32

Nora hob die Hände, um die anderen, die wild durcheinanderredeten, zur Ruhe zu bringen. »Roscoe«, sagte sie. »Erzählen Sie uns genau, was passiert ist.«

Swire, der einer stark blutenden Wunde an seinem Oberarm keine Beachtung schenkte, hockte sich schwer atmend neben die anderen. »Ich bin heute früh wie üblich um drei Uhr aufgestanden und war gegen vier bei den Pferden. Sie waren in den nördlichen Teil des Tales gewandert, vermutlich, weil sie dort nach besserem Gras suchten. Als ich sie fand, waren sie schweißnass.« Er hielt einen Augenblick inne. »Zuerst dachte ich, dass ein Puma sie gejagt hätte, denn Hoosegow und Crow Bait fehlten. Aber dann fand ich die beiden... Oder besser gesagt das, was von ihnen übrig war, und sah, dass jemand sie aufgeschlitzt hatte wie...« Seine Miene verdunkelte sich. »Wenn ich diese Dreckstypen erwische, die das getan haben, dann werde ich sie...«

»Wieso gehen Sie davon aus, dass es Menschen waren?«, fragte Aragon.

»Weil man sie fachgerecht ausgeweidet hat. Sie haben ihnen den Bauch aufgeschlitzt, ihre Eingeweide herausgeholt und...« Swire verstummte.

»Und?«

»Und sie auf ganz merkwürdige Weise hindrapiert.«

»Wie bitte?«, hauchte Nora.

»Jemand hat ihnen die Gedärme aus dem Bauch gezogen und sie in Form einer Spirale auf dem Boden angeordnet. Außerdem hat man ihnen Stöcke mit Federn in die Augen gesteckt.«

»Haben Sie irgendwelche Fußspuren gefunden?«

»Nein. Vermutlich wurde die Tat von Reitern verübt.«

Bei der Erwähnung der Spiralen und der Federstöcke war es Nora eiskalt den Rücken hinuntergelaufen. Wie aus weiter Feme hörte sie Smithback sagen: »Jetzt machen Sie aber mal halblang. Kein Mensch kann so etwas vom Rücken eines Pferdes aus tun.«

»Aber es gibt keine andere Erklärung«, fauchte Swire. »Ich habe doch schon gesagt, dass keine Fußspuren da waren. Aber...« Er hielt ein weiteres Mal inne. »Gestern Abend, als ich das Tal verließ, dachte ich, ich hätte auf dem Kamm des Bergrückens einen Reiter gesehen. Er saß auf seinem Pferd und schaute zu mir herab.«

»Warum haben Sie mir denn nichts davon erzählt?«, fragte Nora.

»Die Sonne ging gerade unter, und ich war mir nicht sicher, ob ich nicht einer Sinnestäuschung erlegen war. Was hätte auch ein Reiter auf diesem verdammten Berg da verloren? Wer sollte das Risiko auf sich nehmen und dort hinaufreiten?«

Ja, wer?, dachte Nora. Seit Beginn der Expedition war sie felsenfest davon überzeugt gewesen, die Gestalten, die sie auf der Ranch angegriffen hatten, weit hinter sich gelassen zu haben. Aber vielleicht waren sie ihr ja dennoch gefolgt. Doch wer verfügte über die Fähigkeiten, ganz zu schweigen von der Entschlusskraft, durch diese karge und raue Landschaft hinter ihnen herzureiten?

»Das Land hier ist trocken und sandig«, sagte Swire, und sein düsteres Gesicht nahm einen Ausdruck grimmiger Entschlossenheit an. »Da kann man eine Spur nicht immer und ewig verbergen. Ich bin nur hierher zurückgekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich losreiten und diese Schweinehunde verfolgen werde.« Er stand abrupt auf und stapfte vom Feuer davon.

Niemand sagte ein Wort. Nora hörte aus Swires Zelt das Geräusch von Patronen, die in das Magazin eines Gewehrs geschoben wurden. Einen Moment später kam der Cowboy mit einem Revolver am Gürtel und einem Gewehr in seiner Hand wieder heraus.

»Einen Augenblick, Roscoe«, sagte Nora.

»Versuchen Sie nicht, mich aufzuhalten«, entgegnete Swire.

»Sie können jetzt nicht einfach weglaufen«, erwiderte Nora scharf. »Wir müssen erst über diese Angelegenheit reden.«

»Mit Ihnen zu reden bringt einen nur in Schwierigkeiten.«

Bonarotti ging wortlos zu seinem Kochkoffer und begann einen Beutel mit Proviant zu füllen.

