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Als John Beiyoodzin sein Pferd den schmalen Pfad ins Tal von Chilbah hinunterlenkte, verschlechterte sich seine Stimmung zusehends. Von der ersten Kehre aus konnte er schon die Pferde der Expedition sehen, die gerade am Fluss standen und tranken. Der schmale Wasserlauf mäanderte in der Mitte eines breiten, von Rissen durchfurchten Hochwasserbetts dahin, in dem große Felsbrocken und Baumstämme lagen. Beiyoodzin blickte besorgt hinauf in den Himmel, doch die Gewitterfront verbarg sich jetzt hinter dem Gebirgskamm in seinem Rücken.
Er wusste nur zu gut, dass dieses Tal der Flaschenhals für die Fluten der großen Wasserscheide des Kaiparowits-Plateaus war, in dem alle Sturzbäche aus den verschiedenen Tälern zusammenflössen. Das Land zwischen dem Plateau und dem Colorado war unbewohnt, und die einzigen Menschen, die sich momentan in dieser Gegend aufhielten, waren die Archäologen im Tal von Quivira, das direkt im Weg des Wassers lag.
Beiyoodzin blickte nach rechts, wo das Chilbah-Tal in einer Reihe von Canons und trockenen Flussbetten auslief. Aus diesen engen, gewundenen Schluchten würde das Wasser strömen und sich im unteren Teil des Tales zu einer alles vernichtenden Flut vereinigen. Wenn niemand die Pferde der Weißen aus dem Hochwasserbett hinauf auf die höher gelegenen Terrassen brache, würden sie vom Wasser fortgespült werden. Viele Pferde seines eigenen Stammes waren solchen Sturzfluten schon zum Opfer gefallen. Es war schrecklich. Und jetzt hielten sich womöglich Menschen im nächsten Tal unterhalb der sicheren Terrassen auf oder, was noch viel schlimmer wäre, in dem engen Slot-Canon zwischen den beiden Tälern...
Er trieb sein Pferd in einem raschen Kanter den steinigen Weg hinab. Wenn er die Pferde der Weißen retten wollte, musste er sich beeilen.
Als er einige Minuten später die Talsohle erreicht hatte, war sein Pferd schweiß nass und schnaufte schwer. Während er es am Fluss kurz trinken ließ, horchte er ins Tal hinein, ob er das ihm nur allzu bekannte, oszillierende Geräusch schon vernehmen konnte, mit dem sich eine Sturzflut gewöhnlich ankündigte.
Jetzt, da es die Gewitterfront nicht mehr sehen konnte, beruhigte sich das Pferd zusehends und soff in tiefen Zügen. Nachdem es seinen Durst gelöscht hatte, ritt Beiyoodzin an den Rand des Flutbetts und zwang es die steile Böschung hinauf. Auf der felsigen Terrasse oberhalb des Baches ließ er das Tier erst traben, dann galoppieren. Solange sie hier oben blieben, waren sie in Sicherheit.
Während er zwischen den großen Felsblöcken und Vorsprüngen der Canon-Wand hindurchritt, dachte Beiyoodzin an die Menschen in dem schmalen Tal auf der anderen Seite des Slot-Canons und fragte sich, ob sie die Flut wohl würden kommen hören. Ihm war bekannt, dass es auch dort höher gelegene Terrassen auf beiden Seiten des Flusses gab, und er hoffte, dass die Weißen ihr Lager dort aufgeschlagen hatten und nicht unten am Ufer. Diese junge Frau namens Nora schien sich ja ein wenig in der Wüste auszukennen. Wenn die Archäologen schlau waren - und wenn sie die Warnzeichen richtig zu interpretieren wussten -, konnten sie die Flut überleben. Auf einmal riss Beiyoodzin am Zügel und brachte sein Pferd zu einem abrupten Halt. Während der von den Hufen des Tiers aufgewirbelte Staub sich langsam zu Boden senkte, blieb er reglos im Sattel sitzen und lauschte.
Die Flut war im Anrollen, das sagte ihm ein leichtes Zittern des Erdbodens, das er sogar durch den Körper des Pferdes hindurch noch spüren konnte. Beiyoodzin schnalzte mit der Zunge und drückte dem Tier die Fersen in die Flanken. Der Falbe fing an zu galoppieren und flog förmlich über die sandige Erde. Er sprang über Felsen, rannte an Pappeln vorbei und kam den grasenden Pferden der Weißen immer näher. Durch den Hufschlag des galoppierenden Pferdes hindurch konnte Beiyoodzin ein hässliches Geräusch hören. Es war ein Geräusch, das keine wirkliche Richtung hatte, das von überall und nirgendwo zu kommen schien und das rasch zu einem schrillen Pfeifen anschwoll. Gleichzeitig spürte Beiyoodzin einen Windzug, der als leichte Brise begann und sich in Sekundenschnelle so verstärkte, dass er die Wipfel der Pappeln bog.
