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Nora blieb vor einer offenen Tür mit der Aufschrift SANTA FE II ARCHAEOLOGICAL INSTITUTE - VORSITZENDER DES VERWALTUNGSRATS stehen und schloss die Finger fester um den Griff ihrer Aktentasche, die sie nun ständig bei sich hatte. Während sie vorsichtig in beide Richtungen den Gang entlang spähte, fragte sie sich, ob ihre Nervosität von dem Erlebnis am vergangenen Abend oder von dem bevorstehenden Treffen mit Emest Goddard herrührte. Waren am Ende ihren Machenschaften am JPL der Institutsleitung zu Ohren gekommen? Nein, das war ausgeschlossen. Aber vielleicht wollte man sie ja aus einem anderen Grund entlassen. Weshalb hätte Emest Goddard sie sonst sprechen wollen? Nora hatte Kopfschmerzen; sie waren vermutlich auf ihren Mangel an Schlaf zurückzuführen.

Über den Vorsitzenden wusste sie nicht viel mehr als das, was sie in der Zeitung über ihn gelesen hatte, und nur ganz selten hatte sie Goddard auf dem Campus im Vorbeigehen gesehen. Auch wenn Dr. Blakewood im Großen und Ganzen die Geschicke des Instituts bestimmte, so war doch Emest Goddard als der wichtigste Geldgeber die graue Eminenz im Hintergrund. Im Gegensatz zu Blakewood hatte Goddard ein fast schon übernatürlich anmutendes Geschick im Umgang mit der Presse. So schaffte er es immer wieder, dass genau zur richtigen Zeit ein sehr wohlwollender, aber nicht zu übertrieben lobhudelnder Artikel über das Institut in einer der großen Zeitungen erschien. Über den Ursprung von Goddards sagenhaftem Reichtum hatte Nora schon die fantastischsten Theorien gehört, die von einem ererbten Ölkonzern bis zur Bergung eines U-Boots voller Nazigold gereicht hatten.

Nora atmete tief durch und nahm den Türknauf in die Hand. Vielleicht war eine Entlassung zum gegenwärtigen Zeitpunkt ja gar nicht so verkehrt, denn dann konnte sie sich frei von anderen Verpflichtungen ganz der Suche nach Quivira widmen. Nachdem das Institut in Gestalt von Dr. Blakewood ihren Vorschlag hinsichtlich einer Expedition bereits abgelehnt hatte, konnte sie sich mit Holroyds Informationen in der Hinterhand auf die Suche nach neuen Geldgebern machen.

Eine kleine, nervöse Sekretärin geleitete Nora durch das Vorzimmer in Goddards Büro. Es war kühl und leer wie eine Kirche, mit weiß getünchten Lehmziegelwänden und einem mit mexikanischen Kacheln gefliesten Boden. Anstatt des imposanten Schreibtischs, den Nora hier erwartet hatte, gab es nur einen großen Arbeitstisch aus Holz mit vielen Kratzern und anderen Spuren des täglichen Gebrauchs, auf dem mehrere Keramikschalen exakt wie Soldaten hintereinander aufgereiht waren. Das ansonsten schmucklose Büro stellte das exakte Gegenstück zu dem von Dr. Blakewood dar.

Hinter dem Tisch stand Emest Goddard, dessen mageres Gesicht von langen weißen Haaren und einem grau melierten Bart eingerahmt wurde. Ein verknittertes, seidenes Einstecktuch hing aus der Brusttasche seines Jacketts und sein grauer Anzug schien viel zu groß für seinen hageren Körper zu sein. Wäre nicht das klare, helle Funkeln in seinen blauen Augen gewesen, hätte Nora ihn fast für einen todkranken Mann gehalten.

»Hallo, Dr. Kelly«, sagte er, während er einen Bleistift aus der Hand legte und um den Tisch herum kam, um Nora zu begrüßen. »Wie schön, Sie endlich kennen zu lernen.« Er hatte eine ungewöhnlich heiser klingende Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war und dennoch eine enorme Autorität verströmte.

»Bitte, nennen Sie mich Nora«, erwiderte Nora erstaunt. Sie hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dieser freundlichen Begrüßung.

