15
Teresa Gonzales fuhr erschrocken in ihrem Bett hoch und horchte hinaus in die Dunkelheit. Teddy Bear, ihr riesiger rhodesischer Ridgeback, der im Sommer immer draußen schlief, winselte an der Hintertür. Teddy Bear, dessen Rasse man früher in Afrika für die Löwenjagd gezüchtet hatte, war wirklich ein lieber Hund, aber er war auch extrem wachsam. Teresa hatte ihn noch nie zuvor so winseln gehört, aber weil sie Teddy Bear erst am Tag zuvor vom Tierarzt geholt hatte, wo er zwei Wochen wegen einer schlimmen Infektion in Behandlung gewesen war, schrieb sie es diesem Umstand zu, dass das arme Tier noch immer traumatisiert war.
Teresa stand auf, ging durch das dunkle Haus nach unten und öffnete die Hintertür. Teddy Bear trottete mit eingezogenem Schwanz herein.
»Teddy!«, flüsterte sie. »Was ist denn los mit dir? Fehlt dir was?«
Der riesige Hund leckte ihr die Hand, schlich quer durch die Küche und verkroch sich unter dem Tisch. Teresa blickte durch das Fenster der Hintertür zur alten Cabrillas-Ranch hinüber. Es herrschte so tiefe Dunkelheit in dieser mondlosen Nacht, dass Teresa nicht einmal die Umrisse des verlassenen Hauses erkennen konnte. Irgendetwas da draußen musste den Hund zu Tode erschreckt haben. Teresa lauschte hinaus in die Finsternis und glaubte in der Feme das Geräusch von brechendem Glas und das heisere Heulen eines Tieres zu hören. Für einen Kojoten oder einen wilden Hund klang es zu tief. Es hörte sich eher wie ein Wolf an. Aber Teddy, der nicht einmal Angst vor Pumas hatte, wäre nie und nimmer vor einem einzelnen Wolf davongerannt. Da hätte es sich schon um ein ganzes Wolfsrudel handeln müssen.
Zu dem gedämpften, tief tönenden Heulen gesellte sich jetzt ein zweites, das Teresa näher an ihrem Haus zu sein schien. Der Hund winselte abermals und verkroch sich noch weiter unter den Tisch. Teresa hörte ein plätscherndes Geräusch und sah, wie der Hund vor lauter Angst auf den Boden pinkelte.
Die Hand am Türrahmen, dachte sie nach. Noch bis vor zwei Jahren hatte es hier in New Mexico keine Wölfe gegeben, aber dann hatte die Jagd- und Fischereibehörde ein paar in der Wildnis am Rio Pecos ausgesetzt. Von denen müssen wohl welche aus den Bergen heruntergekommen sein, dachte Teresa.
Sie ging zurück ins Schlafzimmer, schlüpfte aus dem Bademantel und zog sich Jeans, Hemd und Stiefel an. Dann öffnete sie den Waffenschrank und betrachtete die Gewehre, deren Läufe matt im Licht der Nachttischlampe schimmerten. Ohne zu zögern griff Teresa nach ihrer Lieblingsschrotflinte, einer Winchester Defender mit ihrem siebenundvierzig Zentimeter langen Lauf und extra großem Magazin. Es war eine gute, leichte Flinte, die im Prospekt des Herstellers als ideale Verteidigungswaffe mit hohem Wirkungsgrad gepriesen wurde - was in Wirklichkeit nichts anderes als eine verharmlosende Umschreibung dafür war, dass man mit der Winchester hervorragend Menschen umbringen konnte. Oder Wölfe.
