59
Nora kniete sich neben Smithback und steckte die Taschenlampe, die sie aus einem der Packsäcke geholt hatte, in ihre hintere Hosentasche. Dann reichte sie dem Journalisten eine Tasse heiße Fleischsuppe, die sie ihm draußen vor dem Zelt auf einem kleinen Gaskocher zubereitet hatte. Nachdem Smithback die Suppe getrunken hatte, half Nora ihm beim Hinlegen, machte seinen Schlafsack zu und breitete noch eine Wolldecke über ihn, damit ihm auch wirklich warm wurde. Zuvor hatte sie ihm die nassen Sachen aus- und trockene angezogen und dabei festgestellt, dass er langsam aus seinem Schockzustand herauskam. Trotzdem war es in Anbetracht des Regens, der immer noch heftig auf das Zelt trommelte, nicht ratsam, Smithback woanders hin zu bringen. Was er ihrer Meinung nach jetzt am meisten brauchte, war Schlaf. Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr, die jemand an die Firststange des Zeltes gehängt hatte. Es war kurz nach neun Uhr abends. Nora wunderte sich, warum noch niemand von den anderen ins Lager zurückgekehrt war.
Sie dachte wieder an die Sturzflut. Die Gewitterfront, die sie verursacht hatte, musste riesengroß und beängstigend gewesen sein. Es war kaum zu glauben, dass jemandem, der oben am Rand des Canons gestanden hatte, eine derartige Wolkenwand entgangen sein konnte...
Sie richtete sich rasch auf. Smithback sah sie mit einem matten Lächeln an. »Danke«, sagte er.
»Versuch zu schlafen«, erwiderte sie. »Ich gehe hinauf in die Stadt.«
Er nickte, und schon fielen ihm die Augen zu. Nora nahm die Taschenlampe und schlüpfte aus dem Zelt hinaus in die Dunkelheit. Dort knipste sie die Lampe an und folgte ihrem Schein bis ans untere Ende der Strickleiter. Ihr Körper tat ihr überall weh. Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so müde gefühlt. Teils war sie gespannt auf das, was sie oben in der Stadt vorfinden würde, teils hatte sie auch Angst davor. Aber jetzt, da sie Smithback versorgt hatte und wusste, dass ein Verlassen des Tales unmöglich war, blieb ihr als Leiterin der Expedition keine andere Wahl, als nachzusehen, was in Quivira los war.
Die Regentropfen blitzten im gelblichen Strahl der Taschenlampe wie zuckende Lichtstreifen. Als Nora sich der Felswand näherte, sah sie, wie gerade jemand die letzten Sprossen der Leiter herabkletterte und in den Sand am Fuß der Klippe sprang. Die schlanke Silhouette und die anmutigen Bewegungen ließen keinen Zweifel, um wen es sich handelte.
»Sind Sie das, Roscoe?«, hörte sie Sloanes Stimme rufen.
»Nein«, antwortete Nora. »Ich bin es!«
Sloane erstarrte.
Nora trat auf sie zu und leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht. Was sie sah war nicht Erleichterung, sondern Schrecken und Verwirrung.
»Sie!«, keuchte Sloane.
Nora glaubte Bestürzung, ja sogar Verärgerung aus ihrer Stimme heraushören zu können. »Was geht hier vor?«, fragte sie, wobei sie versuchte, sich unter Kontrolle zu halten.
»Wie sind Sie...«, setzte Sloane an.
»Ich habe Ihnen eine Frage gestellt. Was geht hier vor?« Instinktiv trat Nora einen Schritt zurück. Und erst dann bemerkte sie die Kette, die Sloane um den Hals trug: Sie bestand aus dicken Tonperlen, die ganz offenbar aus der Zeit der Anasazi stammten und im Licht der Taschenlampe gelblich schimmerten - wie Goldglimmer.
Als Nora die Kette sah, verwandelte sich ihre schwelende Befürchtung in grimmige Gewissheit. »Sie haben es getan, nicht wahr?«, flüsterte sie. »Sie haben das Kiva wirklich aufgebrochen.«
»Ich...«, begann Sloane, doch ihr versagte die Stimme.