»Das will ich gerne tun«, sagte Goddard und hustete leise in sein Einstecktuch das er mit einer graziösen, fast feminin wirkenden Handbewegung aus seiner Jackett-Tasche gezogen hatte. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Oder halt, warten Sie. Werfen Sie vorher noch einen Blick auf diese Keramiken, sind Sie so nett?« Goddard stopfte das Einstecktuch wieder in die Tasche.

Nora trat an den Tisch auf dem insgesamt zwölf bemalte Schalen standen: außergewöhnlich schöne Töpfereien aus dem Mimbres-Tal in New Mexico. Drei von ihnen hatten rein geometrische Muster mit vibrierenden Rhythmen, und zwei zeigten abstrakte Insektendarstellungen - einen Stinkkäfer und eine Grille. Der Rest war mit stilisierten menschlichen Figuren dekoriert. Ein jeder der Töpfe hatte ein sauberes Loch im Boden.

»Sie sind fantastisch«, meinte Nora bewundernd.

Goddard wollte offenbar etwas sagen, was aber in einem Hustenanfall unterging. Ein Summer ertönte auf dem Arbeitstisch. »Dr. Goddard, Mrs. Henigsbaugh ist hier«, tönte die Stimme der Sekretärin aus einem Lautsprecher.

»Schicken Sie sie herein«, bat Goddard.

Nora sah ihn an. »Soll ich...«

»Nein, Sie bleiben hier«, erwiderte Goddard und deutete auf einen Stuhl. »Das dauert nicht lange.«

Die Tür ging auf und eine Frau um die Siebzig kam herein. Nora erkannte sie sofort als eine der typischen Gesellschaftsmatronen aus Santa Fe - reich, schlank, sonnengebräunt und fast ohne jedes Makeup. Die Frau hatte eine gute Figur und trug einen langen Cordrock, eine weiße Seidenbluse und eine exquisite, aber dezente Kürbisblüten-Halskette der Navajo -Indianer. »Ich bin entzückt, Emest«, sagte sie.

»Schön, Sie zu sehen, Lily«, antwortete Goddard und deutete mit seiner altersfleckigen Hand auf Nora. »Das ist Dr. Nora Kelly, eine Assistenzprofessorin hier am Institut.«

Die Frau blickte zuerst zu Nora und dann auf den Schreibtisch. »Sehr gut. Da sind ja die Schalen, von denen ich Ihnen erzählt habe.«

Goddard nickte.

»Mein Sachverständiger meint, dass sie mindestens fünfhunderttausend Dollar wert sind. Äußerst seltene Stücke, wie er sagt, und in hervorragendem Zustand. Harry hat diese Dinger gesammelt, müssen Sie wissen. Er wollte, dass das Institut sie nach seinem Tod bekommt.«

»Sie sind sehr hübsch, aber...«

»Und ob sie das sind!«, unterbrach ihn die Frau und strich sich über ihre perfekt frisierten Haare. »Und jetzt will ich Ihnen auch gleich sagen, wie ich mir vorstelle, dass sie ausgestellt werden. Ich weiß natürlich, dass das Institut kein Museum oder dergleichen hat. Aber in Anbetracht des Wertes, den diese Stücke darstellen, sollten sie an einem besonderen Ort ihren Platz finden. Ich persönlich würde für das Verwaltungsgebäude plädieren. Ich habe schon mit Simmons, meinem Architekten, gesprochen, und der hat ein paar Pläne für eine kleine Erweiterung skizziert, die wir den >Henigsbaugh-Alkoven< nennen könnten. Dort würden die...«

»Hören Sie mir doch bitte einen Moment lang zu, Lily«, unterbrach Goddard, dessen heisere Stimme einen leisen Befehlston angenommen hatte. »Wie ich gerade sagen wollte, wissen wir die Schenkung Ihres verstorbenen Mannes sehr zu schätzen, aber leider können wir sie nicht annehmen.«

Im Büro wurde es still.

»Wie bitte?«, fragte Mrs. Henigsbaugh nach ein paar Sekunden. Ihre Stimme klang plötzlich ganz frostig.

