehen, als würden sie einem gemeinsamen Willen gehorchen, und blickten nach unten, wo sich vor ihnen das Tal von Quivira auftat. Tief unter sich sahen sie den kleinen Fluss im Mondlicht schimmern, und etwas oberhalb davon konnten sie die Glut eines heruntergebrannten Lagerfeuers ausmachen, dessen kaum wahrnehmbarer Rauch ihnen in die Nase stieg.
Die Blicke der beiden Gestalten wanderten von dem Feuer zu den ringsum gruppierten Zelten und Schlafsäcken. Die Zelte waren dunkel, wodurch es den beiden Gestalten unmöglich war zu sagen, ob sich jemand darin aufhielt oder nicht. Lange starrten sie reglos nach unten, dann setzten sie sich leise wieder in Bewegung.
Unhörbar huschten sie am Canon-Rand entlang und hielten ab und zu an, um die Schlafenden im Lager zu beobachten. Aus der Tiefe drangen hin und wieder Geräusche an ihr Ohr: der Ruf einer Eule, das Gurgeln des Wassers, das Rascheln der Blätter im Nachtwind. Die Gestalten selbst waren auf ihrem Weg zum oberen Ende der Strickleiter vollkommen still. Nur einmal gaben die silbernen Conchas, die eine von ihnen am Gürtel trug, für den Bruchteil einer Sekunde ein leises Klirren von sich.
Bei Holroyds Sendern und Antennen blieben die Gestalten stehen, um sie interessiert zu untersuchen. Ein, zwei Minuten vergingen, bevor eine der Gestalten an den Rand der Klippe trat und an der Strickleiter entlang nach unten blickte.
Sie befanden sich jetzt unmittelbar über dem Lager, und das Feuer glühte aus fast dreihundert Metern Tiefe wie ein wütendes rotes Auge zu ihnen herauf. Die Gestalt gab ein tiefes, kehliges Geräusch von sich, das langsam in einen leisen, monotonen Gesang überging. Gemeinsam mit der anderen Gestalt wandte sie sich wieder den Funkgeräten zu.
Zehn Minuten später war ihre Arbeit getan.
Die Gestalten schritten weiter am Rand des Canons entlang, bis sie dessen Ende erreichten. Dort schlängelte sich der alte, verborgene Pfad durch einen Einschnitt im Felsen nach unten in den Slot-Canon auf der anderen Seite des Tales von Quivira. Der Furcht erregend steile Steig war in der Dunkelheit kaum zu erkennen, und von unten herauf drangen die Geräusche eines fernen Wasserfalls.
Nach einer Weile erreichten die Gestalten den sandigen Boden, des Slot-Canons und bewegten sich durch den Sprühnebel des Wasserfalls vorsichtig am unteren Rand der Klippe entlang. Bald waren sie am. Eingang zum Tal von Quivira angelangt, wo sie sich leise dem ersten Expeditionsteilnehmer näherten, der schlafend in seiner Bettrolle lag. Sein Gesicht wirkte im bläulichen Licht des Mondes leichenblass.
Eine der Gestalten griff in ihren zerzausten Pelz und holte ein kleines Säckchen hervor. Es bestand aus gegerbter Menschenhaut, die im Mondschein übernatürlich, fast durchscheinend schimmerte. Die Gestalt lockerte die Verschnürung aus Lederbändern, langte vorsichtig in den Beutel und holte eine kleine Knochenscheibe und ein altes Rohr aus Weidenholz heraus, das mit einer langen, links-drehenden Spirale verziert und vom vielen Gebrauch schon ganz glatt poliert war. Dann drehte die Gestalt die matt schimmernde Knochenscheibe ein paar Mal herum, bevor sie ein Ende des Rohres zwischen die Lippen nahm und sich hinab zu dem schlafenden Menschen beugte. Sie blies in das Rohr. Eine kleine Wolke aus feinem Pulver senkte sich auf das Gesicht des Schlafenden. Kurz darauf huschten die beiden Gestalten so leise wie der Wind zurück zum Eingang des Slot-Canons, wo sie im tiefen Schatten verschwanden.