Teresa schob ein Magazin mit acht Schrotpatronen in das Gewehr. Es war nicht das erste Mal seit dem Angriff auf Nora, dass sie Geräusche von der alten Kelly-Ranch gehört hatte. Einmal, als sie gerade aus Santa Fe zurückgekommen war, hatte sie sogar eine geduckte, pelzige Gestalt um die alten Briefkästen schleichen sehen. Es mussten Wölfe sein, denn alles andere hätte keinen Sinn ergeben. Ein paar von ihnen hatten Nora damals in der Nacht angefallen und der Ärmsten einen solchen Schreck eingejagt, dass sie sich eingebildet hatte, sie habe die Tiere sprechen gehört. Teresa schüttelte den Kopf. Eigentlich war Nora gar nicht der Typ, der in Stresssituationen so völlig ausrastete.
Wölfe, die keine Angst vor Menschen mehr hatten, konnten ganz schön gefährlich sein. Deshalb wäre Teresa ihnen nur ungern ohne ein schussbereites Gewehr begegnet. Wenn wirklich ein paar um die alte Kelly-Ranch herumschlichen, dann war es besser, wenn sie hinüber ging und reinen Tisch machte. Sollten sich die Leute von der Jagd- und Fischereibehörde ruhig darüber beschweren, Teresa hatte für die Sicherheit auf ihrer Ranch zu sorgen.
Sie klemmte sich die Schrotflinte unter den Arm, schob sich eine Taschenlampe in die hintere Hosentasche und ging leise zurück in die Küche. Als sie, ohne das Licht einzuschalten, die Tür öffnete, hörte sie Teddy unter dem Tisch winseln und schnüffeln. Ganz anders als sonst machte der Hund keinerlei Anstalten, ihr zu folgen.
Leise trat sie hinaus auf die Veranda und zog vorsichtig die Tür hinter sich ins Schloss. Die Bretter knarzten leise, als sie die Stufen hinunterschlich. Durch die Dunkelheit ging sie zum Brunnenhaus, wo der Weg hinüber zur Las-Cabrillas-Ranch begann. Obwohl Teresa eine große, kräftig gebaute Frau war, bewegte sie sich mit katzenartiger Geschmeidigkeit. Am Brunnenhaus atmete sie tief durch, hob den Lauf der Waffe und machte sich auf in die schwarze Finsternis. Seit ihrer Kindheit, in der sie drüben auf der anderen Ranch oft mit Nora gespielt hatte, hatte sie diesen Weg schon so oft genommen, dass ihre Füße in praktisch auswendig kannten.
Bald war sie den Hügel hinaufgestiegen und sah das alte Haus der Kelly-Ranch vor sich, dessen niedriges Dach sich nur undeutlich vom schwarzen Nachthimmel ab hob. Im schwarzen Licht der Sterne konnte sie erkennen, dass die Vordertür offen stand.
Teresa verharrte eine ganze Weile reglos und lauschte, hörte aber nur das Rascheln des Windes in den Pinien. Das Metall der Flinte in ihren Händen fühlte sich kühl und beruhigend an.
Teresa prüfte die Richtung des Windes und stellte fest, dass er vom Haus her auf sie zu wehte. Die Wölfe konnten sie also nicht wittern. In der Luft lag ein schwacher, aber seltsamer Geruch, der sie an den Duft von Purpurwinden erinnerte. Vielleicht hatten die Tiere sie ja kommen hören und Reißaus genommen, vielleicht waren sie aber auch noch im Haus.
Sie entsicherte das Gewehr und drückte die Taschenlampe fest an seinen Lauf. Dann marschierte sie auf das Haus zu, das im schwachen Sternenschein wie ein vergessener Tempel aussah. Mit dieser starken Taschenlampe war Teresa in der Lage, jedes Tier, das sie angriff, lange genug zu blenden, um in aller Ruhe zielen und abdrücken zu können.
Und dann hörte Teresa ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch, das nicht von einem Wolf stammen konnte. Abrupt blieb sie stehen und horchte in die Dunkelheit. Es war ein monotoner, vibrierender Gesang in einem heiseren, kehligen Ton, der so trocken und zart klang wie das Zerbröseln dürren Laubes.
Das Geräusch kam aus dem Inneren des Hauses.