Goddard wedelte mit seinem Einstecktuch in Richtung auf den Arbeitstisch. »Diese Schalen sind Grabbeigaben, und unser Institut nimmt Stücke, die aus Gräbern geraubt wurden, nicht an.«

»Was soll das heißen: >geraubt<? Harry hat die Keramiken von seriösen Händlern gekauft. Haben Sie sich denn nicht die Papiere angesehen, die ich beigelegt habe? In denen steht nichts von Gräbern.«

»Die Papiere interessieren mich nicht, Lily. Unsere Grundregeln besagen nun einmal, dass wir Grabbeigaben nicht annehmen dürfen. Und außerdem«, fügte Goddard in einem sanfteren Ton hinzu, »sind sie zwar wirklich sehr schön, und wir fühlen uns durch die noble Geste Ihres Mannes auch sehr geehrt, aber wir haben bessere Exemplare in unseren Sammlungen.«

Bessere Exemplare, dachte Nora. Nicht einmal in der Sammlung des Smithsonian Institute hatte sie schönere Mimbres-Keramiken gesehen.

Aber Mrs. Henigsbaugh hörte Goddard kaum zu, denn sie kaute noch immer an der ersten, schwerwiegenden Beleidigung herum. »Grabbeigaben!«, fauchte sie. »Wie können Sie es wagen, meinen Mann mit Grabraub in Verbindung zu bringen?«

Goddard hob eine der Schalen hoch und steckte seinen Zeigefinger durch das Loch im Boden. »Diese Schale wurde getötet.«

»Getötet?«

»Ja. Wenn die Mimbres ihren Toten eine Schale mit ins Grab gaben, machten sie ein Loch in ihren Boden, um den Geist der Schale freizusetzen, damit er dem des Verstorbenen in die Unterwelt folgen konnte. Archäologen nennen diese Prozedur >die Schale töten<.« Er stellte das Gefäß zurück auf den Tisch. »Alle diese Keramiken wurden getötet. Daran können Sie erkennen, dass sie aus Gräbern stammen, ganz egal, was für eine Herkunft in den Papieren steht.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, dass Sie, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Spende im Wert von einer halben Million Dollar ausschlagen?«, rief die Frau erstaunt.

»So Leid es mir tut. Ich werde die Schalen sorgfältig verpacken und an Sie zurückschicken lassen«, erwiderte Goddard und hustete in sein Einstecktuch.

»Und ob Ihnen das noch Leid tun wird!«, zischte Mrs. Henisbaugh erbost. Sie drehte sich abrupt um und verließ unter Zurücklassung einer Wolke teuren Parfüms das Büro.

In der Stille, die ihrem Abgang folgte, lehnte sich Goddard an die Kante des Arbeitstischs und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Kennen Sie sich mit Mimbres-Keramiken ein wenig aus?«, fragte er.

»Ja«, antwortete Nora. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass Goddard die Schenkung zurückgewiesen hatte.

»Und was ist Ihre Meinung zu dieser Angelegenheit?«

»Andere Institutionen... haben durchaus getötete Mimbres-Schalen in ihren Sammlungen.«

»Aber wir sind nun mal nicht diese anderen Institutionen«, erwiderte Goddard in seinem heiseren Flüsterton. »Diese Schalen wurden von Menschen, die ihre Toten respektierten, in deren Gräber gelegt, und diesen Respekt sollten wir ihnen auch zollen. Ich möchte bezweifeln, dass es Mrs. Henigsbaugh gefallen würde, wenn jemand ihren lieben verstorbenen Harry wieder ausbuddeln würde.« Er setzte sich auf seinen Stuhl hinter dem Arbeitstisch. »Dr. Blakewood hat mir kürzlich einen Besuch abgestattet, Nora.«

Nora zuckte zusammen. Jetzt war es soweit.

»Er hat mir erzählt, dass es mit Ihren Projekten nicht so recht vorangeht, und äußerte die Befürchtung, dass seine Beurteilung Ihrer Arbeit wohl nicht allzu günstig für Sie ausfallen würde. Haben Sie mir dazu vielleicht irgendetwas zu sagen?«

»Dazu gibt es nichts zu sagen«, erwiderte Nora. »Wenn Sie wollen, reiche ich Ihnen auf der Stelle meine Kündigung ein.«

Zu ihrem Erstaunen musste Goddard grinsen. »Wer spricht denn von Kündigung?«, fragte er. »Wozu um alles in der Welt sollte das denn gut sein?«

Nora räusperte sich. »Es ist völlig ausgeschlossen, dass ich in sechs Monaten die Berichte über die Ausgrabungen am Rio Puerco und am Gailegos Divide zu Ende bringe, und außerdem habe ich...« Sie hörte abrupt auf zu sprechen.

