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In dieser Nacht trommelte ein leichter, aber beständiger Regen auf die Zelte der Quivira-Expedition, doch als der Morgen anbrach, war der Himmel wieder wolkenlos blau. Als Nora, die abwechselnd mit Smithback Wache gehalten und nur wenig geschlafen hatte, aus ihrem Zelt kroch, war sie froh, dass es wieder hell wurde. Die kühle Luft war vom Gesang der Vögel erfüllt, und an den Blättern der Bäume hingen dicke, im Licht der aufgehenden Sonne glitzernde Tropfen.

Noras Stiefel versanken im nassen aufgeweichten Sand, und sie konnte sehen, dass der Fluss etwas mehr Wasser führte, was aber nicht weiter bedenklich war. Den Guss in der Nacht hatte die Erde noch aufnehmen können, aber jetzt war sie mit Wasser gesättigt, so dass weiterer Regen unweigerlich Hochwasser zur Folge haben würde. Auch aus diesem Grund war es notwendig, so rasch wie möglich aufzubrechen. Nora wollte nicht in diesem Tal festsitzen.

Sie blickte hinüber zu den Gepäcksäcken, die für den Rücktransport durch den Slot-Canon nebeneinander aufgereiht dalagen. Sie hatten vor, nur das Notwendigste an Ausrüstung wie Zelte, Proviant, wichtige Geräte und Aufzeichnungen mitzunehmen. Den Rest wollten sie in einem leeren Haus von Quivira verstecken.

Bonarotti wurde heute seinem Ruf als Spätaufsteher nicht gerecht und hantierte bereits mit der Espresso-Kanne herum, die durch ein scharfes Zischen signalisierte, dass der Kaffee soeben fertig geworden war. Der Italiener sah hinüber zu Nora, die sich gerade den Schlaf aus den Augen rieb. »Wollen Sie Kaffee?«, fragte er und gab ihr, nachdem sie stumm genickt hatte, eine dampfende Tasse in die Hand. »Ist wirklich Gold in dem Kiva?«, fragte Bonarotti dann bedächtig.

Nora ließ sich auf einem Baumstamm nieder und nahm einen Schluck von ihrem Espresso. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, bestimmt nicht. Die Anasazi hatten kein Gold.«

»Weshalb sind Sie sich dessen so sicher?«

Nora seufzte. »Sie können mir das ruhig glauben, Luigi. In eineinhalb Jahrhunderten archäologischer Ausgrabungen hat man in den Ruinen der Anasazi nicht das kleinste Stäubchen Gold gefunden.«

»Aber was ist mit dem, was Dr. Black gesagt hat?«

Nora schüttelte abermals den Kopf. Wenn ich die Expedition heute nicht aus dem Tal bekomme, schaffe ich es nie mehr, dachte sie. »Black hat Unrecht. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«

Der Koch goss Nora Kaffee nach und trottete dann mit enttäuschter Miene zurück zum Feuer. Während Nora langsam ihre Tasse leerte, kamen auch die anderen aus ihren Zelten. Als sie sich einer nach dem anderen ans Feuer setzten, wurde Nora klar, dass sich die Spannung des vergangenen Tages nicht aufgelöst hatte. Im Gegenteil, es kam ihr so vor, als hätte sie sich über Nacht noch verstärkt. Black beugte sich mit düsterem Gesicht über seinen Kaffee, während Smithback, nachdem er Nora müde zugelächelt hatte, sich auf einen Felsen zurückzog, um schweigend etwas in sein Notizbuch zu schreiben. Auch Aragon machte einen abwesenden, in sich gekehrten Eindruck, und Sloane, die als Letzte aufstand, vermied den Blickkontakt mit Nora völlig. Sie alle sahen so aus, als hätten sie kaum ein Auge zugetan.

Nora beschloss, möglichst rasch den Aufbruch in die Wege zu leiten und niemandem Zeit zum Grübeln zu lassen. Nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, räusperte sie sich und sagte: »Also Leute, packen wir's an. Enrique macht seinen Arztkoffer für den Abmarsch klar, Luigi verstaut die Küchenutensilien, und Aaron klettert nach oben und besorgt den neuesten Wetterbericht.«

»Aber wir haben doch blauen Himmel«, protestierte Black mürrisch.