Vor seinem geistigen Auge sah Beiyoodzin eine Welt, die völlig aus dem Gleichgewicht geraten war. Vor sechzehn Jahren war dieses Ungleichgewicht noch so gering gewesen, dass niemand es ernst genommen hatte. Waren das jetzt die Konsequenzen dieser Nachlässigkeit, dann waren sie in der Tat katastrophal.
Als er den Rand der Terrasse erreichte, sah Beiyoodzin im Flutbett des Baches unter sich die Pferde der Weißen. Sie hatten aufgehört zu grasen und starrten, die Ohren aufgestellt, flussaufwärts. Aber es war bereits zu spät, um sie zu retten. Jetzt noch hinunter in das Flutbett zu reiten wäre reiner Selbstmord gewesen. Beiyoodzin schrie und winkte mit dem Hut, aber seine Stimme kam nicht mehr gegen das immer lauter werdende Brüllen der Sturzflut an. Er schaffte es nicht mehr, die Aufmerksamkeit der Pferde auf sich zu lenken.
Nun fing die Erde richtiggehend an zu beben, und das Geräusch der nahenden Flutwelle wurde so stark, dass Beiyoodzin das Wiehern seines eigenen Pferdes nicht mehr hören konnte. Er blickte flussaufwärts, wo der zu Sturmstärke angeschwollene Wind die Tamarisken peitschte und die Weiden fast horizontal zu Boden drückte.
Und dann sah er sie um die Biegung des Canons kommen: eine sieben Meter hohe Flutwelle, die mit der Geschwindigkeit eines Güterzuges das Tal entlang raste und den heulenden Wind vor sich hertrieb.
Aber es war mehr als eine Wasserwand, die da auf ihn zukam. Beiyoodzin sah, dass die Flut Baumstämme, Wurzeln, Steine und eine riesige Ladung Sand und Erde mit sich führte. Als die braune Walze mit einer Geschwindigkeit von einhundertzwanzig Stundenkilometern unterhalb von ihm vorbeirollte, hatte Beiyoodzin Schwierigkeiten, seinen Falben unter Kontrolle zu haken. Die Pferde unten im Flutbett wirbelten erschrocken herum und rannten davon, doch sie hatten keine Chance. Mit einer Mischung aus Erstaunen, Grauen und ängstlicher Ehrfurcht beobachtete Beiyoodzin, wie die monströse Flutwelle sich ihnen immer weiter näherte und dann ein Tier nach dem anderen mit sich fortriss. Sie wirbelte sie herum, zerfetzte sie und stülpte ihr Inneres nach außen. Wie im Zeitraffer aufblühende Rosen verwandelten sie sich vor Beiyoodzins Augen in eine rot gekräuselte Masse aus Fleisch, Gedärmen und abgerissenen Gliedern, die rasch von der brodelnden Walze aus Wasser, Baumstämmen und Felsen verschlungen wurde.
Hinter diesem mörderischen Mahlwerk aus Holz und Steinen drängte eine schokoladenbraune, zweihundert Meter breite Flutwelle unaufhaltsam hinein in das Tal. Brodelnd und gurgelnd füllte sie das gesamte Flutbett aus und fraß sich, während sie sich zu meterhohen Wasserkämmen aufbaute, wie eine Kreissäge durch die Uferböschungen, aus denen sie gewaltige, mehrere hundert Tonnen schwere Erdstücke riss. Beiyoodzin sah zu, wie das Wasser ganze Pappeln umwarf, als wären sie Streichhölzer, und spürte, wie die Luft um ihn herum auf einmal ganz feucht wurde und nach nasser Erde und zerfetzten Pflanzen roch. Als der Boden unter ihm abzurutschen begann, trieb er sein Pferd auf eine noch höher gelegene Terrasse hinauf.
Von dort aus beobachtete er, wie die strudelnde Flutwelle auf die Felswand vor dem Slot-Canon zurauschte. Als die Wassermassen gegen die Klippe prallten, spürte Beiyoodzin unter sich die Erde beben. Eine enorme Stoß welle lief durch das abrupt zum Stillstand gebrachte Wasser nach hinten und ein Vorhang aus bräunlichem Schaum raste mit beängstigender Geschwindigkeit hundert Meter die Felswand hinauf, bis er in sich zusammenfiel und wieder nach unten klatschte.
In Minutenschnelle bildeten die vor der Felswand aufgestauten Fluten einen immer größer werdenden See, an dessen Ende das Wasser wie ein gurgelnder Mahlstrom in der Öffnung des Slot- Canons verschwand. Mannshohe Holzsplitter flogen durch die Luft, als riesige Baumstämme an den Felswänden zerfetzt wurden.
Da kam ein weiteres großes Stück der Terrasse vor ihm ins Rutschen. Beiyoodzin drehte sein Pferd und wandte dem grausigen Anblick den Rücken zu. Er ritt zum Anfang des alten Priesterpfades, der den Hintereingang zum Tal von Quivira darstellte. Nachdem er es nicht mehr geschafft hatte, die Pferde der Weißen zu retten, fragte er sich, ob überhaupt noch jemand - er selbst mit eingeschlossen - das Chilbah-Tal lebend verlassen würde.