17

Einer hinter dem anderen ritten sie nun den Serpentine Canon hinauf, wobei sie immer wieder den kleinen Bach überqueren mussten, der an seinem Grund entlang floss. An beiden Seiten des Canons hatte der Wind feinen Sand an den Fuß der steilen Felswände geweht, auf dem etwas Gras und ein paar Wüstenblumen wuchsen. Ab und zu kam die Expedition auch an Wacholderbüschen vorbei, deren Zweige zu bizarren Formen verdreht waren. An anderen Stellen hatten sich Felsbrocken aus der Wand des Canons gelöst und waren mitten auf den Weg gefallen, so dass man in Schlangenlinien vorsichtig darum herumreiten musste. Zaunkönige flatterten auf, und Schwalben segelten unter den überhängenden Felsen hervor, an denen wie braune Warzen ihre Nester kleben. Ein paar weiße Wolken zogen über den Himmel, den die Expeditionsteilnehmer in dem fast vierhundert Meter tiefen Canon nur als einen schmalen Spalt hoch über ihren Köpfen wahrnahmen. Es kam Nora vor, als führe sie die ihr schweigend folgende Gruppe in eine seltsame neue Welt.

Nora atmete tief durch. Die wiegenden Bewegungen von Fiddlehead kamen ihr vertraut und beruhigend vor. Die Stute, ein zwölf Jahre alter Fuchs, war klug und melancholisch und schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Auf dem Weg den Canon hinauf merkte Nora ziemlich rasch dass Fiddlehead zudem ausgesprochen trittsicher war. Manchmal senkte sie den Kopf und schnüffelte den Weg ab, als könne sie so feststellen, wo sie hintreten müsse. Sie war zwar nicht besonders schön, dafür aber stark und gescheit. Auch die anderen Pferde der Expedition konnte man, mit Ausnahme von Hurricane Deck, Sloanes Reitpferd Companero und Swires beiden Tieren, nicht gerade als Prachtexemplare bezeichnen; sie ähnelten alle dem Pferd von Nora: keine Schönheiten, sondern gute, solide Ranchpferde. Nora war mit Swires Wahl zufrieden, denn ihre Erfahrung hatte sie gelehrt, dass teure, hochgezüchtete Tiere für Aufgaben wie diese nur wenig geeignet waren. Auf Pferdeschauen gaben sie zwar eine fantastische Figur ab, aber in den Bergen brachen sie sich leicht den Hals. Nora dachte an ihren Vater, der in seiner polternden Art beim Pferdekauf verwöhnte Show-Tiere stets wortgewaltig abgelehnt hatte. »Country-Club-Pferde können wir auf unserer Ranch nicht gebrauchen«, hatte er dabei immer wieder gesagt, »findest du nicht auch Nora?«

Nora drehte sich im Sattel um und betrachtete die anderen Reiter, die ihr, jeweils ein Packpferd hinter sich her führend, auf dem steinigen Pfad folgten. Black und Holroyd hingen wie nasse Säcke im Sattel, aber der Rest machte sich eigentlich nicht schlecht. Besonders Sloane Goddard sah man es an, dass sie reiten konnte. Sie bewegte sich auf ihrem Pferd ständig neben der Gruppe entlang, wobei sie immer wieder die Sattelgurte kontrollierte und den anderen Tipps gab, damit sie besser zurechtkamen.

Von Smithback war Nora überrascht. Zwar hatte der Journalist, dem Swire mit Hurricane Deck ein ausgesprochen lebhaftes Pferd zugeteilt hatte, am Anfang des Ritts mehrmals wilde Verwünschungen und Flüche ausgestoßen, doch hatte er offenbar genügend Ahnung vom Reiten, um dem Pferd zeigen zu können, wer hier der Herr war. Nachdem er das getan hatte, lief alles viel besser. Der Kerl mag ja ein eingebildeter Laffe sein, dachte Nora, aber auf dem Pferd gibt er eine gute Figur ab.

