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Armadillo Crossing, Mississippi

Betterton war gerade dabei, sich seinen ersten Kaffee am Morgen zu holen, als ihm eine Idee kam. Es war ein kühner Versuch, aber einen Umweg von fünfzehn Meilen allemal wert.

Er wendete den Nissan und fuhr erneut in Richtung Malfourche. Ein paar Meilen vor dem Städtchen, an einer öde aussehenden Kreuzung, die in der Gegend Armadillo Crossing genannt wurde, hielt er an. Wie erzählt wurde, hatte hier vor Jahren einmal jemand ein Gürteltier überfahren, und der zermatschte Kadaver war lange genug liegen geblieben, um der Kreuzung ihren Namen zu verleihen. Das einzige Haus an der Kreuzung war eine Hütte aus Teerpappe, der Wohnsitz eines gewissen Billy B. »Grass« Hopper.

Betterton hielt vor dem alten Hopper-Haus, das fast bis zur Unkenntlichkeit von Kudzu überwuchert war. Seine Hand pochte wie verrückt. Er fischte eine Schachtel Zigaretten aus dem Handschuhfach, stieg aus und steuerte im ersten Morgenlicht auf die Veranda zu. Dort saß Billy B., träge schaukelnd. Trotz der frühen Stunde hielt er eine Bierdose in der knorrigen Hand. Seitdem vor einigen Jahren ein Hurrikan den Wegweiser für die Abzweigung nach Malfourche abgerissen hatte, wurde Billy B., der unweigerlich seinen Schaukelstuhl bemannte, andauernd von Fremden befragt, wie man denn in die Stadt komme.

Betterton stieg die alten, knarrenden Stufen hinauf. »Hallo, altes Haus.«

Der Mann schielte ihn aus tief eingesunkenen Augen an. »Na so was. Ned. Wie geht’s denn so, mein Junge?«

»Gut, gut. Macht’s dir was aus, wenn ich mich setze?«

Billy B. deutete auf die oberste Stufe. »Ganz wie du willst.«

»Danke.« Betterton setzte sich vorsichtig hin, hielt die Schachtel Zigaretten hoch und schüttelte eine los. »Sargnagel?«

Billy B. zog die Zigarette aus der Packung. Betterton zündete sie ihm an und steckte die Schachtel wieder in seine Hemdtasche. Er selbst rauchte nicht.

In den nächsten Minuten plauderten sie über diese und jene lokalen Angelegenheiten, während Grass seine Zigarette rauchte. Schließlich arbeitete Betterton sich zum wahren Anlass seines Besuchs vor.

»Waren eigentlich in letzter Zeit irgendwelche Fremden in der Gegend?«, fragte er beiläufig.

Nach einem letzten Zug nahm Billy B. die Zigarette aus dem Mund, musterte prüfend den Filter und drückte ihn an einer Kudzu-Ranke aus. »Ein paar«, sagte er.

»Ja? Erzähl mir von ihnen.«

»Lass mich mal nachdenken.« Billy B. furchte nachdenklich die Stirn. »Eine Zeugin Jehovas. Hat nach dem Weg nach Malfourche gefragt und dabei versucht, mir eins von ihren Heftchen anzudrehen. Ich hab ihr gesagt, sie soll rechts abbiegen.«

Betterton rang sich ein Lachen über die Irreführung ab.

»Dann war da noch dieser Ausländer.«

Betterton sagte so beiläufig wie möglich: »Ein Ausländer?«

»Sprach mit Akzent.«

»Woher kam er, was glaubst du?«

»Europa.«

»Ich fass es nicht.« Betterton schüttelte den Kopf. »Wann war denn das ungefähr?«

»Ich weiß genau, wann es war.« Der Mann zählte an den Fingern ab. »Vor acht Tagen.«

»Wieso bist du da so sicher?«

Billy B. nickte weise. »Es war der Tag, bevor der Mord an diesen Brodies entdeckt wurde.«

Das war mehr, als Betterton sich in seinen kühnsten Träumen erhofft hatte. Mehr war also nicht dran am Enthüllungsjournalismus?

»Wie sah der Typ denn aus?«

»Großgewachsen, schlank, blondes Haar, hässliches Muttermal unter einem Auge. Er trug so einen schicken Trenchcoat, wie man ihn aus Spionagefilmen kennt.«

»Weißt du noch, was für einen Wagen er gefahren hat?«

»Ford Fusion. Dunkelblau.«

Betterton strich sich nachdenklich übers Kinn. Dieses Modell kam, wie er wusste, häufig als Mietwagen zum Einsatz. »Hast du das auch der Polizei erzählt?«

Ein aufsässiger Ausdruck stahl sich auf das Gesicht des Mannes. »Man hat mich nicht gefragt.«

Nur mit größter Mühe konnte Betterton sich davon abhalten, aufzuspringen und zu seinem Wagen zu laufen. Er zwang sich, zu bleiben und noch ein wenig Konversation zu machen.

»Schlimme Sache, das mit den Brodies«, bemerkte er.

Billy B. räumte ein, dass dem so war.

»Es gab ja in letzter Zeit jede Menge Aufregung hier in der Gegend«, fuhr Betterton fort. »Allein dieser Unfall mit dem Tiny’s und das alles.«

Billy B. spuckte nachdenklich auf den Boden. »Das war kein Unfall.«

»Was meinst du damit?«

»Dieser FBI-Typ. Er hat die Kneipe in die Luft gejagt.«

»In die Luft gejagt?«, wiederholte Betterton.

»Er hat eine Kugel in den Propangastank gejagt. Da ist sie in die Luft geflogen. Hat auch eine Reihe von Booten versenkt. Mit einer Schrotflinte.«

»Also, da will ich doch … Warum hat er das gemacht?« Das waren ja erstaunliche Neuigkeiten.

»Offenbar hatten Tiny und seine Kumpels ihn und seine Kollegin belästigt.«

»Sie belästigen jede Menge Leute hier in der Gegend.« Betterton dachte kurz nach. »Was wollte das FBI hier unten?«

»Keine Ahnung. Jetzt weißt du alles, was ich weiß.« Er machte eine neue Dose Bier auf.

Dieser letzte Satz war das Signal, dass Billy B. des Geplauders müde war. Betterton erhob sich.

»Komm mal wieder vorbei«, sagte Billy B.

»Mach ich.« Betterton verließ die Veranda. Dann blieb er stehen, langte in seine Hemdtasche und zog die Zigaretten hervor.

»Kannste behalten.« Er warf die Packung Billy B. auf die Oberschenkel und ging mit so viel Ruhe und Gesetztheit, wie er aufbringen konnte, zum Nissan.

Er war auf ein Gefühl hin hier herausgefahren und kam mit einer Story zurück, nach der sich Leute bei Vanity Fair oder Rolling Stone alle fünf Finger lecken würden. Ein Ehepaar, das den eigenen Tod vorgetäuscht hatte – nur um brutal ermordet zu werden. Ein in die Luft gejagter Angelshop. Eine geheimnisvolle Insel – Spanish Island. Ein Ausländer. Und vor allem ein durchgeknallter FBI-Agent namens Pendergast.

Seine Hand pochte immer noch, aber er spürte das kaum. Der Tag ließ sich wirklich ausgesprochen gut an.