»Was wollten Sie sagen?«, fragte Goddard.

»Und außerdem muss ich etwas tun, das mir sehr wichtig ist«, beendete Nora ihren Satz. »Vielleicht ist es wirklich das Beste, wenn ich jetzt gleich kündige und Ihnen so auch die Mühe erspare, mich hinauszuwerfen.«

»Verstehe.« Goddards funkelnde Augen blickten direkt in die von Nora. »Aber Sie haben gerade davon gesprochen, dass Ihnen etwas sehr wichtig sei. Könnte das vielleicht die Suche nach der vergessenen Stadt Quivira sein?«

Nora sah ihn scharf an und der alte Mann grinste abermals. »Blakewood hat mir auch davon erzählt«, erklärte er.

Nora schwieg.

»Er hat sich außerdem darüber beklagt, dass Sie kürzlich dem Institut für ein paar Tage unentschuldigt ferngeblieben sind. Hatte diese Abwesenheit vielleicht auch etwas mit Ihrer Suche nach der Stadt Quivira zu tun?«

»Ich war in Kalifornien.«

»Und das während Ihrer Dienstzeit?«

Nora seufzte. »Ich habe dafür meinen Urlaub verwendet.«

»Dr. Blakewood war da ganz anderer Ansicht. Wissen Sie denn jetzt wenigstens, wo Quivira liegt?«

»In gewisser Weise schon.«

Goddard sagte nichts. Als Nora ihm ins Gesicht sah, fiel ihr auf, dass sein Grinsen verflogen war.

»Hätten Sie vielleicht Lust, mir das etwas näher zu erklären?«

»Nein.«

Goddard brauchte eine Weile, bis er die Überraschung verdaut hatte. »Und warum nicht?«, fragte er dann.

»Weil das mein Projekt ist«, sagte Nora feindselig.

»Verstehe«, erwiderte Goddard. Er stieß sich vom Tisch ab und kam einen Schritt auf Nora zu. »Das Institut könnte Ihnen bei Ihrem Projekt behilflich sein, aber dazu müssten Sie mir zuerst sagen, was Sie in Kalifornien gefunden haben.«

Nora rutschte auf ihrem Stuhl herum und dachte nach. »Ein paar Radaraufnahmen, die eine alte Anasazi-Straße zeigen. Diese führt nach Quivira, davon bin ich überzeugt.«

»Sind Sie das wirklich?«, fragte Goddard mit erstaunter Miene. »Und wo haben Sie die Bilder her?«

»Ich habe jemanden vom Jet Propulsion Laboratory an der Hand, der für mich Radarbilder aus dem Weltraum digital bearbeitet hat. Er hat die modernen Pfade aus den Aufnahmen herausgefiltert, so dass schließlich nur noch die alte Straße zu sehen war. Sie führt direkt in ein Canon-Gebiet, das auch in den frühen spanischen Expeditionsberichten erwähnt wird.«

Goddard nickte. Sein Gesicht sah interessiert und erwartungsvoll aus. »Das ist höchst außergewöhnlich, Nora. Sie sind ganz offenbar eine Frau, die für eine Überraschung gut ist.«

Nora erwiderte nichts.

»Sicher hatte Dr. Blakewood nicht Unrecht mit dem, was er über Sie gesagt hat, aber vielleicht hat er sich sein Urteil ja etwas zu vorschnell gebildet.« Er stand auf und legte Nora sanft eine Hand auf die Schulter. »Wie wäre es denn, wenn wir die Suche nach Quivira zu unserem Projekt machen würden?«, fragte er.

Nora zögerte noch immer. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe.«

Goddard zog seine Hand zurück und ging langsam durch das Büro, wobei er es vermied, Nora anzusehen. »Was wäre, wenn das Institut Ihre Expedition finanzieren und gleichzeitig Ihren Vertrag verlängern würde? Was würden Sie davon halten?«

Nora starrte auf den schmalen Rücken des Mannes und versuchte zu begreifen, was Goddard gerade vorgeschlagen hatte. »Entschuldigen Sie meine Offenheit, aber ich würde sagen, dass das ziemlich unwahrscheinlich klingt.«