»Wo haben Sie denn reiten gelernt?«, rief sie ihm zu.

»Ich bin ein paar Jahre lang in Arizona zur Schule gegangen«, antwortete der Journalist. »Ich war damals eine kränkliche Heulsuse, und meine Eltern dachten, dass das Reiten einen Mann aus mir machen würde. Weil ich als einer der Letzten aus den Ferien kam, waren alle Pferde der Schule schon vergeben bis auf einen gigantischen alten Gaul namens Turpin. Er hatte mal am Stacheldraht herumgekaut und sich dabei die Zunge verletzt, so dass sie ihm ständig aus dem Maul heraushing. Sie war lang und rosa und sah ziemlich ekelhaft aus - und deshalb wollte ihn niemand reiten. Dabei war Turpin das schnellste Pferd der ganzen Schule. Wir haben oft Rennen in trockenen Bachbetten oder zwischen den Wüstenbüschen veranstaltet, und Turpin hat sie alle gewonnen.« Smithback schüttelte kichernd den Kopf.

Auf einmal aber verwandelte sich sein Lächeln in einen Ausdruck des Schreckens. Während der Journalist im Sattel herumfuhr, konnte Nora gerade noch sehen, wie Beetlebum, Smithbachs Packpferd, ruckartig seinen Kopf zurückzog. Smithbacks Hosenbein war voller Speichel. »Dieses verdammte Vieh wollte mich beißen!«, schrie er empört, während das Packpferd ihn mit einem ebenso unschuldigen wie erstaunten Gesichtsausdruck ansah.

»Der gute, alte Beetlebum«, sagte Swire und schüttelte liebevoll lächelnd den Kopf. »Er hat Sinn für Humor, das muss man ihm lassen.«

Smithback wischte sich den Pferdespeichel vom Hosenbein. »So was nennen Sie Humor?«

Nachdem sie eine halbe Stunde ohne besondere Vorkommnisse weitergeritten waren, ließ Nora die Gruppe anhalten. Aus einer an ihrem Sattel befestigten Aluminiumrolle holte sie die topografische Karte hervor, die Holroyd mit seinen Radardaten überlagert hatte. Nachdem sie die Karte eine Weile studiert hatte, winkte sie Holroyd herbei. »Ich finde, wir sollten mal eine Messung mit dem GPS machen«, sagte sie. Nora wusste, dass sie nach zehn Kilometern in einen Seiten-Canon abbiegen mussten, der auf der Karte als Hard Twist vermerkt war. Die Frage war nur, welches der unzähligen kleinen und größeren Täler, die ständig vom Serpentine Canon abzweigten, nun dieser Hard Twist Canon war. Von unten sahen sie nämlich alle gleich aus.

Holroyd griff in eine seiner Satteltaschen und holte das GPS heraus. Es war mit seinem Notebook verbunden, auf dem er alle Navigationsdaten gespeichert hatte. Unter Noras interessierten Blicken fuhr er den Computer hoch und tippte etwas auf der Tastatur ein.

Nach einer Weile verzog er das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das hatte ich befürchtet«, sagte er.

Nora runzelte die Stirn. »Jetzt sagen Sie bloß nicht, dass das Ding nicht gut genug ist.«

»Nicht gut genug?«, wiederholte Holroyd mit einem höhnischen Lachen. »Dieses Gerät hat vierundzwanzig Kanäle und eine Infrarot-Fernsteuerung. Es kann alles: Positionsdaten lesen, Orte automatisch geokodieren, und wenn es sein muss, markiert es sogar den Weg.«

»Worin besteht dann das Problem? Ist es kaputt?«

»Nein, das Gerät an sich funktioniert perfekt. Aber es kann hier keine Messung vornehmen. Um unsere Position zu errechnen, muss es mindestens drei geostationäre Satelliten anpeilen, aber hier unten im Canon kriegt es nicht einmal mit einem Verbindung. Sehen Sie selbst.«

Holroyd drehte den Computer hinüber zu Nora, die daraufhin ihr Pferd näher an das seine heranbrachte. Auf dem Bildschirm war eine hochaufgelöste Karte des Kaiparowits-Canon-Systems zu sehen. Darüber lagen kleinere Fenster, in denen der Lake Powell, ein Kompass und Zeilen von Daten dargestellt waren. Nora las die Mitteilung in einem dieser Fenster.

