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Mit einem Anflug von Bestürzung musterte Nora das Durcheinander in der vollgestopften Wohnung. Es war noch schlimmer, als sie es in Erinnerung hatte. Das schmutzige Geschirr in der Spüle sah so aus, als hätte es schon bei ihrem letzten Besuch vor einer Woche da gestanden, und türmte sich so gefährlich auf, dass man nichts mehr oben auf den Stapel stellen konnte. Auf den unteren Tellern hatte sich bereits grünlicher Schimmel breit gemacht. Da die Spüle voll war, hatte sich der Bewohner des Appartements ganz offensichtlich auf das Bestellen von Pizza und chinesischem Essen verlegt - diesen Schluss legte zumindest der Haufen fettiger Pappschachteln nahe, der wie eine kleine Pyramide aus dem Mülleimer quoll. Ringsum lagen alte Zeitungen und Zeitschriften am Boden und auf dem abgewetzten Mobiliar. Aus Lautsprechern, die unter einem Berg schmutziger Wäsche nur noch zu erahnen waren, drang Pink Floyds »Comfortably Numb« an Noras Ohren, und in einem Regal stand ein vernachlässigtes Goldfischglas, dessen Wasser eine trübbraune Färbung hatte. Nora wandte den Blick ab, um die armen Fische nicht genauer betrachten zu müssen.

Sie hörte ein Husten und Schniefen und wandte sich dem vergammelten, orangefarbenen Sofa zu, auf dem ihr Bruder lümmelte. Skip hatte seine nackten, schmutzigen Füße auf den Couchtisch gelegt und starrte Nora an. Die kleinen bronzefarbenen Locken, die er schon als Kind gehabt hatte, fielen ihm in die Stirn seines jungenhaft glatten Gesichts, und hätte er nicht seinen üblichen verdrießlich-pubertären Gesichtsausdruck zur Schau getragen, hätte man ihn trotz seiner schmuddeligen Kleidung als ausgesprochen gut aussehend bezeichnen können. Manchmal fiel es Nora schwer, sich klarzumachen, dass ihr Bruder jetzt erwachsen war. Obwohl er bereits vor einem Jahr sein Physikstudium an der Stanford University abgeschlossen hatte, gab Skip sich dem Nichtstun hin, und Nora musste immer wieder bei ihm vorbeischauen und sich um dieses verwahrloste Riesenbaby kümmern, das ein unheimliches Talent hatte, seine große Schwester auf die Palme zu bringen. Inzwischen hatte sich Noras Verärgerung über Skip allerdings in tiefe Sorge um sein Wohlergehen verwandelt. Nach dem Tod ihrer Mutter vor einem halben Jahr war er von Bier auf Mescal umgestiegen, und auch jetzt lagen mehrere leere Schnapsflaschen über den Boden der Wohnung verstreut. Skip griff nach der noch ein Viertel vollen Flasche auf dem Couchtisch und goss ihren Inhalt in ein Einmachglas. Dann schüttelte er den kleinen gelblichen Wurm, der in der leeren Flasche verblieben war, auf die Tischplatte. Von dort nahm er ihn mit spitzen Fingern auf und warf ihn in den Aschenbecher, in dem bereits mehrere ähnliche Würmer lagen, die jetzt, nachdem der Alkohol verdunstet war, ganz eingeschrumpelt wirkten.

»Das ist ja widerlich«, sagte Nora.

»Tut mir Leid, dass dir meine Sammlung von Nadomonas sonorau nicht gefällt«, erwiderte Skip. »Wenn ich nur früher erkannt hätte, wie faszinierend Biologie sein kann, wäre ich nie auf die Idee gekommen, Physik zu studieren.« Er zog die Schublade des Tisches auf und holte ein flaches Sperrholzkästchen heraus, das er seiner Schwester reichte. Es sah aus wie das Behältnis eines Schmetterlingssammlers, nur dass es anstatt bunter Falter dreißig oder vierzig auf Nadeln gespießte Mescalwürmer enthielt, die Nora an dicke, braune Kommas erinnerten. Ohne ein Wort zu sagen, gab sie Skip das Kästchen zurück.

