62

Grelle Blitze ließen Sloane blinzeln, während sie Nora im Regen verschwinden sah. Sie rannte in Richtung auf den Felsrutsch am Ende des Tales, wo sie sich wohl verstecken wollte. Mit der Hand am Griff der Pistole schaute Sloane ihr nach, aber sie zog die Waffe nicht und machte auch keine Anstalten, Nora zu verfolgen.

Unschlüssig blieb sie stehen. Der Schock, Nora lebendig vor sich zu sehen, war langsam verebbt und hatte in ihrem Kopf ein wildes Durcheinander hinterlassen. Nora hatte sie des Mordes bezichtigt. Des Mordes! Sloane selbst sah sich nicht als Mörderin. Als sie sich Noras Worte noch einmal ins Gedächtnis rief, spürte sie, wie kalte Wut in ihr aufzusteigen begann. Nora hatte sie nach dem Wetterbericht gefragt - und sie hatte ihn wortwörtlich wiedergegeben. Wenn Nora bloß nicht so stur gewesen wäre, wenn sie nicht darauf beharrt hätte, das Tal zu verlassen...

Sloane atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie musste gut nachdenken und dann sorgsam und entschlossen handeln. Sie wusste, dass Nora keine Waffe hatte und damit keine akute Bedrohung darstellte. Ganz anders würde die Sache freilich aussehen, wenn sie irgendwo in der Dunkelheit Swire oder Bonarotti über den Weg liefe.

Sloane fuhr sich mit dem Handrücken über die vom Regen feuchte Stirn. Wo steckten Swire und Bonarotti überhaupt? Sie waren weder in der Stadt noch im Lager. Bestimmt standen sie nicht irgendwo in der Dunkelheit herum und ließen sich vom Regen durchnässen. So etwas tat nicht einmal ein Dickkopf wie Swire.

Sloanes Gedanken wanderten zurück zu dem wunderbaren Fund, den sie soeben gemacht hatte und der selbst die Entdeckung von Quivira noch in den Schatten stellte. Wenn es nach Nora gegangen wäre, hätte sie die herrliche Keramik in dem Sonnen-Kiva niemals zu Gesicht bekommen. Allein der Gedanke stachelte Sloanes Wut an. Trotz Noras Störfeuer war alles besser gelaufen, als sie es je zu hoffen gewagt hatte. Alles, was sie sich je erträumt hatte, war da oben in diesem Kiva und wartete nur darauf, dass Sloane es als ihre ganz persönliche Entdeckung der Welt präsentierte. Die meiste Arbeit war getan. Black war ihr vollkommen ergeben, und Bonarotti und selbst Swire würden sich auf ihre Seite ziehen lassen. Fast erstaunt wurde sich Sloane auf einmal bewusst, das alles schon viel zu weit fortgeschritten war, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Nun, da Aragon und Smithback tot waren, blieb als Einzige Nora Kelly, die ihr noch im Weg stand.

Aus der Dunkelheit hörte sie auf einmal ein leises Husten. Sie wirbelte herum und zog instinktiv die Pistole. Das Geräusch war aus der Richtung des Sanitätszeltes gekommen.

Während Sloane vorsichtig auf das Zelt zuging, holte sie ihre Taschenlampe aus der Hosentasche. Sie deckte den Strahl mit der Hand ab und schaltete sie an. Am Eingang des Zeltes blieb sie stehen und überlegte. Es musste Swire oder Bonarotti sein, denn sonst war ja niemand mehr im Tal. Hatten sie die Unterhaltung zwischen ihr und Nora mitbekommen? Ein panikartiges Gefühl wallte kurz in ihr auf, dann duckte sie sich und kroch mit gezogener Waffe in das Zelt.

Zu ihrer grenzenlosen Überraschung fand sie dort Bill Smithback vor, der unter einer Decke lag und schlief. Eine Weile starrte sie den Journalisten schweigend an, bis sie endlich begriff, was Sache war. Nora hatte nur von Aragons Tod gesprochen. Offenbar war es nicht nur ihr, sondern auch Smithback irgendwie gelungen, die Sturzflut lebend zu überstehen.

Sloane kniete nieder und ließ die Taschenlampe fallen. Das war nicht fair. Bisher war alles so gut gelaufen. Vielleicht hätte sie sogar einen Weg gefunden, mit Nora fertig zu werden, aber jetzt, da auch Smithback am Leben war...