 

NMEA MODUS EINGESCHALTET

SATELLITEN WERDEN GESUCHT...

BISHER GEFUNDENE SATELLITEN: 0

3-D FIX NICHT VERFÜGBAR

LÄNGE/BREITE: ?/?

HÖHE: ?

EPHEMERIDENDATEN NICHT VERFÜGBAR MESSORT VERÄNDERN UND GERÄT NEU INITIALISIEREN

 

»Sehen Sie das hier?«, fragte Holroyd und deutete auf ein kleines Fenster am Rand des Bildschirms, in dem mehrere rote Punkte sich auf kreisrunden Bahnen drehten. »Das sind die verfügbaren Satelliten. Grüne Punkte bedeuten guten Empfang, gelbe Punkte bedeuten schlechten Empfang, rote Punkte bedeuten überhaupt keinen Empfang. Diese hier sind alle rot.«

»Haben wir uns etwa schon verlaufen?«, rief Black von hinten in einem Ton, der zwischen Befürchtung und Befriedigung schwankte. Nora schenkte ihm keine Beachtung.

»Wenn wir unsere Position bestimmen wollen, müssen wir da hinauf«, sagte Holroyd und deutete nach oben zum Canon-Rand.

Nora maß die hoch aufragende rote Felswand mit ihren Blicken. »Sie gehen zuerst.«

Holroyd grinste, schaltete den Computer aus und steckte ihn zurück in die Satteltasche. »Wenn es funktioniert, ist das ein fantastisches Gerät. Aber ich schätze, dass hier draußen sogar die höchst entwickelte Technik an ihre Grenzen stößt.«

»Soll ich hinaufklettern und unsere Position bestimmen?«, fragte Sloane, die mit einem fröhlichen Lächeln herangeritten kam.

Nora sah sie fragend an.

»Ich habe ein paar Klettersachen dabei«, sagte Sloane und hob die Klappe von einer ihrer Satteltaschen hoch. Drinnen sah Nora Seile, Karabiner und Steigklemmen. Sloane warf einen prüfenden Blick auf die Felswand. »Sieht nicht allzu schwierig aus. Ich glaube, ich könnte sie mit zwei, drei Haken schaffen, möglicherweise komme ich sogar ganz ohne aus.«

»Heben wir uns Ihre Künste lieber für später auf, wenn wir sie wirklich brauchen«, sagte Nora. »Jetzt möchte ich keine Zeit mehr verlieren. Wir werden also fürs Erste bei den bewährten, alten Navigationsmethoden bleiben.«

»Wie Sie wollen«, erwiderte Sloane gut gelaunt. »Sie sind hier der Boss.«

»Bewährte alte Navigationsmethoden«, murmelte Smithback. »Klingt nicht sehr Vertrauen erweckend.«

»Selbst wenn wir hier keinen Zugang zu den Satelliten haben, bleiben uns immer noch unsere Landkarten«, entgegnete Nora. Sie breitete die Karte auf ihrem Sattelhom aus und betrachtete sie eingehend. Dann berechnete sie aus der durchschnittlichen Geschwindigkeit der Expedition und der Zeit, die sie bereits unterwegs waren, ihre ungefähre Position, die sie, versehen mit Datum und Uhrzeit, auf der Karte vermerkte.

»Haben Sie denn Erfahrung mit so was?«, fragte Holroyd skeptisch.

