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Black zog sich ächzend die letzte Sprosse der Strickleiter hinauf und betrat mit einem kleinen Packsack in der Hand den felsigen Boden von Quivira. Sloane saß bereits auf der Mauer und wartete auf ihn, aber einem Impuls folgend drehte sich Black noch einmal um und ließ den Blick über das Tal schweifen. Es war kaum zu glauben, dass er vor gerade mal vier Stunden auch hier gestanden und auf die Wassermassen der Sturzflut hinabgeschaut hatte. Jetzt waren die Canon-Wände und der säuberlich aufgeräumte Lagerplatz in das helle Sonnenlicht des Nachmittags getaucht. Die Vögel zwitscherten, und die Luft war kühl und frisch vom Regen. Die einzige Erinnerung an die Katastrophe waren der noch immer Hochwasser führende Fluss, der das kleine Tal wie eine braune Narbe durchschnitt, und die halb in seinen Fluten liegenden Stämme umgestürzter Bäume.

Black wandte sich ab und ging hinüber zu Sloane, die damit begonnen hatte, ihre Ausrüstung noch einmal zu überprüfen. Er bemerkte, dass sie die überzählige Pistole in ihren Gürtel gesteckt hatte. »Wozu brauchst du denn die?«, fragte er, wobei er auf die Waffe deutete.

»Hast du vergessen, was mit Holroyd geschehen ist? Und mit den Pferden?«, entgegnete Sloane, ohne den Blick von ihren Sachen zu nehmen. »Ich möchte keine böse Überraschung erleben, wenn wir das Kiva öffnen.«

Black dachte einen Augenblick nach. »Und was ist mit Swire?«, fragte er.

»Was soll mit ihm sein?«

Black sah sie an. »Er schien mir nicht allzu begeistert von unseren Plänen zu sein.«

Sloane zuckte mit den Achseln. »Der Mann ist für die Pferde angeheuert worden und hat nichts zu vermelden. Wenn unsere Entdeckung erst einmal publik wird und eine Woche lang landesweit in den Schlagzeilen steht - hier im Südwesten bestimmt sogar einen Monat lang -, dann wird er bestimmt nichts mehr dagegen sagen.« Sie nahm Blacks Hand und drückte sie lächelnd.

Bonarotti kam die Strickleiter herauf. Sein großer Revolver hing an seinem Gürtel, und über die rechte Schulter hatte er einen Sack mit Grabgerät geschlungen. Als Sloane ihn sah, ließ sie Blacks Hand los. »Gehen wir«, sagte sie.

Black und Bonarotti folgten Sloane quer über den Hauptplatz in den rückwärtigen Teil der toten Stadt. Black spürte, wie sein Herz rascher zu schlagen begann.

»Glauben Sie wirklich, dass Gold in dem Kiva ist?«, fragte Bonarotti.

Als Black den Koch ansah, bemerkte er in dessen Augen zum ersten Mal so etwas wie eine Gefühlsregung.

»Ja, das glaube ich sehr wohl«, antwortete er. »Alles andere wäre unlogisch. Alle Tatsachen deuten darauf hin.«

»Und was werden wir damit tun?«

»Mit dem Gold?«, fragte Black zurück. »Das muss das Institut entscheiden.«

Bonarotti verstummte, und Black musterte sein Gesicht. Auf einmal wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, was in einem Mann wie Bonarotti vorging.

Gleichzeitig gestand er sich ein, dass auch er - trotz seiner hochfliegenden Tagträume über das Kiva - sich nicht ein einziges Mal überlegt hatte, was mit dem darin enthaltenen Gold eigentlich geschehen sollte. Vielleicht würde es im Institut ausgestellt werden, vielleicht würde es wie der Schatz des Tutanchamun in einer Wanderausstellung durch die Museen der Welt touren. Im Grunde genommen war es ja egal, denn allein die Entdeckung des Goldes würde ihn, Aaron Black, weltberühmt machen.

Hintereinander krochen die drei durch Aragons Tunnel und zwängten sich durch den von Black entdeckten Durchgang in die Höhle. Sloane stellte zwei tragbare Lampen auf und beleuchtete damit den von Gesteinsbrocken blockierten Eingang zum Kiva. Dann machte sie ihre Kamera fertig, während sich Black und Bonarotti um die verbleibende Ausrüstung kümmerten. Black bemerkte dabei, dass seine Bewegungen etwas Langsames, fast Andächtiges an sich hatten.

Schließlich drehten sich beide Männer fast gleichzeitig zu Sloane um, die gerade ihre Großbildkamera auf dem Stativ befestigte.

»Ich brauche ja wohl nicht extra auf die eminente Bedeutung dessen hinzuweisen, was wir jetzt gleich tun werden«, sagte sie. »Dieses Kiva ist der größte archäologische Fund dieses Jahrhunderts, und wir werden uns dessen würdig erweisen, indem wir es genau nach dem Lehrbuch öffnen und dabei jeden unserer Schritte exakt dokumentieren. Luigi, Sie schaufeln jetzt bitte ganz vorsichtig den Sand und den Staub vor dem Eingang weg, und du, Aaron, kannst den Steinhaufen abtragen und danach den Eingang stabilisieren. Aber bevor ihr anfangt, möchte ich ein paar Aufnahmen machen.«

Sie stellte die Kamera ein, schob eine Filmkassette hinein und löste aus. Ihre starken Blitzgeräte tauchten das Kiva in grelles Licht.

