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Murray Blakewood, der Direktor des Santa Fe Archaeological Institute, blickte Nora aus ruhigen, kühlen Augen an. Sein Gesicht unter dem struppigen grauen Haarschopf wies den üblichen Ausdruck distanzierter Höflichkeit auf, und seine gefalteten Hände ruhten auf der Schreibtischplatte aus poliertem Rosenholz.
An den Wänden des Direktorenbüros konnte Nora eine ganze Reihe von Artefakten in diskret beleuchteten Glasvitrinen sehen. Direkt hinter Blakewoods Kopf hing eine vergoldete mexikanische Altarretabel aus dem siebzehnten Jahrhundert, und an der gegenüberliegenden Wand fand sich eine alte, im Eyedazzler Muster gewebte Häuptlingsdecke der Navajos - eines von zwei noch existierenden Exemplaren dieser Art von Textilien. Normalerweise konnte Nora sich an diesen Exponaten gar nicht satt sehen, aber heute würdigte sie die Gegenstände kaum eines Blickes.
»Hier sehen Sie das Gebiet«, sagte sie, während sie eine Landkarte aus ihrer Aktentasche nahm und sie vor Blakewood ausbreitete. »Die bereits existierenden Ausgrabungsstätten sind darauf schon eingezeichnet.«
Blakewood nickte, und Nora atmete tief durch. Was sie vorhatte, würde nicht einfach werden.
»Coronados Quivira muss irgendwo in dieser Gegend sein«, sprudelte sie schließlich hervor. »Vermutlich befindet sich die Stadt in den Canons westlich des Kaiparowits-Plateaus.«
Blakewood lehnte sich in seinem. Stuhl zurück und sagte, nachdem er Nora eine Weile schweigend angesehen hatte, mit einem leicht spöttischen Unterton: »Irgendwie kann ich Ihnen nicht so ganz folgen, Dr. Kelly. Vielleicht wäre es ja besser, wenn Sie mir die Sache von Anfang erklären würden.«
Nora griff in ihre Aktentasche und zog eine Fotokopie hervor. »Ich würde Ihnen gerne eine Stelle aus dem Bericht der Coronado-Expedition vorlesen, der 1540 abgefasst wurde.« Sie räusperte sich und begann:
»Die Cicuye-Indianer brachten dem General einen Sklaven, den sie in einem fernen Land gefangen genommen hatten. Der General befragte den Sklaven mit Hilfe eines Dolmetschers. Der Sklave erzählte ihm von einer fernen Stadt mit dem Namen Quivira. Sie sei eine heilige Stadt, sagte er, eine Stadt, in der die Regenpriester lebten. Diese seien die Hüter der geschichtlichen Aufzeichnungen seit dem Beginn aller Zeiten.
Er erklärte, dass die Stadt so reich sei, dass selbst einfache Trinkteiche, Teller und Schüsseln aus massivem, glänzend poliertem und reich verziertem Gold bestünden. Er nannte das Gold acochis und sagte, dass man in der Stadt jedes andere Material gering schätze. Der General fragte den Mann, wo diese Stadt denn zu finden sei. Der Sklave erwiderte, dass eine Reise dorthin viele Wochen dauern und durch die tiefsten Schluchten und über die höchsten Berge fahren würde. Auf dem Weg gebe es Schlangen, Überschwemmungen, Erdbeben und Sandstürme, und noch nie sei einer zurückgekehrt, der nach der Stadt gesucht habe. Quivira bedeute in der Sprache seines Volkes >Haus der blutigen Felswänden«
Nora steckte das Blatt zurück in ihre Aktentasche. »Anderswo in diesem Bericht ist von >den Alten< die Rede, was ein klarer Hinweis auf die Anasazi-Indianer ist. >Anasazi< bedeutet...«
»Die alten Feinde«, ergänzte Blakewood mit sanfter Stimme. »Stimmt«, sagte Nora und nickte. »Wie dem auch sei, der Name >Haus der blutigen Felswände< weist meiner Meinung auf ein Pueblo hin, das sich in einem Canon mit rötlichem Gestein befinden dürfte. Manche Felsen glänzen, wenn sie vom Regen nass sind, nämlich wie Blut.« Nora tippte mit dem Finger auf die Karte. »Und wo könnte sich eine so große Stadt besser verbergen als in diesen Schluchten? Die Gegend ist berüchtigt für ihre plötzlichen Sturzfluten, die nach einem Unwetter ohne, jegliche Vorwarnung durch die Canons rauschen. Darüber hinaus liegt das Gebiet direkt über dem Kaibab-Vulkanfeld und weist daher eine mäßige seismische Aktivität auf. Alle anderen Gebiete in Utah sind archäologisch ziemlich gründlich erforscht worden, nur dieses nicht. Dabei gilt es als eines der Stammesgebiete der Anasazi. Ich bin mir sicher, Dr. Blakewood, die Stadt muss ganz einfach hier liegen. Außerdem habe ich noch eine andere Quelle, die eindeutig daraufhin weist, dass...« Nora hielt inne, als sie sah, dass der Direktor die Stirn runzelte.