Nora nickte. »Wir Archäologen müssen gut Kartenlesen können. Manchmal ist es verdammt schwierig, eine abgelegene Ruine zu finden. Und was erschwerend hinzukommt, ist das hier.« Sie deutete auf einen Vermerk in einer Ecke der Karte, der besagte: VORSICHT! KARTE NICHT VOR ORT ÜBERPRÜFT. »Die meisten dieser Kartenblätter wurden nach stereoskopischen Luftaufnahmen gezeichnet und gehörten eigentlich am Boden noch einmal nachgemessen. Wie Sie sehen, weicht die Karte an manchen Stellen von Ihrem Radarbild ab, das absolut exakt ist.«

»Ist ja toll«, stänkerte Black von hinten.

Nora steckte die Karte in den Behälter und lenkte ihr Pferd wieder auf den Pfad. Der Bach wurde nun zusehends schmäler und verschwand an manchen Stellen sogar ganz, so dass nur noch ein feuchter Streifen Sand auf seinen unterirdischen Verlauf schließen ließ. Jedes Mal, wenn ein Seiten-Canon abzweigte, hielt Nora ihr Pferd an und konsultierte die Karte. Sloane ritt jetzt vorne neben Nora.

»Fliegen, Reiten, Klettern, Archäologie«, zählte Nora auf. »Was können Sie denn noch alles?«

Sloane rutschte in ihrem Sattel herum. »Beim Fensterputzen bin ich eine Niete«, antwortete sie lachend, bevor ihr Gesicht einen ernsteren Ausdruck annahm. »Ich schätze, für alle meine Fähigkeiten ist letzten Endes mein Vater verantwortlich zu machen - oder zur Rechenschaft zu ziehen, je nachdem. Er stellt nun mal hohe Anforderungen an die Menschen in seiner Nähe.«

»Ihr Vater ist ein bemerkenswerter Mann«, meinte Nora, der Sloanes bitterer Unterton nicht entgangen war.

Sloane blickte sie an. »Ja.«

Sie ritten um eine weitere Biegung, hinter der sich der Canon wieder etwas verbreiterte. Von den rötlichen Wänden wuchsen ein paar Pappeln, deren Kronen im schräg einfallenden Nachmittagslicht aufleuchteten. Nora blickte auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Vor sich sah sie eine breite, sandige Stelle, die sich gut als Lagerplatz eignete. Sie war hoch genug, um Sicherheit vor einer plötzlichen Sturzflut zu bieten, und ringsum wuchs viel frisches Gras für die Pferde. Der Hard Twist Canon machte seinem Namen alle Ehre und führte hier um eine so scharfe Kurve herum, dass man fast den Eindruck bekam, als würde er abrupt an einer hohen Steinwand enden. Nora ritt bis zu der Biegung. Der Weg dahinter sah nicht sonderlich einladend aus, weil der in der Hitze brütende Canon hier deutlich schmäler wurde und am Boden mit großen Felsbrocken übersät war. Bisher war der Ritt ziemlich einfach gewesen, aber Nora wusste, dass das von nun an anders werden würde.

Sie wendete ihr Pferd und wartete, bis die anderen zu ihr aufgeschlossen hatten. »Wir schlagen hier unser Lager auf!« rief sie über die Schulter nach hinten.

Die Gruppe brach in verhaltenen Jubel aus. Nachdem Swire Black von seinem Pferd geholfen hatte, humpelte der Wissenschaftler schimpfend und steifbeinig durch den Canon. Holroyd schaffte es, selbst aus dem Sattel zu klettern, brach aber, kaum dass er von seinem Pferd herunter war, zusammen. Nora half ihm bis zur nächsten Pappel und ließ ihn sich, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, hinsetzen.

»Mir gefällt dieser Canon irgendwie nicht«, sagte Sloane, die neben Nora getreten war. »Vielleicht sollte ich ihn mal ein wenig erkunden.«

Nora schaute Emest Goddards Tochter an. Ihr dunkler Pagenkopf war ein wenig vom Wind zerzaust, aber das machte sie nur noch schöner. Das goldene Wüstenlicht ließ ihre bernsteinfarbenen Augen wie die einer Katze aufleuchten. Während des Rittes hatte Nora öfters bemerkt, wie Black und auch andere Sloane, deren Körperformen sich unter ihrem eng anliegenden, vom Schweiß leicht feuchten Baumwollhemd deutlich abgezeichnet hatten, verstohlen beäugt hatten.