»Sie haben gegen meine ausdrücklichen Anweisungen das Kiva geöffnet, Sloane«, wiederholte Nora. »Können Sie sich überhaupt vorstellen, was das Institut dazu sagen wird? Was Ihr Vater dazu sagen wird?«
Sloane antwortete noch immer nicht. Sie schien wie vor den Kopf gestoßen, als ob sie Noras Anwesenheit weder begreifen noch akzeptieren könne. Sie sieht aus, als wäre ihr ein Geist erschienen, dachte Nora.
Und dann wurde ihr schlagartig klar, dass es sich für Sloane auch genau so verhielt. »Sie haben wohl nicht damit gerechnet, mich jemals wieder lebend zu Gesicht zu bekommen, stimmt's?«, fragte sie mit ruhiger Stimme, obwohl sie am ganzen Körper zitterte.
Immer noch stand Sloane wie angewurzelt vor ihr.
»Es geht um den Wetterbericht, nicht wahr?«, sagte Nora. »Sie haben mir einen falschen Wetterbericht gegeben.«
Auf einmal schüttelte Sloane heftig den Kopf. »Nein...«, stammelte sie.
»Zwanzig Minuten nachdem Sie von oben zurück waren, rollte die Sturzflut heran«, schnitt Nora ihr das Wort ab. »Das Wasser kam vom Kaiparowits-Plateau, über dem eine gigantische Gewitterfront am Himmel gestanden haben muss. Und Sie haben sie gesehen.«
»Sie können ja den Wetterbericht überprüfen, wenn wir zurückkommen. Bestimmt gibt es beim Sender ein Archiv...«
Nora hörte kaum, was Sloane sagte, denn sie hatte auf einmal wieder Aragon vor Augen, wie ihn die Wassermassen an den Wänden des Slot-Cafions in Stücke rissen.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie schließlich. »Ich glaube kaum, dass ich das tun werde. Ich werde mir stattdessen die Satellitenaufnahmen von heute Vormittag ansehen. Und ich weiß genau, was ich auf denen finden werde: einen gewaltigen Gewittersturm, der sich über dem Kaiparowits-Plateau zusammenbraut.«
Als Sloane das hörte, wurde sie kreidebleich im Gesicht. Regentropfen liefen ihr über ihre hohen Backenknochen. »Nora, hören Sie mich an. Möglicherweise habe ich nicht in die richtige Richtung geschaut. Ich habe die Wolken nicht gesehen, das müssen Sie mir einfach glauben!«
»Wo ist Black?«, fragte Nora unvermittelt.
Sloane hielt inne. Die Frage schien sie zu erstaunen. »Oben in der Stadt«, antwortete sie.
»Was meinen Sie, dass er sagen wird, wenn ich ihn zur Rede stelle? Er war schließlich mit Ihnen dort oben.«
Sloanes Augenbrauen zogen sich zusammen. »Es geht ihm nicht gut und...«
»Und Aragon ist tot«, unterbrach sie Nora, die den Zorn in ihrer Stimme kaum mehr verbergen konnte. »Sie wollten das Kiva aufbrechen, Sloane, und dazu war Ihnen jedes Mittel recht. Selbst wenn Sie dazu einen Mord begehen mussten!«
Das hässliche Wort hing zwischen ihnen in der regenschweren Luft.
»Sie werden ins Gefängnis müssen, Sloane«, sagte Nora. »Und sollten Sie jemals wieder herauskommen, dann werden Sie nie wieder Arbeit als Archäologin finden. Dafür werde ich sorgen.«
Nora blickte Sloane in die Augen und bemerkte, dass sich ihr Entsetzen und ihre Verwirrung irgendwie verwandelten.
»Das können Sie nicht tun, Nora«, sagte sie leise und eindringlich. »Das dürfen Sie nicht.«
»Und ob ich das kann. Sie werden schon sehen.«
Ein Blitz zuckte aus dem Himmel, fast augenblicklich gefolgt von einem gewaltigen Donnerschlag. Als Nora sich schützend die Hand vor die Augen hielt und nach unten blickte, sah sie an Sloanes Gürtel eine Waffe aufblitzen. Sloane, die Noras Blick bemerkt hatte, hob den Kopf und atmete scharf ein. Ihr Unterkiefer schob sich vor. Nora konnte an ihrem Gesicht erkennen, wie sich in ihren Gedanken langsam ein Entschluss formte. »Nein«, murmelte sie.