Teresa befeuchtete sich die trockenen Lippen und atmete tief durch. Dann betrat sie die vordere Veranda, wo sie einige Sekunden stehen blieb und wartete. Schließlich schlich sie so leise wie möglich zwei Schritte nach vom, richtete das Gewehr auf die Haustür und schaltete die Taschenlampe ein.
Das Innere des Hauses war so, wie sie es von ihrem Besuch in der vergangenen Woche noch in Erinnerung hatte: ein einziges Chaos aus Zerfall, Staub und Moder. Der Geruch nach Blumen, den sie schon draußen wahrgenommen hatte, war hier drinnen viel intensiver. Rasch leuchtete Teresa Ecken und Türen mit ihrer Taschenlampe ab, konnte aber nichts entdecken. Durch eine zerbrochene Fensterscheibe wehte sanft der Nachtwind herein und blähte .die schmutzigen Vorhänge. Der Gesang war jetzt lauter, und Teresa hatte den Eindruck, als käme er aus dem ersten Stock.
Vorsichtig schlich sie sich ans untere Ende der Treppe, wo sie die Taschenlampe ausschaltete. Was immer sich dort oben aufhielt, ein Tier war das bestimmt nicht. Vielleicht hatte Nora ja doch Recht gehabt, und sie war tatsächlich von Menschen angegriffen worden, womöglich von Vergewaltigern. Auf einmal fiel Teresa wieder ein, welch entsetzliche Angst Teddy Bear gehabt hatte. Vielleicht wäre es besser, wenn sie leise nach Hause ginge und die Polizei anriefe.
Aber nein: Erstens würde es eine Weile dauern, bis die Polizei einträfe, und zweitens würden die Bastarde, wenn sie das Blaulicht sähen oder die Stiefel der Polizisten auf der Veranda poltern hörten, sofort im Dunkel der Nacht verschwinden und Teresa mit der nagenden Sorge zurücklassen, wann sie wohl das nächste Mal wiederkämen. Vielleicht würden sie ja auch versuchen, ihr irgendwo auf der Ranch aufzulauem, wenn sie keine Waffe dabeihatte...
Sie nahm die Schrotflinte fester in beide Hände. Jetzt war es Zeit zum Handeln. Seit ihr Vater ihr das Jagen beigebracht hatte, wusste Teresa, wie man sich anpirschen musste. Sie hatte eine Waffe, mit der sie gut umgehen konnte, und sie konnte das Überraschungsmoment nutzen. Mit äußerster Vorsicht begann sie die Treppe hinaufzusteigen. Ganz ihrem Instinkt vertrauend, bewegte sie dabei langsam einen Fuß nach dem anderen und achtete darauf, nie eine der Treppendielen zu stark zu belasten.
Als sie oben angelangt war, blieb sie wieder stehen. Im Haus war es viel zu dunkel, um irgendetwas sehen zu können, aber ihr Gehör sagte ihr, dass die Geräusche aus Noras altem Zimmer kamen. Teresa ging zwei Schritte vorwärts, hielt inne und holte mehrmals tief Luft, um sich zu beruhigen. Wer immer auch dort in dem Zimmer sein mochte, Teresa wollte kein Risiko eingehen.
Sie machte sich fertig, indem sie die Taschenlampe noch fester an den Lauf des Gewehrs presste und den Zeigefinger der anderen Hand an den Abzug legte. Dann ging sie mit raschen, gleichmäßigen Schritten hinüber zur Tür, trat sie auf und schaltete, das Gewehr in Schussposition, die Taschenlampe an.
Es dauerte eine Weile, bis ihr Gehirn registrierte, was ihre Augen sahen: Zwei Gestalten, von Kopf bis Fuß in schwere, feuchte Pelze gehüllt, kauerten in der Mitte des Raumes. Mit geröteten Augen, die Teresa an die von wilden Tieren erinnerten, blickten sie, ohne zu blinzeln, ins Licht der Taschenlampe. Zwischen ihnen stand ein menschlicher Totenkopf ohne Schädeldecke, in dem sich einige Objekte befanden: der Kopf einer Puppe, ein Büschel Haare, das Barett eines Mädchens. Das sind ja Noras alte Sachen, stellte Teresa starr vor Schreck fest.