Nora nickte. »Ja, das ist eine gute Idee. Ich werde mich inzwischen ums Aufschlagen des Lagers kümmern.«

Nachdem sie jedem eine Aufgabe zugewiesen hatte, half Nora Swire beim Abpacken und Absatteln der Pferde. Sie legten die Tragekörbe, Sättel und anderen Ausrüstungsgegenstände in den Sand und achteten dabei darauf, dass die technischen Geräte, die alle in wasser- und staubdichten Säcken verpackt waren, an einer besonders geschützten Stelle lagerten. Aus dem Augenwinkel sah Nora, wie Bonarotti mit Machete, Klappspaten, Fahrtenmesser und seinem riesigen Revolver bewaffnet den Canon hinaufstiefelte. Seine nach wie vor makellos saubere Kleidung wirkte wundersamer weise noch immer so, als wäre sie vor kurzem frisch gebügelt worden.

Sobald die Pferde abgepackt waren, schwang sich Swire wieder auf den Rücken von Mestizo. Während des Rittes hatte er ständig mit seinen Pferden geredet oder ihnen etwas vorgesungen und dabei aus den Ereignissen des Tages kleine, spontane Verse gedichtet. Jetzt, während er das verschwitzte Tier zum Bach ritt, hörte Nora, wie er eine weitere Strophe sang:

»Ach, mein armer kleiner Wallach,

Siehst du die hübsche Stute? Will nicht in deinen Stall, ach Die Süße, die Gute. Aber selbst wenn sie bliebe, War's nix mit der Liebe, denn dir, kleiner Wallach, Fehlen nun mal die Triebe.«

Nachdem er alle Pferde hinüber zum Gras gebracht hatte, schnürte er den Leitpferden die Vorderbeine zusammen und hängte ihnen Kuhglocken um den Hals. Dann nahm er Mestizo seinen Sattel ab und band ihn an ein zehn Meter langes Seil, das er an der anderen Seite mit einem Pflock im Boden sicherte. Schließlich legte er sich auf einen Felsen, rollte sich ein Zigarette und holte ein speckiges kleines Notizbuch hervor, in das er, während er den Pferden beim Grasen zusah, etwas hineinschrieb.

Nora wandte sich ab und betrachtete zufrieden das Lager. Die Hitze des Tages hatte nachgelassen, und ein kühler Wind wehte vom glucksenden Bach herauf. Wildtauben gurrten sich von den gegenüberliegenden Felswänden etwas zu, der schwache Rauch von brennendem Wacholderholz zog durch den Canon, und Grillen zirpten in der hereinbrechenden Dämmerung. Nora setzte sich auf einen Stein, und obwohl sie das letzte Licht des Tages eigentlich zum Schreiben ihres Tagebuchs hätte verwenden sollen, gab sie sich dem Genuss des Augenblicks hin. Black hockte am Feuer und massierte seine Knie, während die anderen herumstanden und darauf warteten, dass das Kaffeewasser kochte. Jetzt, da das Lager aufgeschlagen war, gab es nichts mehr für sie zu tun.