»Roscoe«, sagte Sloane. »Nora hat völlig Recht. Sie können nicht einfach losziehen und...«

»Halten Sie den Mund. Ich werde mir doch von ein paar dahergelaufenen Weibern nicht sagen lassen, was ich zu tun und zu lassen habe.«

»Wie wäre es dann mit einem dahergelaufenen Mann?«, mischte Black sich ein. »Was Sie Vorhaben, ist töricht. Sie könnten verletzt werden, wenn Ihnen nicht noch Schlimmeres zustößt.«

»Ich habe genug von Ihrem Geschwätz«, blaffte ihn Swire an und ließ sich von Bonarotti den Proviantbeutel geben. Er wickelte ihn in seinen Regenmantel und wandte sich zum Gehen.

Nora bemerkte, wie sich ihre Angst und Niedergeschlagenheit in Wut verwandelten. Sie durfte es nicht dulden, dass irgendwer oder irgendwas ihre Grabung, die so vielversprechend begonnen hatte, in Gefahr brachte. Ebenso wenig konnte sie es dulden, dass Swire sich so unbotmäßig benahm. »Bleiben Sie stehen, Swirei«, herrschte sie ihn an.

Die Gruppe hielt den Atem an und Swire, den ihr Befehlston offenbar überrascht hatte, drehte sich zu Nora um.

»Hören Sie mir zu«, fuhr Nora fort und spürte, wie ihr das Herz in der Brust hämmerte und ihre Stimme zu zittern begann. »Wir müssen uns gut überlegen, was wir jetzt tun. Sie können nicht einfach ohne Plan losreiten und jemanden umbringen.«

»Ich habe einen Plan«, antwortete Swire. »Und hier gibt es nichts zu überlegen. Ich werde diese Schweine finden und...«

»Sie haben Recht, die Täter müssen gefunden werden«, schnitt Nora ihm das Wort ab, »aber Sie sind nicht der Richtige dafür.«

»Was?« Swires Gesicht nahm einen Ausdruck verächtlicher Verwunderung an. »Und wer, bitteschön, soll das dann für mich machen?«

»Ich.«

Swire öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

»Denken Sie doch mal einen Augenblick nach«, fuhr Nora rasch fort. »Der oder die Täter haben zwei Pferde getötet. Nicht aus Hunger, nicht zum Vergnügen, sondern um uns eine Botschaft zukommen zu lassen. Sagt Ihnen das nichts? Was ist beispielsweise mit den restlichen Pferden? Was meinen Sie wohl, was mit denen geschehen wird, während Sie auf Ihrem Rachefeldzug sind? Das sind Ihre Pferde, Roscoe, und nur Sie können für ihre Sicherheit sorgen, bis diese Angelegenheit geklärt ist.«

Swire schürzte die Lippen und strich sich mit einem Finger über seinen Schnurrbart. »Jemand anderer könnte auf die Pferde aufpassen, während ich weg bin.«

»Und wer, bitteschön?«

Swire zögerte mit seiner Antwort. »Sie wissen doch gar nicht, wie man Spuren verfolgt«, erwiderte er dann.

»Doch, das weiß ich. Wer auf einer Ranch groß geworden ist, kann so etwas. Wenn Sie wüssten, wie viele entlaufene Kühe ich wieder einfangen musste. Ich bin vermutlich nicht so geübt wie Sie, aber Sie haben gerade selbst gesagt, dass man da draußen in dem sandigen Gelände eine Spur kaum verbergen kann.« Nora beugte sich hinüber zu dem Cowboy. »Glauben Sie mir, wenn überhaupt jemand losgeht, dann bin ich diejenige, die dafür in Frage kommt. Aaron, Sloane und Enrique werden dringend bei der Ausgrabung gebraucht, und Sie sind der Einzige, der sich um die Pferde kümmern kann. Luigi als Koch ist ebenfalls unentbehrlich, und Peter tut sich mit dem Reiten schwer.

Außerdem brauchen wir ihn, um den Funkverkehr aufrechtzuerhalten.«

Swire maß Nora mit einem abschätzigen Blick, sagte aber nichts.