»Was für Beweise haben Sie denn für Ihre Theorie?«, fragte er.
»Was ich Ihnen gerade gesagt habe, sind meine Beweise.«
»Verstehe«, sagte Blakewood und seufzte. »Und jetzt wollen Sie, dass das Institut eine Expedition finanziert, mit der Sie diese Gegend erkunden können.«
»Genau. Ich würde auch den Antrag für die Forschungsgelder schreiben.«
»Das hier, Dr. Kelly«, sagte Blakewood und deutete auf die Karte, »ist kein Beweis. Das ist nichts weiter als wilde Spekulation.«
»Aber...«
Blakewood hob die Hand. »Lassen Sie mich bitte ausreden. Das Gebiet, von dem Sie sprechen, ist etwa tausend Quadratmeilen groß. Nehmen wir einmal an, es gäbe dort wirklich eine große Ruine, wie wollen Sie die denn finden?«
Nora zögerte. Wie viel sollte sie Blakewood erzählen? »Ich habe da einen alten Brief«, begann sie, »in dem von einer Anasazi-Straße durch diese Region die Rede ist. Ich denke, dass diese Straße uns zu der Ruine führen wird.«
»Ein Brief?« Blakewood zog die Augenbrauen hoch.
»Ja.«
»Von wem denn? Von einem Archäologen?«
»Das würde ich im Augenblick noch gerne für mich behalten.«
Ein leicht gereizter Ausdruck huschte über Blakewoods Gesicht. »Dr. Kelly - Nora ich möchte, dass Sie sich über ein paar praktische Dinge im Klaren sind. Selbst wenn ich Ihren mysteriösen Brief mit in Betracht zöge, lägen mir einfach nicht ausreichend hieb- und stichfeste Fakten vor, um eine Suchexpedition zu bewilligen, geschweige denn den Auftrag zu einer Ausgrabung zu erteilen. Wie Sie selbst gerade gesagt haben, ist die Gegend bekannt für ihre extrem gefährlichen Gewitter und Sturzfluten, ganz abgesehen davon, dass die Canon-Systeme in der Gegend des Kaiparowits-Plateaus zu den verschlungensten auf dieser Erde zählen.«
Genau richtig also, um eine große Stadt zu verbergen, dachte Nora.
Blakewood musterte sie kurz, dann räusperte er sich. »Nora, ich würde Ihnen gerne als Fachmann einen Rat erteilen.«
Nora schluckte. So hatte sie sich das Gespräch nicht vorgestellt.
»Die Archäologie, die wir heute betreiben, ist nicht mehr dieselbe wie vor hundert Jahren. Wir gehen langsamer und gewissenhafter vor als damals, tragen die kleinsten Details zusammen und analysieren unsere Funde mit größter Sorgfalt.« Er beugte sich über den Schreibtisch in Noras Richtung. »Sie, Nora, scheinen mir eher zu dem Typ Forscher zu gehören, der ständig auf der Suche nach irgendwelchen sagenumwobenen Ruinenstätten ist, die dann am besten auch gleich noch die größten und ältesten sein sollten, die jemals entdeckt wurden. Aber derartige Stätten gibt es nicht mehr, Nora, nicht einmal am Kaiparowits-Plateau. Seit die Wetherills diese Canons zum ersten Mal betreten haben, haben sich dorthin mindestens ein halbes Dutzend archäologische Expeditionen aufgemacht.«
Nora hörte zu und kämpfte mit ihren eigenen Zweifeln. Sie wusste ja selbst nicht, ob ihr Vater wirklich die verborgene Stadt gefunden hatte. Aber der Ton seines Briefes war so überzeugt, so sicher gewesen, so voll von dem Gefühl eines triumphalen Erfolgs. Und da war noch etwas, das ihr nicht mehr aus dem Kopf ging: Irgendwie mussten die Männer oder Kreaturen oder was auch immer es gewesen sein mochte, das sie in dem alten Ranchhaus angegriffen hatte, von dem Brief ihres Vaters gewusst haben. Und das bedeutete, dass auch sie einen Grund zu der Annahme hatten, dass die Stadt Quivira wirklich existierte. »Es gibt viele noch unentdeckte Ruinen im Südwesten«, hörte sie sich selbst sagen, »die irgendwo unter dem Sand oder in einem Canon versteckt liegen. Denken Sie bloß an die Stadt Senecii, von der die Spanier berichteten und die bis heute noch nicht lokalisiert werden konnte.«
Eine Weile schwiegen beide, und Blakewood trommelte mit dem Ende eines Bleistifts auf der Tischplatte herum. »Nora, ich würde gerne noch etwas anderes mit Ihnen besprechen«, sagte er schließlich, während sein Gesicht abermals einen gereizten Ausdruck annahm. »Wie lange sind Sie eigentlich schon hier bei uns? Fünf Jahre, nicht wahr?«
»Fünfeinhalb, Dr. Blakewood.«
»Als wir Sie als Assistenzprofessorin einstellten, war Ihnen doch bewusst, was wir hier von Ihnen erwarten, habe ich Recht?«
»Ja.« Nora ahnte, was jetzt kommen würde.