Sloane sah ihr unverwandt in die Augen.
»Nein!«, wiederholte Nora mit lauterer Stimme und trat einen Schritt zurück in die Dunkelheit.
Langsam und zögernd glitt Sloanes Hand zu der Waffe hinab.
Unvermittelt schaltete Nora die Taschenlampe aus und stürzte davon.
Das Lager war etwa hundert Meter entfernt, bot aber keinen Schutz, und der Weg zur Strickleiter war durch Sloane blockiert. Auf die andere Seite des Tales konnte Nora aber auch nicht gelangen, denn dazu hätte sie durch den Hochwasser führenden Fluss schwimmen müssen. Es blieb ihr also nur noch eine einzige Möglichkeit offen: Sie musste sich am anderen Ende des Tales verstecken.
Beim Rennen schössen Nora die Gedanken nur so durch den Kopf. Sloane, das war ihr klar, konnte nicht verlieren. Sie hatte verhindert, dass sie Quivira verlassen musste, ohne das Kiva vorher geöffnet zu haben. Und jetzt würde sie auch verhindern, dass Nora sie in Schimpf und Schande zurück in die Zivilisation brachte, wo sie eine Anklage wegen Mordes erwartete. Wieso habe ich sie nur so provoziert?, fragte sich Nora voller Wut auf sich selbst. Wie konnte ich bloß so blöd sein? Sie hatte, indem sie Sloane auf ihre düstere Zukunft aufmerksam gemacht hatte, praktisch ihr eigenes Todesurteil unterschrieben.
So rasch es ihr in der Dunkelheit möglich war, hastete Nora am Rand der Klippe entlang auf den Felsrutsch am Ende des Tales zu. Immer wieder zuckten Blitze über den Himmel und beleuchteten für Sekundenbruchteile ihren Weg. Als sie an dem Geröllhang angelangt war, kletterte sie ihn hinauf und suchte zwischen den Felsblöcken nach einem Versteck. Dabei wagte sie es nicht, die Taschenlampe einzuschalten. Auf halber Höhe den Hang hinauf fand sie, wonach sie gesucht hatte: ein schmales Loch, das gerade groß genug war, um einen menschlichen Körper aufzunehmen. Sie kroch hinein, so tiefes ging, und kauerte sich nach Atem ringend in der Dunkelheit zusammen.
Von Verzweiflung und Frustration geschüttelt, versuchte sie etwas Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Ihr Versteck war nur eine Notlösung, denn über kurz oder lang würde Sloane sie hier finden.
Dann wanderten ihre Gedanken weiter zu Smithback, der im Sanitätszelt lag und schlief. Vor Wut ballte Nora ihre Hände zu Fäusten. Bill war Sloane schutzlos ausgeliefert. Andererseits wusste sie ja nicht, dass er dort war. Und selbst wenn sie ihn fände, weshalb sollte sie ihn dann töten? Nora musste sich an dieser Hoffnung festhalten, zumindest so lange, bis ihr ein Weg einfiel, wie sie Sloane Einhalt gebieten konnte.
Und es musste einen solchen Weg geben. Irgendwo da draußen waren schließlich noch Swire und Bonarotti. Oder waren die womöglich auch an der Verschwörung gegen sie beteiligt? Nora schüttelte den Kopf und beschloss, diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen.
Sich später ins Lager zu schleichen und zusammen mit Smithback zu fliehen erschien ihr unmöglich. Erstens hätte sie dazu abwarten müssen, bis Sloane nicht mehr bei den Zelten war, und das konnte Stunden dauern. Außerdem war Smithback in seinem geschwächten Zustand nicht in der Lage, hinauf bis zum Canon-Rand zu klettern. Während Nora so in der Finsternis dahockte und ihre Alternativen durchging, wurde ihr mit einem Schlag klar, dass es gar keine gab.