Auf einmal sprang eines der beiden Geschöpfe auf und kam rascher, als Teresa es für möglich gehalten hatte, auf sie zu. Kurz bevor es aus dem Lichtkegel der Taschenlampe verschwand, drückte Teresa ab. Sie spürte den Rückstoß der Flinte und hörte einen ohrenbetäubenden Knall, der das alte Haus in seinen Grundfesten erbeben ließ.
Teresa blinzelte und spähte angestrengt durch den Pulverqualm, konnte aber bloß ein rauchendes Loch in der Wand erkennen. Die beiden Kreaturen waren verschwunden.
Teresa lud durch, drehte sich einmal im Kreis und leuchtete das Zimmer mit ihrer Taschenlampe ab. In der plötzlich eingetretenen Stille hörte sie nichts anderes als ihren eigenen, stoßweisen Atem. Langsam sank der Staub zu Boden. Normale Menschen konnten sich nicht so schnell bewegen. Trotz ihrer Taschenlampe und ihrer Schrotflinte fühlte sich Teresa auf einmal in diesem verlassenen, alten Haus entsetzlich verwundbar. Instinktiv hatte sie das Bedürfnis, das Licht auszuschalten, um in der Dunkelheit Zuflucht zu finden, aber sie wusste, dass diese ihr keinen Schutz vor den Angreifern bieten würde.
Teresa war schon als Kind ein tapferes Mädchen und immer die Größte und Stärkste ihrer Jahrgangsstufe gewesen. Sie hatte keine älteren Brüder gehabt, die sie hätten beschützen können, doch auch so hatte sie sich vor niemandem gefürchtet - weder vor Jungs noch vor Mädchen. Jetzt aber, als sie vor der offenen Tür stand und schwer atmend in den dunklen Gang spähte, auf die geringste Bewegung lauernd, überkam sie ein nie gekanntes Gefühl der Panik, das sie völlig zu vereinnahmen drohte.
Sie zwang sich einen Schritt aus dem Zimmer zu machen. Draußen wirbelte sie herum und leuchtete in die Dunkelheit. Bis auf ihren eigenen Atem war im gesamten Haus nicht das leiseste Geräusch zu hören. Schwarze Türöffnungen in dem mit Unrat angefüllten Gang führten in weitere Schlafzimmer.
Teresa war klar, dass sie irgendwie nach unten gelangen musste. Sie schaute hinüber zur Treppe und prägte sich die Umgebung ein. Dann schaltete sie die Lampe aus und rannte los.
Sie kam nicht weit. Ein Schatten sprang sie plötzlich aus einem der anderen Schlafzimmer an. Mit einem entsetzten Schrei wirbelte Teresa herum und drückte ab. Geblendet vom Blitz des Mündungsfeuers taumelte sie nach hinten und rollte kopfüber die Treppe hinunter. Dabei verlor sie die Flinte, die laut polternd über die Stufen in die Dunkelheit rutschte. Unten rappelte Teresa sich auf und verspürte dabei einen stechenden Schmerz in einem ihrer Fußknöchel.
Am oberen Ende der Treppe kauerte eine große, dunkle Gestalt und blickte stumm zu ihr herab. Im schwachen, bläulichen Licht der Sterne suchte Teresa nach ihrer Waffe, aber anstatt der Flinte erblickte sie die zweite schreckliche Gestalt, die in der Tür zur Küche stand und nun mit langsamen, selbstsicheren Schritten auf sie zu kam.
Starr vor Angst sah Teresa die Gestalt einen Augenblick lang an, dann drehte sie sich um und humpelte auf die Haustür zu. Zerbrochenes Glas knirschte unter ihren schwankenden Schritten, und ein leises Stöhnen entrang sich ihrer trockenen Kehle.