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John Beiyoodzin hielt sein Pferd auf dem Kamm des Bergrückens j an und blickte hinab ins Tal von Chilbah. Das Tier hatte den gefährlichen Aufstieg gut gemeistert, aber es schwitzte stark und zitterte vor Anstrengung. Beiyoodzin murmelte dem Pferd ein paar beruhigende Worte ins Ohr und ließ es eine Weile rasten. Das schmale Band des Flusses, das sich am Boden des grünen Tals entlangwand, glitzerte in der Sonne des Vormittags wie eine Schlange aus Quecksilber. Auf den Terrassen oberhalb des Wasserlaufs bewegte eine schwache Brise die Blätter der Pappeln und Eichen. Hier oben wehte ein stärkerer Wind, und in der Luft lag ein Geruch nach Salbei und Ozon. Auf einmal spürte Beiyoodzin von hinten eine Bö, die so stark war, dass sie ihn fast aus dem Sattel geweht hätte. Beiyoodzin widerstand dem Impuls, sich umzudrehen, denn er wusste nur zu gut, was hinter ihm am Himmel dräute.
Sein Pferd schüttelte den Kopf, und Beiyoodzin klopfte ihm beruhigend auf den Hals. Er schloss einen Moment lang die Augen und versuchte sich gedanklich auf die Konfrontation vorzubereiten, die vor ihm lag.
Aber die Ruhe, nach der er suchte, wollte sich nicht einstellen. Er hätte der Frau alles sagen sollen, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Sie war ihm gegenüber ehrlich gewesen und hätte es somit verdient gehabt, dass er sie aufklärte. Es war dumm von ihm gewesen, ihr nur die Hälfte der Geschichte zu erzählen. Schlimmer noch: Seine Lüge war unfreundlich und selbstsüchtig gewesen. Und jetzt hatte er wegen seines Versäumnisses einen Ritt auf sich nehmen müssen, den er eigentlich um jeden Preis hatte vermeiden wollen. Nur mit Mühe konnte er sich dazu bringen, über den entsetzlichen Charakter des Bösen nachzudenken, dem er sich jetzt entgegenstellen musste, aber er wusste, dass er keine andere Wahl hatte: Er sah einem Konflikt entgegen, in dem er womöglich den Tod finden würde.
Beiyoodzin war sich über die Situation, in der er sich befand, vollkommen im Klaren, und er war nicht glücklich über die Rolle, die er spielte. Vor sechzehn Jahren, als das Böse seinen Anfang nahm, hatte es die kleine Welt seines Stammes nur ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht. Aber weil er und die anderen diese ni zshinitso, diese kleine Hässlichkeit, ignoriert hatten, war die zunächst eher unbedeutende Störung immer schlimmer geworden. Als angesehener Heiler hätte Beiyoodzin seinen Leuten sagen müssen, was zu tun war, doch das hatte er versäumt. Hätte er damals das Übel bei der Wurzel gepackt, wären jetzt nicht diese Archäologen in Chilbah, die im Tal hinter dem Slot-Canon herumgruben. Nur ihretwegen waren die Eskizzi, die Skinwalker, wieder aktiv geworden. Und ihm, John Beiyoodzin, fiel nun die Aufgabe zu, sich ihnen entgegenzustellen.
Zögernd drehte er sich um und betrachtete den immer weiter anschwellenden Sturm. Er kam ihm vor wie ein riesiges, bösartiges Tier, wie eine körperliche Manifestation des Bösen, an das er gerade gedacht hatte. Aus den Gewitterwolken fielen dichte dunkle Regenschleier auf das Kaiparowits-Plateau herab. Es war ein Wolkenbruch, wie er nur alle fünfzig Jahre einmal vorkam. Solange er lebte, hatte Beiyoodzin noch keinen solchen Regen gesehen.
Der alte Indianer ließ seinen Blick über die von vielen Canons durchfurchte Landschaft zwischen der Gewitterfront und dem Chilbah-Tal streifen und versuchte, die jetzt unweigerlich heranrollenden Wassermassen ausfindig zu machen, doch die Canons waren zu tief, als dass er sie hätte sehen können. Er stellte sich vor, wie der Regen auf den Fels der Hochebene prasselte, wie sich die Tropfen zu Meinen Bächen zusammenfanden, die Bäche zu Flüssen, die Flüsse zu Fluten und die Fluten schließlich zu etwas, das man mit Worten nicht mehr beschreiben konnte.
Beiyoodzin griff nach einem kleinen Bündel, das er an seinen Sattel gebunden hatte. Darin befanden sich ein durchbohrtes Stück Türkis, ein in Rosshaar gewickelter Bildstein sowie ein Hirschlederbeutel, der an einer Adlerfeder befestigt war. Beiyoodzin öffnete den Beutel und streute daraus etwas mit Maismehl vermischten Blütenstaub auf seinen Körper sowie auf den Kopf des Pferdes. Dann nahm er die Adlerfeder zur Hand und bürstete damit das feine Pulver von sich und dem Tier. Das Pferd tänzelte nervös und verdrehte die Augen in Richtung auf die Gewitterfront. Der stetig zunehmende Wind bewegte die Lederbänder des Sattels.
Beiyoodzin stimmte einen leisen Gesang in indianischer Sprache an, während er seinen Medizinbeutel wieder zusammenschnürte und sich den restlichen Blütenstaub von den Fingern wischte. Die Landschaft unter ihm schien in zwei Teile zu zerfallen: Auf den einen schien die Sonne, während der andere im Schatten der schwarzen Gewitterwolken lag. Beiyoodzin wusste, dass er in das zweite Tal musste, das Tal von Quivira. Er wollte jedoch nicht den Zugang durch den Slot-Canon wählen, durch den bald eine gewaltige Sturzflut tosen würde, sondern den geheimen Weg der Priester. Von jenem Saumpfad hoch über den Canons hatte ihm vor langer Zeit sein Großvater mit heiserer Stimme flüsternd erzählt. Beiyoodzin selbst hatte den Pfad noch nie zu Gesicht bekommen, so dass er sich nun erst die Anweisungen seines Großvaters wieder ins Gedächtnis rufen musste, um den perfekt verborgenen Pfad überhaupt zu finden.
Seine Erbauer hatten sich eine optische Täuschung zu Nutze gemacht und ihn so in den Fels gehauen, dass er sich erst aus wenigen Metern Entfernung von der glatten Wand unterscheiden ließ. Der Weg der Priester, so hatte sein Großvater es ihm erzählt, verlief weit vom Slot- Canon entfernt die Klippen hinauf, am oberen Rand des Felsplateaus entlang und schließlich am anderen Ende des Tales von Quivira wieder nach unten. Vermutlich war der Weg für einen alten Mann wie ihn überaus beschwerlich, vielleicht schaffte er ihn ja auch überhaupt nicht mehr. Aber Beiyoodzin wusste, dass er in das andere Tal gelangen musste, wenn er das Ungleichgewicht korrigieren und die natürliche Symmetrie der Welt wieder herstellen wollte. Er gab sich also einen Ruck und lenkte sein Pferd hinunter in das Tal von Chilbah.