8
New York City
Dr. John Felder fuhr hinter dem Mannschaftswagen der Polizei her, der die einspurige Straße entlangrumpelte, die mitten durch Little Governors Island führte. Es war warm für einen Abend Anfang Oktober, und hier und da lagen Nebelschwaden über dem sumpfigen Marschland beidseits der Straße. Die Fahrt nach Süden von Bedford Hills hatte knapp eine Stunde gedauert, und jetzt lag das Ziel direkt vor ihnen.
Der Mannschaftswagen bog in eine schmale Allee mit längst abgestorbenen Kastanien. Auch Felder bog ab. Durch die Bäume hindurch zeichneten sich der East River und die zahllosen schemenhaften Gebäude der East Side von Manhattan ab. So nah und doch so sehr, sehr fern.
Der Mannschaftswagen drosselte die Geschwindigkeit, dann hielt er vor einem hohen gusseisernen Tor. Ein Wachmann trat aus dem Häuschen daneben und ging zum Fahrer hinüber. Er warf einen kurzen Blick auf das Klemmbrett, das der Fahrer ihm hinhielt, dann nickte er, kehrte in sein Wachhäuschen zurück und ließ das Tor per Knopfdruck aufschwenken. Während die beiden Fahrzeuge auf das Gelände fuhren, fiel Felders Blick auf eine Bronzeplakette am Tor: MOUNT MERCY HOSPITAL FÜR PSYCHISCH KRANKE STRAFTÄTER. Zwar hatte es in jüngster Zeit Bemühungen gegeben, der Einrichtung einen moderneren, weniger stigmatisierenden Namen zu verleihen, aber allem Anschein nach würde die mächtige Plakette noch eine Weile an ihrem Platz bleiben.
Der Mannschaftswagen fuhr auf eine kleine, mit Kopfstein gepflasterte Parkzone. Felder stellte seinen Volvo neben dem Polizeifahrzeug ab, stieg aus und blickte an dem riesigen neugotischen Bau hinauf, dessen prächtige alte Fenster mittlerweile vergittert waren. Es war die wohl pittoreskeste – um nicht zu sagen ungewöhnlichste – psychiatrische Klinik in ganz Amerika. Es hatte Felder sehr viel Zeit und Papierkram gekostet, die Überführung zu organisieren, und deshalb war er nicht nur ein wenig verärgert, dass der Mann, der ihm als Gegenleistung für diesen Gefallen versprochen hatte, über die Gefangene »alles zu enthüllen«, wie vom Erdboden verschluckt war.
Rasch schweifte sein Blick von dem Gebäude zum Mannschaftswagen der Polizei. Ein Gefängniswärter war vom Beifahrersitz aufgestanden, zur Hecktür gegangen und schloss sie gerade mit einem Schlüssel an einem großen Schlüsselbund auf. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und ein Polizeibeamter, uniformiert und mit einer Schrotflinte bewaffnet, trat heraus. Während er mit dem Gewehr im Anschlag wartete, streckte der Gefängniswärter die Hand in den Mannschaftswagen, um dem anderen Insassen aus dem Wagen zu helfen.
Während Felder zuschaute, trat eine junge Frau Anfang zwanzig in die Abendluft. Sie hatte dunkles, zu einem kurzen, modischen Bob geschnittenes Haar, eine recht tiefe, melodiöse Stimme – zu hören, als sie dem Beamten für seine Hilfe dankte – und sprach in reserviertem, altmodischem Tonfall. Sie trug eine Gefängnisuniform, und ihre Hände steckten vor dem Körper in Handschellen. Während sie zum Eingang der Klinik geführt wurde, hielt sie den Kopf hoch und ging anmutig und würdevoll in aufrechter Haltung.
Felder schloss sich der kleinen Gruppe an, sobald diese an ihm vorbeikam.
»Doktor Felder«, sagte die junge Frau und nickte ihm ernst zu. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen.«
»Ganz meinerseits, Constance.«
Als sie sich der Eingangstür näherten, wurde diese von innen aufgeschlossen und von einem äußerst gepflegt aussehenden Mann geöffnet, der einen weißen Arztkittel über einem teuren Anzug trug. »Guten Abend, Miss Greene«, sagte er in ruhigem, leisem Tonfall, so, als spräche er mit einem Kind. »Wir haben Sie schon erwartet.«
Constance machte einen angedeuteten Knicks.
»Ich bin Doktor Ostrom, Ihr behandelnder Arzt hier im Mount Mercy.«
Die junge Frau neigte den Kopf. »Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Doktor Ostrom. Bitte nennen Sie mich Constance.«
Sie betraten den Wartebereich. Es war warm in dem Gebäude, die Luft roch leicht nach Desinfektionsmittel. »Ich kenne Ihren, äh, Vormund, Aloysius Pendergast«, fuhr Dr. Ostrom fort. »Es tut mir sehr leid, dass wir Sie nicht früher hierherholen konnten, aber es hat länger als erwartet gedauert, die nötigen Papiere zusammenzubekommen.«
Während Ostrom dies sagte, wechselte er einen kurzen Blick mit Felder. Felder wusste, dass das Zimmer, das Constance – nach einer gründlichen Durchsuchung – im Mount Mercy beziehen würde, sehr sorgfältig gereinigt worden war, erst mit einem scharfen Reinigungsmittel, dann mit einem Desinfektionsmittel, und schließlich mit drei Schichten ölbasierter Farbe gestrichen worden war. Diese Maßnahmen waren deshalb für notwendig erachtet worden, weil die vorherige Bewohnerin des Zimmers für ihr Faible für Gifte berühmt war.
»Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für Ihre Aufmerksamkeit, Doktor Ostrom«, sagte Constance geziert.
Sie warteten kurz. Unterdessen unterschrieb Dr. Ostrom einige Formulare, die der Gefängniswärter ihm hinhielt. »Sie können jetzt die Handschellen abnehmen«, sagte Ostrom und reichte das Klemmbrett zurück.
Der Wärter tat, wie ihm geheißen. Ein Pfleger brachte den Wachmann und den Polizeibeamten zur Tür und verschloss sie sorgfältig hinter ihnen. »Ausgezeichnet«, sagte Ostrom und rieb sich die Hände, so, als sei er höchst zufrieden mit dem Verlauf der Überführung. »Doktor Felder und ich bringen Sie jetzt auf Ihr Zimmer. Ich denke, Sie werden es recht hübsch finden.«
»Ich habe keinen Zweifel daran«, erwiderte Constance. »Sie sind sehr freundlich.«
Sie gingen einen langen, hallenden Flur entlang, dabei erläuterte Dr. Ostrom die Hausordnung im Mount Mercy und verlieh zudem der Hoffnung Ausdruck, dass Constance nichts gegen deren Vorschriften einzuwenden habe. Felder warf Constance einen verstohlenen Blick zu. Ganz klar, jeder würde sie für eine außergewöhnliche Frau halten: die altmodische Sprechweise, die unergründlichen Augen, die irgendwie älter wirkten als das Gesicht. Und doch machten einen weder ihr Aussehen noch ihr Benehmen auf die Wahrheit gefasst. Nämlich dass Constance Greene extrem geistesgestört war. Ihr Fall war Felders Erfahrung nach einzigartig. Sie behauptete, in den 1870er Jahren geboren worden zu sein, als Spross einer längst ausgestorbenen und vergessenen Familie, von der es im Stadtarchiv nur noch wenige, weit verstreute Spuren gab. Kürzlich war die junge Frau mit dem Schiff aus England zurückgekehrt. Während der Überfahrt hatte sie – laut eigenem Eingeständnis – ihren kleinen Sohn über Bord geworfen, weil er, wie sie stets wiederholt hatte, der leibhaftige Teufel sei.
In den zwei Monaten, in denen er mit Constances Fall befasst war, hatte Felder – erst im Bellevue und dann in der Justizvollzugsanstalt Bedford Hills – ihre Psychoanalyse fortgesetzt. Und obwohl ihn der Fall nur noch mehr fasziniert hatte, musste er doch zugeben, dass er keinerlei Fortschritte erzielt hatte, und zwar weder hinsichtlich ihrer Identität noch ihrer Krankheit.
Sie warteten, während ein Pfleger eine schwere Metalltür aufschloss, dann gingen sie wieder über einen hallenden Flur, bis sie schließlich vor einer Tür ohne Schild stehen blieben. Der Pfleger schloss auch diese auf, und Dr. Ostrom ging Dr. Felder und Constance voran in ein kleines, fensterloses und spärlich möbliertes Zimmer. Sämtliche Möbel – Bett, Tisch, ein Stuhl – waren fest mit dem Boden verschraubt. An einer Wand war ein Bücherschrank mit einem halben Dutzend Bänden befestigt. Auf dem Tisch stand ein kleiner Plastikblumentopf mit Narzissen aus dem Krankenhausgarten.
»Nun?«, fragte Ostrom. »Wie finden Sie Ihr Zimmer, Constance?«
Die junge Frau blickte sich um und nahm ihre Umgebung in Augenschein. »Absolut zufriedenstellend, danke.«
»Das freut mich zu hören. Doktor Felder und ich lassen Sie jetzt allein, damit Sie sich in Ihrem neuen Zuhause eingewöhnen können. Ich schicke eine Schwester zu Ihnen, sie wird Ihnen eine zweckmäßigere Garderobe aushändigen.«
»Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet.« Constances Blick blieb an dem Bücherschrank haften. »Du meine Güte – Cotton Mathers Magnalia Christi Americana. Benjamin Franklins Autobiographie. Richardsons Clarissa. Sind das nicht Großtante Cornelias Bücher?«
Dr. Ostrom nickte. »In neueren Ausgaben. Dies war ihr Zimmer, verstehen Sie, und Ihr Vormund hat uns gebeten, die Bücher für Sie zu kaufen.«
»Ah.« Constance errötete einen Moment lang – vor Freude, wie es schien. »Es ist fast so, als komme man nach Hause.« Sie wandte sich zu Felder um. »Wie schön es doch ist, die Familientradition hier fortzuführen.«
Es war zwar warm in dem Zimmer, dennoch lief Felder ein Schauder über den Rücken, so sehr bestürzte ihn diese Bemerkung.