»Es sieht so aus, als hättest du seit meinem letzten Besuch deine Wohnung ein wenig umdekoriert«, meinte Nora. »Dieser Riss in der Wand da zum Beispiel ist neu.« Sie deutete auf einen breiten Spalt im Verputz, der an einer Wand von der Decke bis zum Boden lief.

»Das war mein Nachbar«, antwortete Skip. »Leider hat er nicht denselben Musikgeschmack wie ich und hat gegen die Wand getreten, der alte Spießer. Du musst mal mit deiner Oboe kommen, das macht ihn bestimmt fuchsteufelswild. Aber jetzt erzähl mir mal, wieso du es dir auf einmal wegen der Ranch anders überlegt hast. Ich dachte schon, du würdest bis zum jüngsten Tag an der alten Bruchbude festhalten.« Er nahm einen tiefen Zug aus seinem Einmachglas.

»Gestern Abend ist mir da draußen etwas Seltsames passiert«, sagte Nora und drehte die Stereoanlage leiser.

»Tatsächlich?«, fragte Skip ohne wirkliches Interesse. »Was war denn los? Haben wieder ein paar Kids die Sau rausgelassen?«

Nora sah ihn durchdringend an. »Ich wurde angegriffen«, erwiderte sie.

Skip setzte sich auf, und der mürrische Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. »Wie bitte? Von wem denn?«

»Von irgendwelchen Typen, die sich als Tiere verkleidet hatten. Das glaube ich zumindest, aber ganz sicher bin ich mir nicht.«

»Und sie haben dich angegriffen! Bist du denn verletzt?« Skips

Gesicht lief vor Zorn und Sorge um Nora noch röter an. Obwohl er als jüngerer Bruder ihre schwesterliche Fürsorge vehement ablehnte, hatte er selbst einen ausgeprägten Beschützerinstinkt ihr gegenüber.

»Teresa kam mit der Schrotflinte und hat mich gerettet. Bis auf ein paar Kratzer am Arm ist mir nichts passiert.«

Skip ließ sich zurück aufs Sofa sinken. Sein Zorn war ebenso rasch verraucht, wie er in ihm aufgewallt war. »Hat Teresa die Scheißkerle wenigstens ordentlich voll Blei gepumpt?«

»Nein. Sie haben sich aus dem Staub gemacht.«

»Schade. Hast du die Polizei gerufen?«

»Nein. Was hätte ich der denn schon erzählen können? Nicht einmal Teresa hat mir die Geschichte geglaubt, und die Polizei hätte das erst recht nicht. Die hätten mich wahrscheinlich für verrückt gehalten.«

»War wohl besser so.« Skip hatte der Polizei noch nie getraut. »Was hatten die Typen denn auf der Ranch zu suchen?«

Nora zögerte mit einer Antwort. Selbst als sie an Skips Tür geklopft hatte, war sie sich noch nicht sicher gewesen, ob sie ihm von dem Brief erzählen sollte oder nicht. Der Schreck des vergangenen Abends und das Erstaunen über die Zeilen ihres Vaters steckten ihr noch immer in den Knochen. Wie würde Skip darauf reagieren?

»Sie haben nach einem Brief gesucht«, sagte sie schließlich.

»Was für einen Brief denn?«

»Diesen hier, glaube ich.« Vorsichtig zog Nora den vergilbten Umschlag aus der Brusttasche ihres Hemdes und legte ihn auf den Tisch. Skip nahm ihn und pfiff leise durch die Zähne. Dann las er schweigend den Brief. Nora konnte die Uhr in der Küche ticken hören. Von draußen drang gedämpftes Hupen herein, und irgendetwas raschelte in der Spüle. Sie spürte das Schlagen ihres Herzens.

