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Black ließ sich erschöpft und durchnässt neben dem erloschenen Feuer niedersinken und beachtete dabei kaum den Regen, der bald nach der Sturzflut eingesetzt hatte und ihm nun auf Kopf und Schultern prasselte.

Obwohl die eigentliche Sturzflut schon seit fast drei Stunden vorüber war, führte der Fluss noch immer starkes Hochwasser. Die braunen gurgelnden Wogen, die sich beständig durch das Tal wälzten, kamen Black wie der muskulöse Körper eines riesigen Ungeheuers vor. Er sah den Fluten hinterher, wie sie um die Stämme der wenigen noch verbliebenen Pappeln herum auf den Slot-Canon am anderen Ende des Tales zudrängten. Hier, wo sie von den Felswänden wieder auf engen Raum zusammengepresst wurden, schleuderten sie Schaum und dichte Sprühnebel hinauf in den wolkenverhangenen Himmel.

Fast zwei Stunden lang hatten sie alle am Wasser gestanden und unter Sloanes Leitung mit Seilen und Stangen auf etwaige Überlebende der Sturzflut gewartet. Black hatte noch nie einen so engagierten Einsatz gesehen - oder ein so gutes Beispiel für perfekte Schauspielerei. Er wischte sich mit der Hand über die Augen und beugte sich vor. Vielleicht war es ja auch kein Theater gewesen. Aber Black war jetzt einfach zu erschöpft, um noch groß darüber nachzudenken.

Schließlich hatten sich alle bis auf Sloane vom Fluss zurück ins Lager begeben. Dort hatten sie die vom Wind verstreuten Packsäcke wieder zusammengesammelt, die Zelte erneut aufgeschlagen und die von den Fluten angespülten Baumstämme und Zweige weggeräumt. Niemand hatte viel gesagt, aber alle hatten sie mitgeholfen. Es war, als hätten sie unbedingt etwas tun müssen, irgendetwas Konstruktives. Alles war besser als am Ufer zu stehen und untätig ins vorbeirauschende Wasser zu starren.

Black atmete tief durch und sah sich um. Neben ihm lagen die Säcke mit der Ausrüstung, die eigentlich durch den Slot-Canon hätten transportiert werden sollen. Das war jetzt unmöglich geworden, so dass Black die ordentlich aufgereihten Packsäcke wie eine Ironie des Schicksals vorkamen.

Bonarotti begann seine Kochutensilien wieder auszupacken. Diese Tätigkeit war, mehr als alles andere, ein stummes Eingeständnis, dass an ein Weggehen aus dem Tal vorerst gar nicht zu denken war. Nachdem Bonarotti einen Gaskocher zusammengesetzt hatte, stellte er eine Espresso-Kanne darauf und schützte sie mit seinem Körper vor dem Regen. Bald gesellte sich Swire, der mitgenommen und deprimiert aussah, dazu, und ein paar Minuten später kam auch Sloane mit langsamen Schritten vom Fluss herauf. Bonarotti versorgte alle mit Kaffee, den Black dankbar in großen Schlucken trank. Wohltuend breitete sich die Wärme des heißen Getränks in seinen schmerzenden Gliedern aus.

Nachdem Sloane ihre Tasse von Bonarotti in Empfang genommen hatte, sah sie von dem Koch hinüber zu Swire, bevor sie ihren Augen mit einem vielsagenden Blick auf Black ruhen ließ. Erst dann brach sie ihr Schweigen. »Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass Nora, Bill und Enrique die Sturzflut nicht überlebt haben«, sagte sie mit leiser Stimme. »Sie hatten einfach nicht genügend Zeit, um rechtzeitig aus dem Slot-Canon herauszukommen.«

Sie hielt inne, und Black lauschte dem Rauschen des Wassers und dem Trommeln des Regens.

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Bonarotti.

Sloane seufzte. »Da unsere Funkgeräte kaputt sind, können wir keine Hilfe rufen. Aber selbst wenn sich eine Rettungsexpedition bereits auf den Weg gemacht haben sollte, würde sie mindestens eine Woche brauchen, bis sie hier wäre. Vielleicht auch länger. Da der einzige Ausgang aus diesem Tal vom Hochwasser blockiert ist, müssen wir warten, bis die Flut wieder sinkt. Wenn es allerdings so weiterregnet wie jetzt, wird das eine ganze Weile dauern. «Black und Bonarotti hielten sich an ihren Kaffeetassen fest und hörten Sloane niedergeschlagen zu, während Swire ausdruckslos vor sich hin starrte und von dem Geschehenen noch immer wie betäubt zu sein schien.

»Wir haben getan, was wir konnten«, fuhr Sloane fort. »Glücklicherweise hat ein Großteil unserer Ausrüstung die Sturzflut unbeschadet überstanden. Das ist die gute Nachricht.« Sie senkte ihre Stimme. »Die schlechte - die schreckliche - Nachricht ist, dass wir nach Peter Holroyd drei weitere Kollegen verloren haben, darunter die Leiterin unserer Expedition. Ich fürchte, dass wir alle diese Tragödie in ihrem ganzen Ausmaß noch nicht begriffen haben.«

Sloane machte eine kurze Pause. »Wir können nichts tun, um sie wieder lebendig zu machen, aber wir können um sie trauern. Und wir werden viel Zeit haben, um an sie zu denken - Tage, vielleicht sogar Wochen. Ich möchte Sie jetzt bitten, mit mir zusammen ein stilles Gebet für Nora Kelly, Bill Smithback, Enrique Aragon und Peter Holroyd zu sprechen.«

Sie senkte den Kopf, und zwei Minuten lang lag eine tiefe Stille, die nur vom Rauschen des Wassers begleitet wurde, über dem Lagerplatz. Black schluchzte. Trotz all der Feuchtigkeit ringsum fühlte sich seine Kehle schmerzhaft trocken an.

