15

Cairn Barrow

D’Agosta saß auf dem Fahrersitz des gemieteten Ford und blickte verdrießlich auf die grau-grüne Moorlandschaft. Von der Anhöhe, auf der er geparkt hatte, schien es, als erstrecke sie sich endlos weiter bis in die dunstige Ferne. Und bei dem Glück, das er hatte, konnte sie sich genauso gut bis ins Unendliche erstrecken und ihre dunklen Geheimnisse bis in alle Ewigkeit verhüllen.

Er war müder, als er es je im Leben gewesen war. Selbst jetzt noch, sieben Monate danach, machte ihm die Schussverletzung enorm zu schaffen. Er kam schon außer Atem, wenn er nur eine Treppe hinaufstieg oder ein Flughafengebäude durchquerte. Die vergangenen drei Tage in Schottland hatten ihm das schonungslos vor Augen geführt. Dank des zuvorkommenden und kompetenten Chief Inspector Balfour hatte er alles gesehen, was es zu sehen gab. Er hatte alle offiziellen Gerichtsprotokolle, eidesstattlichen Aussagen und Beweismittel-Berichte gelesen. Er hatte eine Ortsbegehung vorgenommen. Er hatte mit den Mitarbeitern der Kilchurn Lodge gesprochen. Er hatte alle Häuser, Bauernhöfe, Scheunen und Steinhütten, alle Moore, Tors und Cairns, Schluchten und Senken und jedes weitere verfluchte Etwas im Umkreis von vierzig Meilen um diesen gottverlassenen Ort aufgesucht – alles ohne Erfolg. Die Ermittlungen hatten ihn erschöpft. Mehr als erschöpft.

Und das kühle, nieselige Schottland hatte auch nicht gerade geholfen. Er wusste zwar, dass es auf den britischen Inseln feucht sein konnte, aber seit seinem Abflug aus New York hatte er die Sonne nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das Essen war miserabel, kein Teller Pasta im Umkreis von hundert Meilen zu bekommen. Am Abend seiner Ankunft hatte man ihn überredet, etwas namens haggis zu essen, und seitdem war sein Verdauungssystem nicht mehr dasselbe wie zuvor. Die Kilchurn Lodge selbst war zwar ziemlich elegant, aber zugig, so dass er eine durchdringende Kälte empfand, die dafür sorgte, dass seine Wunde wieder schmerzte.

Er warf erneut einen Blick aus dem Fenster und seufzte. Das Letzte, wozu er Lust hatte, war, sich noch mal in dieses Moor zu begeben. Aber am Vorabend hatte er im Pub zufällig von einem alten Ehepaar gehört – verrückt, vielleicht auch nur ein wenig verwirrt, je nachdem, mit wem man sprach –, das draußen im Mire, nicht weit entfernt von der Insh-Marsch, in einem Steinhaus lebte. Die alten Leute züchteten Schafe, bauten den Großteil ihrer Lebensmittel selbst an und kamen kaum mal in die Stadt. Es führte keine Straße zu ihrem Haus, hatte man ihm gesagt, nur ein kleiner, mit Cairns ausgeschilderter Fußweg. Das Haus lag am Ende der Welt, weit abseits der Straße und knapp zwanzig Meilen von der Stelle entfernt, wo Esterhazy auf Pendergast geschossen hatte. Es war so gut wie ausgeschlossen, dass der schwer verletzte Pendergast das Haus über diese große Entfernung erreicht hatte, aber er schuldete es sich und seinem alten Freund, vor seinem Rückflug nach New York dieser letzten Spur nachzugehen.

Er warf einen weiteren Blick auf die topographische Karte, die er gekauft hatte, faltete sie zusammen und steckte sie in die Hosentasche. Er sollte jetzt lieber in die Gänge kommen – der Himmel hing tief, und im Westen zogen schon dunkle Wolken auf. Er zögerte kurz, dann öffnete er die Tür, wobei er vor Anstrengung ächzte, und stieg schwerfällig aus dem Wagen. Er zog den Regenmantel fester um sich und setzte sich in Bewegung.