Goddard begann zu lachen, wurde dann aber von einem Hustenanfall gebremst. Mit langen Schritten kam er wieder an den Arbeitstisch. »Blakewood hat mir von Ihren Theorien und dem Brief Ihres Vaters erzählt. Er selbst war nicht gerade überzeugt davon, aber wie der Zufall es will, mache auch ich mir schon seit geraumer Zeit Gedanken über Quivira. Nicht weniger als drei frühe spanische Entdecker des Südwestens haben von Geschichten über eine sagenhafte goldene Stadt berichtet: Cabeza de Vaca im Jahr 1530, Fray Marcos 1538 und Coronado zwei Jahre später. Diese Geschichten gleichen sich zu sehr, als dass man sie als bloße Erfindungen abtun könnte. Was ist mit den Leuten, die in den Siebzigeijahren des siebzehnten und in den Dreißigeijahren des achtzehnten Jahrhunderts Erzählungen von der vergessenen Stadt dokumentiert haben?« Er ließ seinen Blick auf Nora ruhen. »Dass es die Stadt Quivira gibt, daran habe ich noch nie gezweifelt. Die Frage war bisher nur, wo sie sich befindet.«

Er lehnte sich an die Tischkante. »Nora, ich habe Ihren Vater gekannt, und wenn er schreibt, dass er Hinweise auf die vergessene Stadt gefunden hat, dann glaube ich ihm das.«

Nora biss sich auf die Unterlippe, um ihre plötzlich aufwallenden Emotionen unter Kontrolle zu halten.

»Ich bin in der Lage, Ihrer Expedition die volle Unterstützung des Instituts zu gewähren, aber dazu müssen Sie mir zeigen, was Sie in der Hand haben. Den Brief und die Daten. Wenn das, was Sie sagen, zutrifft, dann können Sie mit unserer Hilfe rechnen.«

Nora legte eine Hand auf ihre Aktentasche. Sie konnte die plötzliche Wendung der Unterredung noch immer kaum fassen. Aber sie musste auch daran denken, dass junge Archäologen häufig von älteren und erfahreneren Kollegen um den Ruhm ihrer Entdeckungen gebracht wurden. »Sie haben eben von unserem Projekt gesprochen, Dr. Goddard. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich doch lieber, dass es mein Projekt bleibt.«

»Nun, vielleicht macht es mir doch etwas aus. Wenn ich diese Expedition durch das Institut finanzieren lasse, würde ich auch gerne darüber bestimmen, was passiert - besonders in Hinsicht auf die Personen, die an ihr teilnehmen.«

»Wen haben Sie sich denn als Expeditionsleiter vorgestellt?«, wollte Nora wissen.

Es entstand eine ganz kurze Pause, in der Goddard Nora direkt in die Augen sah. »Sie natürlich. Aaron Black würde als Geochronologe mitkommen und Enrique Aragon als Expeditionsarzt und Paläopathologe.«

Nora lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und staunte, wie rasch Goddards Gehirn arbeitete. Er plante in Gedanken nicht nur die Expedition, sondern stattete sie auch gleich mit den hochkarätigsten Wissenschaftlern aus, die es auf dem jeweiligen Fachgebiet gab. »Vorausgesetzt, Sie können sie zum Mitmachen überreden«, wandte sie ein.

»Dessen bin ich mir ziemlich sicher, denn ich kenne die beiden recht gut. Außerdem wäre die Entdeckung von Quivira ein Meilenstein in der modernen Archäologie des Südwestens. Die Chance, daran teilnehmen zu können, wird sich wohl kaum ein Archäologe entgehen lassen. Und da ich persönlich leider nicht mitkommen kann« - er wedelte zur Erklärung mit seinem Einstecktuch -»möchte ich an meiner Stelle gerne meine Tochter an der Expedition teilnehmen lassen. Sie hat ihr Grundstudium am Smith College absolviert und soeben in Princeton ihren Doktor in Archäologie gemacht. Jetzt brennt sie darauf, endlich einmal richtige Feldforschung betreiben zu können. Sie ist jung und vielleicht ein bisschen ungestüm, aber sie hat ein Talent für die Archäologie, wie man es nur selten findet. Darüber hinaus ist sie eine exzellente Expeditionsfotografin.«

Nora runzelte die Stirn. Smith College, dachte sie bei sich. »Ich bin mir nicht sicher, ob das eine so gute Idee ist«, meinte sie. »Auf diese Weise könnte eine unklare Befehlshierarchie entstehen. Außerdem könnte sich die Expedition als ein ziemlich anstrengendes Unterfangen für« - sie zögerte einen Moment - »für ein Mädchen von einer Eliteuniversität erweisen.«

»Meine Tochter muss mitkommen«, sagte Goddard ruhig. »Und daß sie nicht das ist, was Sie als >Mädchen von einer Eliteuniversität< bezeichnen, werden Sie schon noch spitzkriegen.« Ein merkwürdiges, unamüsiertes Lächeln spielte einen Augenblick lang um seine Lippen.