Der Journalist schlug die Augen auf und blinzelte. »Oh, hallo«, sagte er, während er den Kopf hob und vor Schmerz zusammenzuckte.

Aber Sloane sah ihn nicht an.

»Ich dachte, ich hätte jemanden rufen gehört«, sagte Smithback. »Oder habe ich das bloß geträumt?«

Mit einer Bewegung ihrer Pistole brachte Sloane ihn zum Schweigen.

Smithback blinzelte sie an. »Was wollen Sie mit der Waffe?«

»Halten Sie den Mund!«, befahl Sloane. »Ich muss nachdenken.«

»Wo ist Nora?«, fragte Smithback, dessen Gesicht sich argwöhnisch verfinsterte.

»Ich schätze, sie hat sich beim Felssturz am Ende des Tales versteckt«, antwortete Sloane nach kurzem Zögern. In ihrem Kopf begann sich ein Plan zu formen.

Smithback versuchte sich auf einen Ellenbogen zu stützen, sank aber wieder zurück in seinen Schlafsack. »Wieso versteckt sie sich? Was ist geschehen?«

Sloane atmete tief ein. Ja, bestätigte sie sich innerlich ihren Beschluss, es geht nun mal nicht anders.

»Warum versteckt sich Nora?«, fragte Smithback ein zweites Mal mit mehr Nachdruck. Seiner Stimme war es deutlich anzuhören, dass er sich Sorgen machte.

Sloane sah ihn an. Sie musste jetzt stark sein. »Weil ich sie töten werde«, antwortete sie, so ruhig sie nur konnte.

Vor Schmerz leise stöhnend, versuchte Smithback sich erneut aufzurichten. »Anscheinend habe ich schon Fieberfantasien«, sagte er, während er wieder niedersank. »Ich dachte schon, Sie hätten gesagt, dass Sie Nora töten wollten.«

»Das habe ich auch.«

Smithback schloss die Augen.

»Nora lässt mir keine andere Wahl«, erklärte Sloane und versuchte, sich keine Gefühle zu gestatten.

Smithback sah sie verwundert an. »Das ist wohl ein schlechter Scherz?«

»Nein, das ist kein Scherz. Ich bin hier, weil ich darauf warte, dass sie zu Ihnen zurückkommt.« Sloane schüttelte den Kopf. »Das tut mir wirklich alles sehr Leid, Bill, das können Sie mir glauben. Aber Sie sind nun mal mein Köder. Nora wird dieses Tal niemals ohne Sie verlassen.«

Smithback nahm all seine Kräfte zusammen und versuchte mit schmerzverzerrtem Gesicht ein weiteres Mal, sich aufzurichten.

Sloane entsicherte ihre Pistole.

»Warum tun Sie das?«, fragte Smithback.

»Das ist wohl die entscheidende Frage, Bill«, sagte Sloane sarkastisch. Ungewollt kehrte ihre Wut auf Nora wieder. »Sie sind hier doch der Journalist. Finden Sie es heraus!«

Smithback starrte sie entgeistert an. »Sie sind krank, Sloane.«

»Solches Gerede erleichtert mir das, was ich tun muss, kolossal.«

Der Journalist befeuchtete sich die Lippen. »Warum, Sloane?«, fragte er noch einmal.

Mit einem Ruck drehte sich Sloane zu ihm um. Sie wurde immer wütender. »Wollen Sie wirklich wissen, warum? Wegen der von Ihnen so hoch geschätzten Nora. Wegen Nora, die mich tagtäglich an meinen lieben Vater erinnert. Nora, die ständig alles unter Kontrolle haben muss und allen Ruhm für sich allein beansprucht. Nora, die sich herausnimmt, das Sonnen-Kiva einfach links liegen zu lassen. Das Kiva, welches, nebenbei bemerkt, einen außergewöhnlich wichtigen Fund enthält, einen Schatz, von dem Sie alle, Nora mit eingeschlossen, nicht einmal die leiseste Ahnung hatten.«

»Dann haben Sie also doch Gold gefunden«, murmelte Smithback.