»Das ist ja verrückt«, mischte Black sich ein. »Wollen Sie etwa alleine losziehen? Außerdem können Sie nicht von hier weg, Sie sind schließlich die Leiterin dieser Expedition.«

»Genau aus diesem Grund kann ich von niemand anderem verlangen, dass er sich in Gefahr bringt«, entgegnete Nora. »Ich werde nur einen Tag wegbleiben, allerhöchstens einen Tag und eine Nacht. Inzwischen können Sloane und Aragon gemeinsam die Entscheidungen treffen, die für den Fortgang der Grabung wichtig sind. Ich will herausfinden, wer das mit den Pferden gemacht hat und weshalb.«

»Ich bin der Meinung, dass wir die Polizei verständigen sollten«, sagte Black. »Wir haben doch ein Funkgerät.«

Aragon brach plötzlich in ein für ihn völlig untypisches Gelächter aus. »Die Polizei? Was für eine Polizei denn?«

»Na, die ganz normale Polizei, wen denn sonst? Wir sind schließlich immer noch in den Vereinigten Staaten von Amerika.«

»So, sind wir das?«, murmelte Aragon.

Keiner sagte etwas, bis sich Smithback mit erstaunlich ruhiger und fester Stimme zu Wort meldete. »Ich finde, Nora sollte nicht allein gehen, und da ich der Einzige bin, der bei der Grabung nicht gebraucht wird, werde ich sie begleiten.«

»Nein«, sagte Nora automatisch.

»Warum nicht? Der Abfallhaufen wird mich einen Tag lang entbehren können, und Aaron kann ein bisschen körperliche Arbeit auch nicht schaden. Ich bin kein schlechter Reiter, und außerdem kann ich auch mit einer Waffe umgehen, falls das nötig sein sollte.«

»Wir müssen aber auch noch etwas anderes bedenken«, warf Aragon ein. »Sie haben vorhin gesagt, dass die Pferde getötet wurden, um uns eine Botschaft zu schicken. Aber haben Sie sich einmal überlegt, dass es auch einen anderen Grund dafür geben könnte?«

Nora sah ihn an. »Und was sollte das denn für ein Grund sein?«

»Dass man die Pferde getötet hat, um einige von uns vom Lager wegzulocken und sie dann zu überfallen? Vielleicht hat sich der Reiter Swire ja absichtlich gezeigt.«

Nora fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Das ist ein weiterer Grund für mich, Sie zu begleiten«, erklärte Smithback.

»Moment mal«, sagte Swire mit kalter Stimme. »Vergessen wir bei unseren Überlegungen nicht das Devil's Backbone? Dieser verdammte Berg hat schon drei von meinen Pferden das Leben gekostet.«

»Daran habe ich auch gedacht, als Sie sagten, Sie hätten einen Reiter auf dem Bergrücken gesehen«, sagte Nora. »Und es ist wohl unumstritten, dass jemand zu Pferd gestern Nacht im Tal jenseits des Slot-Canons war. Der einzige Zugang dazu führt aber über das Devil's Backbone. Wer auch immer über den Berg geritten ist, der hat es bestimmt auf einem Pferd ohne Hufeisen getan.«

»Ohne Hufeisen?«, fragte Smithback.

Nora nickte. »Ein unbeschlagenes Pferd ist auf einem schmalen, glatten Felspfad sehr viel trittsicherer. Eisen auf Stein gleitet wie Schlittschuhkufen auf Eis, wohingegen das Keratin eines Pferdehufes einen sehr viel besseren Halt hat.«

Swire starrte Nora böse an. »Ich lasse es nicht zu, dass Sie die Hufe meiner Pferde in dieser verfluchten Wildnis hier kaputtmachen.«

»Wir werden die Hufeisen wieder anbringen, sobald wir am Fuß des Berges sind«, sagte Nora. »Sie haben doch Werkzeug zum Abnehmen der Eisen dabei, oder?«

Swire nickte langsam.

»Ich möchte lediglich herausfinden, wer das getan hat und warum. Wir können den Fall dann den Behörden übergeben, wenn wir wieder zurück in der Zivilisation sind.«

»Genau das will ich nicht«, sagte Swire.

»Wollen Sie lieber den Rest Ihres Lebens hinter Gittern verbringen, weil Sie im Zorn jemanden, erschossen haben?«, fragte Nora.

Swire gab keine Antwort. Bonarotti drehte sich um und verschwand wortlos in seinem Zelt. Kurze Zeit später kam er mit seinem Revolver, einer Schachtel Munition und einem Lederhalfter mit Patronengürtel wieder zurück und drückte Nora alles in die Hand. Nora band sich den Gürtel um und klappte die schwere Waffe auf. Nachdem sie den Zylinder gedreht hatte, ließ sie den Revolver wieder zuschnappen. Als Nächstes riss sie die Schachtel auf und steckte eine Patrone nach der anderen in die Schlaufen am Gürtel. Schließlich warf sie die leere Schachtel ins Feuer und wandte sich an Swire. »Wir werden uns um diese Angelegenheit kümmern«, sagte sie mit fester Stimme.