Nora sah den alten Mann an. Sie wusste, dass er in diesem Punkt nicht mit sich würde reden lassen. Rasch ging sie ihre Möglichkeiten durch: Sie konnte die Ranch verkaufen, von dem Geld ein paar Leute nach eigenem Gusto anheuern, mit ihnen in die Wüste ziehen und hoffen, dass sie Quivira finden würde, bevor ihr die Mittel ausgingen. Oder sie konnte mit ihren Informationen zu einer anderen Institution gehen, die aber möglicherweise ein bis zwei Jahre brauchen würde, um eine Expedition zu organisieren und zu finanzieren. Andererseits konnte sie ihre Entdeckung aber auch mit einem wohlwollenden Gönner teilen, der wie kein Zweiter in der Lage war, aus den führenden Archäologen des Landes eine professionelle Expedition zusammenzustellen. Als Gegenleistung für seine Unterstützung musste sie allerdings die Tochter dieses Gönners mit in die Wüste nehmen. Besser, ich debattiere nicht über diesen Punkt mit ihm, dachte sie.

»In Ordnung«, sagte sie und lächelte. »Aber auch ich habe eine Bedingung. Ich möchte den Techniker vom JPL, der mir bei den Vorbereitungen geholfen als, als Elektronik- und Kommunikationsspezialisten mitnehmen.«

»Tut mir Leid, aber die Personalentscheidungen möchte ich mir selbst Vorbehalten.«

»Es war der Preis dafür, dass ich die Daten bekommen habe.«

Goddard dachte nach. »Können Sie sich für den Mann verbürgen?«

»Ja. Er ist jung, aber er hat enorme Berufserfahrung.«

»Dann geht das in Ordnung.«

Nora war erstaunt über Goddards Fähigkeit, eine Herausforderung anzunehmen, sie zu parieren und dann rasch eine Entscheidung zu treffen. Sie spürte, wie er ihr immer sympathischer wurde.

»Ich möchte außerdem vorschlagen, dass wir diese Unterredung geheim halten«, fuhr sie fort. »Die Expedition muss rasch und in aller Stille vorbereitet werden.«

Goddard sah sie nachdenklich an. »Darf ich fragen, weshalb?« »Weil...« Nora hielt inne. Weil ich glaube, dass ich von mysteriösen Gestalten verfolgt werde, die mit allen Mitteln herausbekommen wollen, wo die Stadt Quivira liegt, dachte sie. Doch das konnte sie keinesfalls zu Goddard sagen, der sie bestimmt für verrückt halten und - was noch viel schlimmer wäre - sein Angebot dann womöglich zurückziehen würde. Jeder Hinweis auf potenzielle Probleme würde die Planung der Expedition nur unnötig komplizieren und vielleicht sogar zum Scheitern bringen. »Weil diese Informationen sehr sensibel sind«, antwortete sie schließlich. »Stellen Sie sich nur vor, was passieren würde, wenn Grabräuber von unserem Vorhaben Wind bekämen und versuchten, die Stadt zu plündern, bevor wir sie gefunden haben. Außerdem sollten wir uns noch aus einem anderen Grund beeilen: Die Jahreszeit, in der sich Sturzfluten häufen, steht vor der Tür.«

Goddard dachte einen Augenblick nach, dann nickte er bedächtig. »Das leuchtet mir ein. Ach, übrigens, ich hätte gern, dass auch ein Journalist an der Expedition teilnimmt. Für die Diskretion des Mannes kann ich mich verbürgen.«