Schließlich hörten sie das Knirschen von Schritten im Sand und sahen Bonarotti mit einem Sack über der Schulter aus dem Canon zurückkommen. Er stellte den Sack auf eine Segeltuchplane, die er neben dem Feuer ausgebreitet hatte, und brachte den Grillrost über dem Feuer in Position. Dann goss er Öl in eine große Kasserolle und warf etwas gehackten Knoblauch hinein. Nachdem er einen weiteren Topf mit Wasser und Reis aufs Feuer gestellt hatte, öffnete er den Sack, in dem sich ein paar hässlich aussehende, unidentifizierbare Wurzeln und Knollen sowie Kräuter und ein paar Früchte des Feigenkaktusses befanden. Kurz darauf kam Sloane erschöpft, aber lächelnd von ihrer Erkundungstour zurück und setzte sich ans Feuer, um Bonarotti beim Kochen zuzusehen. Der Italiener hantierte wie ein Wirbelwind mit seinen Messern und schnitt die Wurzeln in kleine Würfel, die er dann in den Topf mit dem Knoblauch warf. Nachdem er auch die Knollen und die Kräuter geputzt und in den Topf getan hatte, legte er die Kaktusfrüchte kurz auf den Grill, zog ihnen dann die Haut ab und tat sie zu dem anderen Gemüse. Als alles fertig gekocht und gewürzt war, gab er die Mischung zu dem inzwischen gar gewordenen Reis und nahm den Topf vom Feuer. »Risotto mit Feigenkaktus, Mormonentulpe, wilden Kartoffeln und Romano-Käse«, verkündete er mit ungerührtem Gesicht.

Die anderen waren sprachlos.

»Na los, worauf warten wir noch?«, rief Sloane schließlich. »Anstellen und dann buon appetitol«

Alle nahmen eilig ihre Teller, die Bonarotti auf der Segeltuchplane bereitgestellt hatte, und holten sich bei dem Koch eine Portion Risotto ab, über die er noch ein paar frisch gehackte Kräuter streute. Zufrieden hockten sie sich zum Essen auf die umliegenden Steine.

»Ist es eigentlich gefährlich, solches Zeug zu sich zu nehmen?«, fragte Black nur halb im Scherz.

Sloane lachte. »Gefährlicher dürfte es sein, wenn Sie es nicht essen, Dr. Black«, erwiderte sie und warf einen dramatischen Blick auf Bonarottis Revolver.

Black kicherte nervös und probierte eine Gabel von dem Risotto, der rasch eine zweite folgte. »Nicht übel«, meinte er mit vollem Mund.

»Nicht übel? Das ist eine wahrhaft göttliche Speise!«, verkündete Smithback.

»Verdammt guter Fraß«, murmelte Swire anerkennend.

Nora nahm selbst eine Gabel voll und genoss den sahnigen Arborio-Reis, verbunden mit den feinen Aromen von Pilzen, Käse, Kräutern und einer ihr bisher unbekannten, leicht scharfen Geschmacksnuance, die nur von den Kaktusfrüchten herrühren konnte.

Nachdem Bonarotti ungerührt die Lobpreisungen der anderen entgegengenommen hatte, senkte sich eine tiefe Stille über das Lager, in dem nun alle mit dem Essen beschäftigt waren.

Später, als die Expeditionsteilnehmer sich zum Schlafen fertig machten, ging Nora noch einmal zu den Pferden, um nach dem Rechten zu sehen. Sie fand Swire auf seinem Felsen sitzend mit dem aufgeschlagenen Notizbuch in der Hand. »Na, wie geht's?«, fragte sie ihn.

»Könnte nicht besser gehen«, antwortete er, während er ein Stück Kautabak aus der Brusttasche seines Hemdes holte und es sich in den Mund schob. Nora hörte ein knirschendes Geräusch. »Wollen Sie auch welchen?«

Nora schüttelte den Kopf und setzte sich neben ihn. »Führen Sie da eigentlich ein Tagebuch oder so was?«, wollte sie wissen und deutete auf das Notizbuch.

Swire wischte sich ein paar Tabakkrümel aus dem Schnurrbart. »Ach, das sind bloß ein paar kleine Gedichte, nichts weiter, Cowboy- Kauderwelsch, das ich in meiner Freizeit niederschreibe.«

»Tatsächlich? Lassen Sie mich eines von den Gedichten lesen?«

Swire zögerte. »Eigentlich sollte man sie hören, nicht lesen. Aber wenn Sie wollen, dann bitte.«

Er reichte Nora das zerfledderte Büchlein, und sie versuchte angestrengt, die hingekritzelten Zeilen bei der schwachen Beleuchtung aus Sternenlicht und Feuerschein zu entziffern. Es waren Gedichte und Gedichtfragmente, keines länger als zehn oder zwölf Zeilen, die Titel trugen wie: »Stampede«,

»Ford F 350«,

»Samstag Nacht in Durango«. Weiter hinten im Buch fand sie dann einige längere Gedichte, von denen eines sogar auf Lateinisch verfasst war. Nora blätterte wieder nach vom und las ein Gedicht mit dem Titel »Hurricane Deck«.