»Hier schon«, erwiderte Nora. »Aber die Regenzeit hat begonnen, und in diesem Tal läuft das ganze Wasser vom Kaiparowits-Plateau zusammen. Wenn es dort regnet, gibt es hier eine Sturzflut, auch wenn direkt über uns kein Tropfen fällt. Ohne einen Wetterbericht lasse ich niemanden in den Slot-Canon.«

Nora warf einen Blick hinüber zu Sloane. Die junge Frau hatte offensichtlich kaum zugehört.

»Wenn gutes Wetter vorhergesagt wird, treffen wir die letzten Vorbereitungen zum Abmarsch. Sie, Aaron, blockieren dann den Zugang zu der Höhle mit dem Sonnen-Kiva. Und sehen Sie zu, dass Sie den Steinhaufen wieder genauso aufschichten, wie Sie ihn vorgefunden haben. Sloane bringt inzwischen mit Smithback die letzten Packsäcke hinauf in die Stadt, und ich selbst werde die erste Ladung Gepäck durch den Slot-Canon schaffen.«

Sie sah sich um. »Weiß jetzt jeder, was er zu tun hat? Ich möchte, dass wir spätestens in zwei Stunden von hier verschwunden sind.« Alle nickten bis auf Sloane, die mit einem verschlossenen, unzugänglichen Gesicht da hockte. Nora fragte sich, was sie tun sollte, wenn Sloane sich in letzter Minute weigern würde, das Tal zu verlassen. Black würde nicht bleiben, das wusste sie, denn tief in seinem Innern war er ein Feigling. Aber bei Sloane war sie sich nicht so sicher. Darüber werde ich mir den Kopf erst dann zerbrechen, wenn es so weit ist. beschloss sie.

Beim Aufstehen sah sie Swire aus dem Slot-Canon zurück ins Tal kommen. Etwas an der Art, wie er auf die Gruppe zukam, erfüllte Nora mit Angst. Hoffentlich ist nicht schon wieder was mit den Pferden, schoss es ihr durch den Kopf.

Swire watete durch den Fluss und legte die letzten paar Meter bis zum Lager im Laufschritt zurück. »Jemand hat sich an Holroyds Leiche zu schaffen gemacht!«, rief er, nach Atem ringend.

»Jemand?«, fragte Aragon scharf. »Sind Sie sicher, dass es keine Tiere waren?«

»Tiere schneiden keine Zehen- und Fingerkuppen ab und skalpieren auch niemanden. Außerdem bohren sie keine Löcher in den Hinterkopf. Holroyd liegt im Bach, nicht weit entfernt von der Höhle, in der wir ihn versteckt haben.«

Die Expeditionsteilnehmer sahen sich entsetzt an. Smithbacks Gesichtsausdruck entnahm Nora, dass auch er an das dachte, was Beiyoodzin ihnen erzählt hatte. »Peter...« Noras Stimme versagte. Sie schluckte. »Haben Sie nach den Pferden gesehen, Roscoe?«, hörte sie sich nach einer kurzen Pause sagen.

»Die Pferde sind okay«, antwortete Swire.

»Und stehen sie bereit?«

»Ja.«

»Dann haben wir keine Zeit zu verlieren«, fuhr Nora fort. Sie stand auf und stellte ihre Tasse auf Bonarottis Küchenplane. »Vergessen Sie meine Aufgabenverteilung von vorhin. Von jetzt an geht niemand mehr irgendwo alleine hin. Sie, Sloane, klettern mit Aaron nach oben und hören den Wetterbericht ab. Wenn wir wissen, woran wir sind, gehe ich in den Slot-Canon und schaffe Peters Leiche zu den Pferden. Dabei brauche ich jemanden, der mir hilft.«

»Ich komme mit«, erklärte Smithback sofort.

Nora nickte ihm dankbar zu.

»Ich auch«, sagte Aragon. »Ich möchte mir die Leiche ansehen.«

»Aber Sie haben Wichtigeres zu tun«, fing Nora an, verstummte aber, als sie die Entschlossenheit in Aragons Gesicht sah. »Na schön«, sagte sie und wandte sich ab. »Wir können jede Hilfe gebrauchen.«

Nora blickte die anderen, die wie versteinert dastanden, nacheinander an, und dann machten sich all die Anspannung und Angst der letzten Nacht, die von dem Gedanken an das, was mit Peters Leiche geschehen war, nun noch verstärkt wurde, in einem plötzlichen Ausbruch von Erbitterung Luft. »Was stehen Sie hier noch blöd herum?«, polterte sie los. »Setzen Sie sich gefälligst in Bewegung, verflucht nochmal!