»Ein Journalist?«, platzte Nora heraus. »Wieso denn das?« »Damit er den wichtigsten Fund der amerikanischen Archäologie des zwanzigsten Jahrhunderts aus erster Hand dokumentieren kann. Denken Sie bloß daran, was für eine fantastische Geschichte der Welt entgangen wäre, wenn Howard Carter die Londoner >Times< nicht über seine Entdeckung hätte berichten lassen. Der Mann, den ich im Auge habe, ist ein Reporter der >New York Times<, der schon mehrere Bücher geschrieben hat, darunter eine exzellente Darstellung des Bostoner Aquariums. Ich denke, dass er in der Lage ist, einen für uns vorteilhaften - und viel gelesenen - Bericht über unsere Arbeit zu verfassen. Außerdem können Sie ihn als Hilfskraft bei Grabungsarbeiten einsetzen.« Er warf Nora einen fragenden Blick zu. »Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen, wenn wir nach getaner Arbeit unsere Entdeckung publizistisch ein wenig ausschlachten?«

Nora zögerte. Alles geschah so schnell, dass sie kaum zum Nachdenken kam. Fast schien es ihr, als habe Goddard sich das alles schon vorher überlegt. Nachdem sie das Gespräch vor ihrem geistigen Auge noch einmal rasch hatte Revue passieren lassen, wurde diese Ahnung zur Gewissheit. Außerdem drängte sich ihr das Gefühl auf, dass Goddard für seine Begeisterung einen Grund hatte, den er ihr nicht mitteilen wollte.

»Nein, das habe ich nicht«, antwortete sie schließlich.

»Ich hatte auch nichts anderes von Ihnen erwartet. Und jetzt lassen Sie uns mal sehen, was Sie zu bieten haben.«

Goddard ging um den Arbeitstisch herum und sah Nora zu, wie sie in ihre Aktentasche griff und eine topografische Karte herauszog.

»Unser Zielgebiet befindet sich in diesem Dreieck westlich des Kaiparowits-Plateaus. Wie Sie sehen, gibt es dort Dutzende von Canon-Systemen, die alle zum Lake Powell und zum Grand Canon im Süden und Osten führen. Die nächste menschliche Ansiedlung ist ein Dorf der Nankoweap-Indianer knapp hundert Kilometer nördlich davon.«

Dann reichte sie Goddard ein Blatt Papier, das einen vergrößerten Ausschnitt aus einer weiteren topografischen Karte zeigte, über den Holroyd in Rot ein auf seinem Computer erstelltes und auf die richtige Größe gebrachtes Bild gedruckt hatte. »Das hier ist ein digital verändertes Bild, das letzte Woche vom Space-Shuttle aus gemacht wurde. Die dünne schwarze Linie dort ist die Anasazi-Straße.«

Goddard nahm das Blatt. »Wie außergewöhnlich«, murmelte er. »Letzte Woche, sagten Sie?« Er warf Nora abermals einen Blick zu, der neugierig und bewundernd zugleich war.

»Und die gepunktete Linie stellt eine Rekonstruktion der Route dar, die mein Vater auf seiner Suche nach der Anasazi-Straße durch das Gebiet genommen hat. Wie Sie sehen, stimmt die aus den Daten des Shuttle berechnete Linie mit der Route meines Vaters ziemlich genau überein. Die Straße scheint von der Betatakin-Ruine aus durch ein Labyrinth von Canons nach Nordwesten zu führen, bis sie auf diesen Bergrücken hier trifft, dem mein Vater in seinem Brief den Namen Devil's Backbone - Rückgrat des Teufels - gegeben hat. Jenseits des Gebirges scheint sie in einen schmalen Slot-Canon zu führen, durch den sie in dieses kleine, verborgene Tal hier gelangt. Irgendwo in diesem Tal hoffen wir die Stadt zu finden.«

Goddard schüttelte den Kopf. »Erstaunlich. Aber all die anderen Anasazi-Straßen, die uns bekannt sind, verlaufen schnurgerade wie die am Chaco Canon. Diese Straße hingegen windet sich wie eine Schlange.«

»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht«, sagte Nora. »Bisher haben wir geglaubt, dass der Chaco Canon das Zentrum der Anasazi-Kultur sei, denn schließlich befinden sich dort die vierzehn großen Häuser von Chaco mit dem Pueblo Bonito in ihrem Zentrum. Aber sehen Sie sich einmal das hier an.«

Nora griff in ihre Aktentasche und zog eine weitere Karte hervor, auf der das komplette Colorado-Plateau und das San-Juan-Basin abgebildet waren. In der unteren rechten Ecke war ein Plan der Ausgrabung im Chaco Canon eingeklinkt, der die große Ruine von Pueblo Bonito und die kreisförmig darum angeordneten kleineren Dörfer zeigte. Eine dicke rote Linie, die in Pueblo Bonito ihren Ausgangspunkt hatte, führte an einem halben Dutzend anderer wichtiger Ruinen vorbei pfeilgerade in die obere linke Ecke der Karte, wo sie in einem X endete.