Nach einer Weile blickte Sloane wieder auf. »Gut. Und nun sollten wir uns daran erinnern, wer wir sind und weshalb wir eigentlich hier sind. Wir kamen in dieses Tal, um eine vergessene Stadt zu erforschen und wissenschaftlich zu dokumentieren. Vor ein paar Minuten haben Sie mich gefragt, was wir jetzt tun sollen, Luigi. Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Solange wir hier sind, müssen wir uns unseren Aufgaben widmen.«

Sie hielt inne und trank einen Schluck Kaffee. »Wir dürfen jetzt nicht demoralisiert die Flinte ins Korn werfen und nur auf Rettung warten, von der wir nicht einmal wissen, ob sie überhaupt kommt. Wir müssen uns beschäftigen, und zwar mit produktiver Arbeit.« Sloane sprach langsam und überlegt und blickte bei jedem neuen Satz die anderen an. »Und die produktivste Arbeit haben wir noch vor uns: die wissenschaftliche Untersuchung des Sonnen-Kivas.«

Bei diesen Worten verschwand der abwesende Ausdruck aus Swires Gesicht. Er hob den Kopf und sah Sloane erstaunt an.

»Was heute geschehen ist, war eine Tragödie«, fuhr Sloane, die jetzt rascher sprach, fort. »Aber es liegt an uns zu verhindern, dass das Opfer unserer vier Kollegen völlig sinnlos war. Das Sonnen-Kiva ist der wichtigste Fund dieser ohnehin schon spektakulären Expedition. Es zu erforschen ist der beste Weg, um sicherzustellen, dass Nora, Peter, Enrique und Bill nicht wegen ihres tragischen Todes, sondern wegen ihrer Entdeckungen in Erinnerung bleiben werden.« Sie machte eine kurze Pause und fügte noch hinzu: »Wenn Nora noch am Leben wäre, würde sie mir sicher zustimmen.«

»Meinen Sie wirklich?«, meldete sich Swire plötzlich zu Wort. Erstaunen und Verwirrung in seinem Gesicht waren einem Ausdruck der Verachtung gewichen. »Haben Sie denn schon ganz vergessen, weshalb Sie Nora von Ihren Aufgaben entbunden hat?«

»Sie haben einen Einwand, Roscoe?«, fragte Sloane. Ihr Ton war sanft, doch ihre Augen funkelten.

»Nein, ich habe eine Frage«, erwiderte Swire. »Und zwar betrifft sie den Wetterbericht, den Sie Nora übermittelt haben.«

Black spürte, wie sich vor Angst sein Magen verkrampfte, aber Sloane bedachte den Cowboy, der sie herausfordernd anstarrte, lediglich mit einem ihrer kühlen Blicke. »Was ist damit?«, fragte sie.

»Die Sturzflut kam zwanzig Minuten, nachdem Sie gutes Wetter verkündet hatten.«

Sloane sah Swire gelassen an und nahm absichtlich in Kauf, dass sich eine unangenehme Spannung aufbaute. »Sie müssten eigentlich doch am besten wissen, wie launisch und wie unterschiedlich von Ort zu Ort das Wetter hier draußen sein kann«, sagte sie schließlich in einem merklich kälteren Ton als zuvor.

Black konnte an Swires Gesicht ablesen, wie dessen Überzeugung ins Wanken kam.

»Kein Mensch kann sagen, woher das Wasser so plötzlich kam. Das Gewitter, von dem es stammt, kann weiß Gott wo niedergegangen sein.«

Swire schien ihre Worte erst einmal verdauen zu müssen. Dann sagte er gedämpft: »Aber von da oben, wo Sie waren, hatten Sie einen verdammt guten Überblick.«

Sloane rückte näher an ihn heran. »Wollen Sie damit behaupten, ich sei eine Lügnerin, Roscoe?«

Ihr seidenweicher Ton hatte etwas unterschwellig Bedrohliches, das Swire zurückzucken ließ. »Ich behaupte gar nichts, aber soviel ich weiß, hat Nora Ihnen verboten, das Kiva zu öffnen.«

»Und soviel ich weiß, sind Sie hier lediglich für die Pferde zuständig und für sonst gar nichts«, konterte Sloane eisig. »Im Hinblick auf die Ausgrabung haben Sie nicht das Geringste mitzureden.«

Swire starrte sie zähneknirschend an. Dann stand er unvermittelt auf und entfernte sich ein paar Schritte von der Gruppe.

»Sie haben gesagt, dass man sich an Nora erinnern wird, wenn Sie dieses Kiva öffnen«, sagte er und spuckte aus. »Aber das stimmt nicht. Sie werden diejenige sein, an die man sich erinnert, und das wissen Sie verdammt genau.«

Mit diesen Worten verließ er den Lagerplatz und verschwand in dem kleinen Pappelwäldchen.