»Gold!«, schnaubte Sloane verächtlich. »Ich spreche nicht von Gold, ich spreche von Keramik.«

»Keramik?«

»Offenbar sind Sie genauso borniert wie die anderen«, fauchte Sloane, die sich über den ungläubigen Unterton in Smithbacks Stimme ärgerte. »Dann hören Sie mir jetzt mal gut zu, Herr Journalist. Vor fünfzehn Jahren hat das Metropolitan Museum eine Million Dollar für den Euphronios-Krater bezahlt, das ist weiter nichts als ein angeschlagener Weinkelch aus dem alten Griechenland. Und erst im vergangenen Monat erzielte eine kleine, zerbrochene Schale aus dem Mimbres-Tal bei Sotheby's einen Preis von fast hundert Riesen. Die Keramik in dem Sonnen-Kiva ist nicht nur unendlich viel schöner als diese beiden Beispiele, sie ist auch ungleich seltener. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Stücke, die wir dort gefunden haben, die einzigen intakten Exemplare ihrer Art sind. Doch das ist Ihrer Nora vollkommen schnuppe. Die hat nichts anderes im Kopf, als mich des Mordes zu bezichtigen und meine Karriere zu ruinieren.«

Sloane schüttelte verbittert den Kopf. »Sie sind Journalist und kennen sich deshalb mit den Menschen aus, Bill. Helfen Sie mir bei der Entscheidung, die ich jetzt treffen muss. Ich habe zwei Möglichkeiten: Entweder ich kehre als die Entdeckerin des größten archäologischen Fundes dieses Jahrhunderts in die Zivilisation zurück -oder aber als eine Verbrecherin, die möglicherweise den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen muss. Was würden Sie an meiner Stelle tun?«

Smithback gab keine Antwort.

»Sehen Sie?«, sagte Sloane. »Mir bleibt gar keine andere Wahl.

Wenn Nora zu Ihnen zurückkehrt, muss ich sie töten.«

Mit Mühe gelang es Smithback, seinen Oberkörper aufzurichten. »Nora!«, krächzte er, so laut er konnte. »Bleib weg! Sloane ist hier und will dich...«

Weiter kam er nicht, denn Sloane schlug ihm mit dem Lauf ihrer Pistole auf den Kopf. Bewusstlos sackte Smithback zusammen.

Sloane sah sich in dem Zelt um. Sie entdeckte eine kleine, batteriebetriebene Laterne, die sie anschaltete und in eine Ecke stellte. Dann knipste sie ihre Taschenlampe aus, steckte sie ein und schlüpfte leise nach draußen.

Ein paar Meter von dem Zelt entfernt fand sich ein kleines Dickicht aus Wüstensträuchern, in dem man sich gut verstecken konnte. Auf allen vieren krabbelte Sloane in das Gestrüpp und legte sich so auf den Bauch, dass sie das Zelt gut im Blickfeld hatte. Die Lampe im Inneren ließ die Wände des Zeltes warm und einladend leuchten und sorgte dafür, dass jeder, der das Zelt betreten wollte, sich vor dieser hellen Fläche abhob. Wenn Nora zurückkam, um nach Smithback zu sehen - und daran zweifelte Sloane keinen Augenblick -, dann würde ihre Silhouette ein perfektes Ziel abgeben.

Sloane dachte kurz an Black, der krank und allein oben im Kiva lag und auf ihre Rückkehr wartete. Dann versuchte sie, sich mental auf das vorzubereiten, was sie nun tun wollte. Wenn sie mit Nora abgerechnet hatte, würde sie ihre Leiche so rasch wie möglich zum Fluss schleifen, dessen Fluten sie binnen weniger Sekunden in den Fleischwolf des engen Slot-Canons am Ende des Tales befördern würden. Sollte wirklich jemals ein Überbleibsel aus dem Colorado River gefischt werden, wäre das Material sicher nicht ausreichend, um daran eine Obduktion vornehmen zu können. Wenn alles nach Plan verlaufen wäre und die Sturzflut Nora getötet hätte, wäre das Ergebnis auch nicht anders gewesen. Niemand würde je die Wahrheit erfahren. Vorausgesetzt, Smithback erlitt dasselbe Schicksal. Sloane schloss einen Moment lang die Augen und versuchte, nicht daran zu denken, dass sie den Journalisten ebenfalls würde umbringen müssen. Aber es blieb ihr keine andere Wahl, sie musste jetzt vollenden, was die