»Dieses Kreuz bezeichnet die Stelle, an der sich nach meinen Berechnungen Quivira befinden müsste«, erklärte Nora besonnen. »Jahrzehntelang hat die Wissenschaft geglaubt, dass Pueblo Bonito das Zentrum das Anasazi-Straßen sei. Aber was wäre eigentlich, wenn das gar nicht stimmte? Pueblo Bonito könnte doch auch nur ein Sammelpunkt für die Pilgerreise nach Quivira sein.«

Goddard schüttelte langsam den Kopf. »Das ist wirklich faszinierend. Wir haben mehr als genug Material, um eine Expedition zu rechtfertigen. Haben Sie sich eigentlich schon überlegte, wie Sie in dieses Gebiet gelangen wollen? Mit Hubschraubern vielleicht?«

»Daran habe ich zuerst auch gedacht, aber dann bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Gelände es nicht zulassen wird. Die Canons sind bis zu dreihundert Meter rief und sehr eng. Außerdem gibt es gefährliche Aufwinde und Felsüberhänge und praktisch keine flachen Stellen, an denen man landen könnte. Ich habe die Karten sorgfältig studiert und im Umkreis von fünfzig Meilen keinen einzigen sicheren Landeplatz für einen Hubschrauber gefunden. Jeeps kommen bei diesem Gelände ohnehin nicht in Frage, so dass wir wohl auf Pferde zurückgreifen müssen. Sie sind billig und können eine Menge Ausrüstung schleppen.«

Goddard brummte zustimmend und starrte weiter auf die Karte. »Das klingt gut. Aber ich kann mir beim besten Willen noch keinen Weg in dieses Labyrinth vorstellen. Die meisten dieser Canons enden im Nirgendwo. Selbst bis zu der Indianersiedlung im Norden, die Sie als Ausgangspunkt für Ihre Expedition nehmen könnten, wäre es ein sehr anstrengender Ritt. Und danach ginge es weiter durch fast hundert Kilometer Wüste ohne Wasser. Aber vom Süden her ist auch kein Herankommen, denn da schneidet Ihnen der Lake Powell den Weg ab.« Erblickte auf. »Außer Sie...«

»Genau. Wir werden die Expedition auf dem Wasserweg befördern. Ich habe bereits Kontakt mit dem Hafen Wahweap in Page aufgenommen und erfahren, dass es dort ein fünfundzwanzig Meter langes Boot gibt, das wir für unsere Zwecke ausleihen können. Wenn wir von Wahweap aus die Pferde über den See bis ans Kopfende des Serpentine Canon brächten, wären es nur noch drei bis vier Tagesritte nach Quivira.«

Ein Lächeln machte sich auf Goddards Gesicht breit. »Das ist ein sehr intelligenter Vorschlag, Nora. Lassen Sie ihn uns in die Tat umsetzen.«

»Eines noch, Dr. Goddard«, sagte Nora, während sie die Karten wieder in ihrer Aktentasche verstaute. »Mein Bruder braucht dringend einen Job. Er würde praktisch alles tun, aber ich weiß, dass er unter geeigneter Anleitung ganz hervorragend mein Material vom Rio Puerco und dem Gailegos Divide katalogisieren könnte.«

»Es ist eine der Grundregeln unseres Instituts, keine Vetternwirtschaft zuzulassen...«, begann Goddard, hielt aber inne, als Nora unwillkürlich grinsen musste. Der alte Mann sah sie an, und Nora hatte den Eindruck, als würde er jeden Moment in einen Wutanfall ausbrechen. Dann aber hellte sich seine Miene wieder auf. »Sie sind wirklich die Tochter Ihres Vaters, Nora«, sagte er. »Sie trauen niemandem, und Sie wissen, wie man verhandeln muss. Haben Sie

sonst noch irgendwelche Wünsche? Wenn ja, dann heraus damit.« »Nein, jetzt bin ich wunschlos glücklich.«

Schweigend streckte Goddard ihr die Hand hin.