»Ist das über Smithbacks Pferd?«, fragte sie.

Swire nickte. »Wir kennen uns schon lange, Hurricane Deck und ich.«

 

Er kam so wild wie der Winterwind,

Ein junger Mustang, gescheit und geschwind.

Ich fing ihn mir mit dem Lasso keck

Und gab ihm den Namen Hurricane Deck.

Hurricane Deck, Hurricane Deck, Dein

zottiges Fell, deine schiefe Schnute Gefällt

nicht mal einer blinden Stute. Aber rennst

du los, dann bist du weg.

Ich machte aus dir einen Rennbahnstar,

Wir siegten, und es war wunderbar:

Amarillo, Saunas und Solitude und auch

in Santa Fe warst du gut.

 

Hurricane Deck, Hurricane Deck,

Dein breites Maul, deine wilde Mähne

Sind jetzt so grau wie deine Zähne.

Jetzt schleppst du Greenhorns durch den Dreck.

 

»Die letzte Strophe muss ich noch einmal überarbeiten«, sagte Swire. »Irgendwie klingt der Reim doch sehr bemüht.«

»Haben Sie Hurricane Deck denn wirklich als Wildpferd gefangen?«

»Aber klar doch. Damals war ich mit einer Gruppe von Packpferden auf der T-Cross-Ranch oben in Dubois, Wyoming, unterwegs. Ein paar Cowboys erzählten mir von einem braunen Mustang, den keiner kriegen konnte. Der Hengst war richtig wild, hatte noch nie ein Brandzeichen bekommen und verzog sich sofort in die Berge, wenn er einen Reiter bemerkte. In einer Gewitternacht sah ich ihn dann. Die Blitze mussten ihn erschreckt haben, denn er lief direkt an unserer Unterkunftsbaracke vorbei. Ich habe mich sofort in den Sattel geschwungen und bin dem Hurensohn drei Tage lang gefolgt.«

»Drei Tage lang?«

»Ja. Ich habe ihn von den Bergen abgeschnitten und immer wieder aufs Gelände der Ranch zurückgetrieben. Sechsmal musste ich mein Pferd wechseln, bis ich ihn endlich mit dem Wurfseil einfangen konnte. Hurricane Deck ist schon ein außergewöhnliches Tier.

Der Bursche springt, ohne mit der Wimper zu zucken, über einen Stacheldrahtzaun, und ich habe ihn sogar schon über ein Viehgitter gehen sehen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.«

Nora gab Swire das Notizbuch zurück. »Diese Gedichte gefallen mir gut.«

»Ach, sie sind bloß stümperhaftes Geschreibsel, weiter nichts«,

sagte Swire, der aber trotzdem sichtlich geschmeichelt war.

»Wo haben Sie denn Latein gelernt?«

»Von meinem Vater«, antwortete Swire. »Er war Pfarrer und wollte ständig, dass ich hier etwas las und dort etwas studierte. Er dachte wohl, das Latein würde mich vom Unfugmachen abhalten. Aber damit hatte er sich verrechnet, denn nachdem ich die dritte Satire von Horaz gelesen hatte, büxte ich von Zuhause aus.«

Swire verstummte, strich sich über seinen Schnurrbart und blickte hinüber zu Bonarotti. »Der Mann ist ein verdammt guter Bohnenbrutzler, aber irgendwie auch ein komischer Kauz, finden Sie nicht?«

Nora folgte seinen Blicken und sah, wie Bonarotti, der den Abwasch beendet hatte, sich zum Schlafengehen fertig machte. Mit umständlicher Sorgfalt blies er eine Luftmatratze auf, schmierte sich Nachtcreme ins Gesicht und befestigte ein Haarnetz auf seinem Kopf.