Schließlich legte Skip den Brief wieder auf den Tisch. »Wo hast du den her?«, fragte er, Finger und Blick noch immer auf dem Umschlag.

»Er war in unserem alten Briefkasten. Irgendjemand muss ihn vor fünf Wochen aufgegeben haben. Weil bei den neuen Briefkästen keiner mehr für unsere Ranch dabei ist, hat ihn der Postbote wohl in den alten Kasten gesteckt.«

Skip sah seine Schwester an. »Großer Gott«, sagte er leise, und seine Augen begannen sich mit Tränen zu füllen.

»Aber wer auch immer diesen Brief abgeschickt hat, hätte doch auch Dads Leiche finden müssen...« Skip schluckte schwer und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Oder glaubst du etwa, dass er noch am Leben ist?«

»Nein. Das ist völlig ausgeschlossen. Er hätte sich ganz bestimmt bei uns gemeldet, Skip. Dad hat uns geliebt.«

»Aber dieser Brief...«

»Wurde vor sechzehn Jahren geschrieben, das dürfen wir nicht vergessen. Doch nun haben wir wenigstens einen Hinweis, wo Dad möglicherweise gestorben ist. Vielleicht können wir jetzt herausfinden, was ihm zugestoßen ist.«

Skip hatte die ganze Zeit über die Finger auf den Brief gepresst, als wolle er dieses unerwartete neue Bindeglied zu seinem Vater nicht mehr loslassen. Bei Noras letzten Worten aber zog er plötzlich seine Hand zurück und ließ sich ins Sofa sinken. »Wenn diese Typen auf der Ranch wirklich nach dem Brief gesucht haben«, sagte er, »warum haben sie dann nicht in den Briefkasten geschaut?«

»Ich fand den Brief nicht im Kasten, sondern im Sand davor. Die Klappe war kaputt, deshalb hat der Wind den Brief wohl herausgeweht. Ganz sicher bin ich mir allerdings nicht, denn ich habe die Kästen mit dem Pick-up platt gemacht.«

Skip schaute wieder auf den Umschlag. »Wenn die Kerle von der Ranch wissen, dann könnten sie doch auch herausfinden, wo wir wohnen, meinst du nicht?«

»Darüber möchte ich lieber gar nicht nachdenken«, sagte Nora, aber das war gelogen. In Wirklichkeit ging ihr diese Möglichkeit ständig im Kopf herum.

Skip, der sich langsam wieder beruhigt hatte, trank den Rest Schnaps aus seinem Einmachglas. »Wie haben sie wohl von dem Brief erfahren?«

»Wer weiß? Viele Menschen haben die alten Legenden von der Stadt Quivira gelesen. Und Dad hatte ein paar ziemlich anrüchige Bekannte, die...«

»Das hat Mom gesagt«, unterbrach Skip. »Was hast du jetzt vor?«

»Ich denke...«, setzte Nora an und hielt inne. Jetzt wurde es schwierig. »Wenn wir wirklich wissen wollen, was Dad zugestoßen ist, müssen wir versuchen, Quivira zu finden. Aber dafür brauchen wir Geld, und deshalb trage ich mich mit dem Gedanken, Las Cabrillas zu verkaufen.«

Skip schüttelte den Kopf und ließ ein feuchtes Lachen hören. »Mein Gott, Nora, da hocke ich arm wie eine Kirchenmaus in diesem Drecksloch und flehe dich an, die alte Ranch zu verkaufen, damit ich endlich auf die Beine komme. Die ganze Zeit über hast du dich geweigert, aber jetzt bist du auf einmal bereit, dein Erbteil zu versilbern, bloß weil du nach Dad suchen willst, auch wenn der schon lange tot ist.«

»Skip, du könntest jederzeit auf die Beine kommen, wenn du dir einen Job suchen würdest«, begann Nora, aber dann brach sie ihre Gardinenpredigt mitten im Satz ab. Dafür war sie schließlich nicht hergekommen. Und als sie ihren Bruder so verloren auf seinem Sofa sitzen sah, wurde ihr ganz weh ums Herz. »Ich will herausfinden, was Dad zugestoßen ist, Skip. Das bedeutet mir sehr viel.«