»In sechs Monaten werden wir über eine Verlängerung Ihres Vertrags zu befinden haben. Um ehrlich zu sein: Ich weiß nicht, ob ich der zustimmen kann.«
Nora sagte nichts.
»Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie eine brillante Studentin, weshalb wir Sie auch zu uns geholt haben. Aber dann haben Sie volle drei Jahre gebraucht, um Ihre Dissertation zu schreiben.«
»Aber Dr. Blakewood, erinnern Sie sich denn nicht mehr, wie viel ich mit der Ausgrabung am Rio Puerco zu tun hatte und...« Sie hielt inne, als Blakewood abermals die Hand hob.
»Ja, ich weiß. Aber wie alle gehobenen akademischen Einrichtungen stellen wir nun einmal gewisse Ansprüche an unsere Mitarbeiter. Und zu diesen Ansprüchen gehört es, dass sie wissenschaftliche Veröffentlichungen vorlegen. Da Sie gerade auf die Ausgrabung am Rio Puerco zu sprechen kommen, darf ich Sie fragen, wo Ihr schriftlicher Bericht darüber bleibt?«
»Nun, gleich danach haben wir doch diese ungewöhnliche verbrannte Hütte am Gallegos Divide gefunden, die...«
»Nora!«, unterbrach sie Blakewood ein wenig ungehalten. »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren«, sagte er mit ruhigerer Stimme in die Stille hinein, die sich im Büro ausgebreitet hatte, »dass Sie von einem Projekt zum nächsten springen. In den kommenden sechs Monaten werden Sie beide Hände voll zu tun haben, um die Berichte über Ihre zwei letzten großen Ausgrabungsprojekte zu verfassen, da bleibt keine Zeit, um irgendeiner Chimäre hinterherzujagen, die höchstwahrscheinlich nur in der Fantasie irgendwelcher spanischer Konquistadoren existiert hat.«
»Aber es gibt diese Stadt wirklich!«, platzte Nora heraus. »Mein Vater hat sie gefunden!«
Ein ungewohnter Ausdruck ungläubigen Erstaunens machte sich auf Blakewoods sonst so gelassenem Gesicht breit. »Ihr Vater?«, fragte er.
»Ja, mein Vater. Er ist einer alten Anasazi-Straße gefolgt, die ihn tief in das Canon-Gebiet am Kaiparowits-Plateau hineingeführt hat.
An ihrem Ende hat er einen Klettersteig entdeckt, der hinauf zu der Stadt Quivira führt. Diese Reise hat er schriftlich festgehalten.«
Blakewood seufzte. »Jetzt verstehe ich Ihren Enthusiasmus, Nora. Ich möchte keine Kritik an Ihrem Vater üben, aber er war nie besonders...« Der Direktor ließ den Satz unvollendet, aber Nora wusste, dass das fehlende Wort »zuverlässig« gelautet hätte. Sie spürte, wie ihr ein unangenehmes Kribbeln die Wirbelsäule hinauflief. Sei vorsichtig, sagte sie sich, sonst bringst du dich noch um deinen Job. Sie schluckte schwer.
Blakewood senkte die Stimme. »Nora, wissen Sie eigentlich, dass ich Ihren Vater gekannt habe?«
Nora schüttelte den Kopf. Viele Leute hatten ihren Vater gekannt. Schließlich war die Gemeinde der Archäologen in Santa Fe ziemlich klein. Auch wenn Pat Kelly den Wissenschaftlern ab und zu wertvolle Tipps gegeben hatte, war er bei ihnen allerdings nicht allzu beliebt gewesen. Viele von ihnen hatten es nicht sonderlich geschätzt, dass er als Laie diverse Ruinen auf eigene Faust ausgegraben hatte.
»In vielerlei Hinsicht war Ihr Vater ein bemerkenswerter Mann und ein brillanter Kopf. Aber er war auch ein Träumer, der oft das nötige Interesse an den beweisbaren Fakten vermissen ließ.«
»Aber er hat geschrieben, dass er die Stadt gefunden hat...«
»Sie haben vorhin lediglich von einem prähistorischen Klettersteig gesprochen, Nora, aber davon gibt es unzählige in einem Canon- Gebiet wie diesem. Hat Ihr Vater denn explizit geschrieben, dass er die Stadt entdeckt hat?«
Nora zögerte. »Nein, nicht direkt, aber...«
»Dann habe ich alles gesagt, was ich zu der von Ihnen vorgeschlagenen Expedition - und zu der Verlängerung Ihres Vertrages - zu sagen habe.« Blakewood faltete seine alten Hände, deren blasse Haut vor dem dunklen Holz der Schreibtischplatte fast durchsichtig wirkte. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte er mit sanfterer Stimme.
»Nein«, erwiderte Nora. »Nichts.« Sie schob ihre Papiere zusammen und steckte sie in ihre Aktentasche. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ das Büro.