»Was tut er denn jetzt?«, fragte Swire, als Bonarotti sich etwas in die Ohren stopfte.

»Das Quaken der Frösche stört seine Nachtruhe«, sagte Sloane Goddard, die plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht war und sich neben Swire und Nora setzte. Sie ließ ihr übliches, heiseres Lachen hören, und ihre Augen leuchteten im Widerschein des Feuers. »Deshalb hat er immer sein Oropax dabei. Außerdem führt er ein Seidenkissen mit sich, um das ihn meine Großtante glühend beneiden würde.«

»Ein komischer Kauz«, wiederholte Swire.

»Das mag wohl sein«, sagte Sloane und musterte den Cowboy mit hochgezogenen Augenbrauen von Kopf bis Fuß, »aber ein Schwächling ist er nicht. Auf dem Denali hat er problemlos einen Schneesturm ausgehalten, bei dem eine Temperatur von fünfzig Grad unter Null geherrscht hat. Luigi bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Manchmal kommt es mir fast so vor, als habe er überhaupt keine Gefühle.«

Nora beobachtete den Koch wie er in sein Zelt kroch und den Reißverschluss herunterzog. Dann wandte sie sich an Sloane. »Wie war denn Ihre Erkundungstour den Canon hinauf?«, fragte sie.

»Da oben sieht es nicht so toll aus«, meinte Sloane. »Eine Menge Weiden- und Tamariskengestrüpp, dazu viel Geröll.«

»Wie weit sind Sie denn hinaufgegangen?«

»An die zwei Kilometer.«

»Schaffen es die Pferde da rauf?«, wollte Swire wissen.

»Ja. Aber wir werden ihnen mit Macheten und Äxten einen Weg bahnen müssen. Außerdem gibt es dort nicht allzu viel Wasser.« Sloane blickte hinüber zu den anderen, die rings ums Feuer saßen und Kaffee tranken. »Für manche von denen wird es morgen verdammt hart werden.«

»Wie viel Wasser gibt es denn?«

»Ein paar größere Pfützen hier und da. Je weiter man nach oben kommt, desto weniger werden sie. Und das ist noch nicht alles.« Sloane griff in die Tasche ihrer Jacke und holte eine Landkarte und eine kleine Taschenlampe hervor. »Ich habe mir mal die Karte angeschaut«, sagte sie. »Ihr Vater hat Quivira irgendwo oberhalb dieses Canons gefunden, stimmt's?«

Nora runzelte die Stirn. Sie hatte nicht gewusst, dass Sloane ihre eigenen Karten mitgebracht hatte. »Ja, so ungefähr«, antwortete sie.

»Und wir sind jetzt hier«, sagte Sloane und bewegte den Strahl der Taschenlampe. »Sehen Sie mal, was zwischen uns und Quivira liegt.« Sie leuchtete auf eine Stelle auf der Karte, wo die Höhenlinien sich zu einem dichten Geflecht zusammenballten: einem Gebirgszug, der hoch und gefährlich aussah.

»Ich weiß von diesem Bergrücken«, sagte Nora und bemerkte, dass ihre Stimme einen defensiven Klang angenommen hatte. »Mein Vater hat ihn Devil's Backbone getauft. Aber ich sehe keinen Grund, weshalb wir die anderen jetzt schon beunruhigen sollten.«

Sloane knipste die Taschenlampe aus und faltete die Karte wieder zusammen. »Und wieso glauben Sie, dass unsere Pferde es über diesen Bergrücken schaffen werden?«, fragte sie.

»Weil mein Vater seine Pferde auch darüber gebracht hat. Wenn er einen Weg gefunden hat, werden wir auch einen finden.«

Sloane sah sie im schwachen Licht der Sterne an. Es war ein langer, durchdringender Blick, der von einem amüsierten Lächeln begleitet war. Dann nickte sie einfach.