Nachdem Sloane noch ein paar weitere Aufnahmen gemacht hatte, trat sie beiseite und nickte Black und Bonarotti zu.

Während der Italiener schaufelte, besah sich Black den Steinhaufen, der vor dem Zugang zum Kiva aufgeschichtet war. Die lose übereinander gelegten Gesteinsbrocken waren klar erkennbar von keinerlei archäologischer Bedeutung, so dass er sie einfach mit den Händen abtragen konnte, ohne auf zeitraubende Ausgrabungsmethoden zurückgreifen zu müssen. Aber sie waren schwer, und seine Armmuskeln ermüdeten rasch. Obwohl der Steinhaufen fast frei von dem Staub war, der den Rest des Kivas überzog, fiel Black das Atmen schwer, weil Bonarotti mit seiner Schaufelei eine gewaltige Wolke aufwirbelte.

Sloane blieb ein paar Schritte von dem Kiva entfernt stehen und sah den beiden Männern bei der Arbeit zu. Hin und wieder machte sie ein Foto, vermaß Teile des Kivas oder schrieb etwas in ihr Notizbuch. Ab und zu musste sie auch Bonarotti in seinem Arbeitseifer ein wenig bremsen, und als Black einen Stein an die Wand des Kivas knallen ließ, wies sie ihn barsch zurecht. Fast unmerklich hatte sie die Rolle der Leiterin übernommen. Beim Arbeiten dachte sich Black, dass ihn das eigentlich ärgern sollte, denn schließlich war er bei weitem der Erfahrenere und Rangältere von beiden. Aber er war viel zu neugierig auf den Inhalt des Kivas, um sich über solche Kleinigkeiten aufzuregen. Er war derjenige gewesen, der als Erster auf die mögliche Existenz eines Sonnen-Kivas hingewiesen und es schließlich auch gefunden hatte. Darauf würde er in den zahlreichen Arbeiten, die er in Zukunft über das Gold der Anasazi veröffentlichen wollte, gebührend hinweisen. Außerdem waren Sloane und er jetzt ein Team und...

Ein schlimmer Hustenanfall riss ihn aus seinen Gedanken. Er trat einen Schritt beiseite und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes über die Stirn. Die Staubwolke, die Bonarotti mit seiner Schaufelei aufgewirbelt hatte, hing in der Luft wie dicker Nebel, den das Licht der beiden Lampen in langen, schrägen Strahlen durchdrang. Die Szene wäre eines Breughel würdig gewesen. Black schaute hinüber zu Sloane, die in einiger Entfernung auf einem Felsen hockte und ihre Beobachtungen notierte. Sie blickte auf und schenkte ihm ein kurzes, trockenes Lächeln.

Black atmete ein paar Mal tief durch und ging zurück zu dem Steinhaufen, wo er seine Arbeit wieder aufnahm.

Auf einmal hielt er inne. Hinter den Steinen hatte er etwas Rötlichbraunes entdeckt. »Sloane!«, rief er. »Komm doch mal rüber und sieh dir das an.«

Im nächsten Moment war sie bei ihm. Sie wedelte mit den Händen den Staub aus der Luft und machte ein paar Aufnahmen mit der Handkamera. »Hinter den Steinen ist ein Lehmsiegel«, sagte sie, wobei ihre Stimme vor lauter Aufregung eine halbe Oktave höher klang. »Entferne bitte die restlichen Steine, Aaron, aber pass auf, dass du dabei das Siegel nicht beschädigst.«

Jetzt, da der Haufen nicht mehr so hoch war, fiel Black die Arbeit leichter, und nach ein paar Minuten hatte er das Siegel freigelegt. Es war ein großes Quadrat aus Lehm, in das eine linksdrehende Spirale eingeritzt war.

Abermals kam Sloane herbei. »Seltsam«, meinte sie, »dieses Siegel sieht aus, als wäre es ganz frisch. Schau dir das an.«

Black untersuchte das Siegel sorgfältig. Es sah tatsächlich frisch aus - zu frisch, dachte er, um siebenhundert Jahre alt zu sein. Der Steinhaufen vor dem Eingang hatte ihn von Anfang an stutzig gemacht, weil er nicht so recht zu der glatten Struktur des Kivas passte. Außerdem war es seltsam, dass der ansonsten allgegenwärtige Staub nicht auf den Steinen zu finden war. Einen Augenblick lang spürte er, wie sich ihm eine schwere Verzweiflung auf die Brust legte.

»Es ist unmöglich, dass jemand vor uns hier war«, murmelte Sloane.

Dann sah sie hinüber zu Black. »Diese Höhle hier bietet einen extrem guten Schutz vor Einflüssen der Witterung, nicht wahr?«

»Stimmt«, erwiderte Black, dessen Enttäuschung augenblicklich verflog und erneut aufgeflammter Begeisterung Platz machte. »Das wäre eine Erklärung, weshalb das Siegel so frisch aussieht.«

Sloane schoss noch ein paar Fotos und trat dann von dem Eingang zurück. »Fahren wir fort.«

Keuchend vor Anstrengung und Aufregung machte sich Black daran, den Rest des Steinhaufens abzutragen.