»Gut, dann verkauf doch die Ranch. Das rate ich dir ja schon seit Moms Tod. Aber meine Hälfte von dem Geld darfst du nicht anrühren. Damit habe ich meine eigenen Pläne.«

»Aber mein Anteil allein dürfte nicht ausreichen, um eine archäologische Expedition auszurüsten.«

Skip setzte sich auf. »Schon kapiert. Das Institut gibt dir also kein Geld, stimmt's? Das wundert mich nicht, denn in dem Brief steht mit keinem Wort, dass Dad Quivira wirklich gefunden hat. Was ihn so ins Schwärmen gebracht hat, war nichts weiter als ein alter Indianderpfad. Die Stadt selbst war eine von seinen Wunschvorstellungen, Nora. Weißt du, was Mom dazu gesagt hätte?«

»Und ob! Sie hätte gesagt, das Quivira wieder mal einer von Dads Tagträumen sei. Aber meinst du das auch?«

Skip zuckte zusammen. »Nein. Ich mache nicht gemeinsame Sache mit Mom.« Der verächtliche Unterton war aus seiner Stimme verschwunden. »Aber ich möchte nicht meine Schwester auf dieselbe Weise verlieren, wie ich schon meinen Dad verloren habe.«

»Jetzt hör aber auf, Skip. So weit wird es nicht kommen. In dem Brief schreibt Dad, dass er einer alten Anasazi-Strasse gefolgt sei. Wenn ich die finden könnte, hätte ich den Beweis, nach dem wir suchen.«

Skip stellte die Füße auf den Boden, stützte die Ellenbogen auf die Knie und blickte finster drein. Dann richtete er plötzlich den Oberkörper auf. »Ich habe eine Idee, wie wir deine Straße finden könnten, ohne hinaus in die Wüste zu müssen. Ich hatte in Stanford einen Physikprofessor, der jetzt für das JPL arbeitet. Er heißt Leland Watkins.«

»Was ist das JPL?«

»Das Jet Propulsion Laboratory, das Labor für Düsenantriebe am California Institute of Technology; es ist eine Unterabteilung der NASA.«

»Und was hat das mit unserem Problem zu tun?«

»Der Professor arbeitet am Space-Shuttle-Programm. Ich habe mal gelesen, dass die ein spezielles Radar entwickelt haben, das in der Lage ist, bis zu zehn Meter dicke Sandschichten zu durchdringen. Damit haben sie bereits eine Karte von alten Karawanenstraßen quer durch die Sahara erstellt. Warum sollte dasselbe nicht auch in Utah möglich sein?«

Nora starrte ihren Bruder ungläubig an. »Mit diesem Radar kann man tatsächlich alte Straßen aufspüren?«

»Direkt durch den Sand hindurch.«

»Und du warst Student bei diesem Professor? Meinst du denn, er erinnert sich noch an dich?«

Skips Gesicht nahm auf einmal einen zurückhaltenden Ausdruck an. »Das tut er bestimmt.«

»Das ist ja toll! Dann ruf ihn doch gleich an und...«

Ein Blick von Skip ließ Nora verstummen. »Das kann ich nicht«, sagte er.

»Wieso nicht?«

»Er mag mich nicht.«

»Warum nicht?«, fragte Nora, der in letzter Zeit aufgefallen war, dass ziemlich viele Leute ihren Bruder nicht mochten.

»Nun, er war mit einer Studentin befreundet, einem echt hübschen Mädchen, und ich...« Skip errötete.

Nora schüttelte den Kopf. »Erspar mir den Rest.«

Skip nahm den gelben Mescalwurm und drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Tut mir Leid. Wenn du was von Watkins willst, musst du ihn schon selber anrufen.«