Der Fußweg war ziemlich deutlich zu erkennen, ein schmaler Kiespfad, der sich zwischen Grasbüscheln und kleinen Flächen mit Heidekraut hindurchschlängelte. Er entdeckte den ersten Cairn – nicht der übliche Stapel aus Fels, sondern eine hohe, schmale Platte aus Granit, die im Boden steckte. Im Näherkommen sah er, dass auf der Vorderseite etwas eingeritzt war:

 

GLIMS HOLM

4 MI.

 

Das war er, der Name des Cottage, das die Leute im Pub erwähnt hatten. D’Agosta brummte zufrieden. Vier Meilen. Wenn er langsam ging, würde er wahrscheinlich zwei Stunden benötigen. Er setzte sich in Bewegung, die neu gekauften Wanderschuhe knirschten auf dem Kies, der scharfe Wind blies ihm ins Gesicht. Aber er hatte sich gut gegen die Kälte eingemummelt, und ihm blieben noch sieben Stunden Tageslicht.

Auf den ersten anderthalb Meilen führte der Weg über festen Boden und folgte einem leichten Anstieg, der sich bis ins Mire erstreckte. D’Agosta atmete tief durch, überrascht und mehr als nur ein wenig froh, dass er trotz all des Herumrennens in den vergangenen Tagen, trotz aller Müdigkeit und trotz der Schmerzen in der Wunde etwas mehr Kondition hatte. Der Fußweg war gut ausgeschildert, die langen, schmalen Granitplatten, die wie Pfähle in den Boden gerammt waren, zeigten die Richtung an.

Weiter im Mire war der Fußweg zwar nicht mehr so deutlich zu erkennen, aber die Markierungen waren nach wie vor auf Hunderte Meter Entfernung sichtbar. An jeder Markierung blieb er stehen, suchte die vor ihm liegende Landschaft ab, entdeckte die nächste Markierung und setzte dann seinen Weg fort. Obwohl das Gelände relativ flach und offen war, merkte er beim Weitergehen, dass es zahlreiche Senken und sanfte Erhebungen gab, die es ihm erschwerten, die Beschaffenheit des Geländes zu deuten und auf dem Weg zu bleiben.

Kurz vor elf führte der Fußweg allmählich ganz sanft bergab in Richtung einer tiefer gelegenen, sumpfigeren Moorlandschaft. In der Ferne, rechts von ihm, war eine dunkle Linie zu erkennen, die laut Karte die Grenze zur Insh-Marsch bildete. Es war fast windstill, nur ein laues Lüftchen regte sich, der Nebel sammelte sich in den Senken und stieg in Schwaden über düsteren Sumpfgebieten auf. Es wurde dunkler, Wolken wälzten sich heran.

Verflucht, dachte D’Agosta und blickte in den Himmel. Jetzt setzte dieser verdammte schottische Nieselregen ein. Mal wieder.

Er marschierte weiter. Plötzlich wurde der Nieselregen durch eine irrsinnig starke Windböe unterbrochen. Er hörte sie kommen, noch ehe sie eintraf – ein Art Summen über dem Moor, die Heide wurde flachgedrückt –, und dann prallte der Windstoß gegen ihn, ließ seinen Regenmantel flattern und zerrte an seinem Hut. Und schon prasselten schwere Tropfen auf den Boden. Es schien fast so, als würde der Nebel, der sich in den tiefliegenden Gebieten gesammelt hatte, daraus hervorspringen und sich in Wolken verwandeln, die über die Moorlandschaft hinwegzogen, vielleicht hatte sich aber auch der bleierne Himmel selbst bis zur Erde gesenkt.

D’Agosta sah auf die Uhr. Kurz vor zwölf.

Er blieb stehen und lehnte sich an einen Felsbrocken. Er hatte keine Schilder mehr nach Glims Holm gesehen, aber er musste schon mindestens drei Meilen gegangen sein. Eine musste er noch. Er suchte die vor ihm liegende Landschaft ab. Nichts zu sehen, was einem Cottage ähnelte. Wieder fegte eine Windböe über ihn hinweg und schleuderte ihm kalte Regentropfen ins Gesicht.

Verdammter Mist. Er löste sich von dem Felsen und warf einen Blick auf die Karte, die aber ziemlich nutzlos war, weil in der Nähe keine Orientierungspunkte zu sehen waren, nach denen er die zurückgelegte Strecke hätte einschätzen können.

Lächerlich, dass jemand hier draußen wohnte. Das alte Ehepaar war offensichtlich mehr als »verwirrt« – es musste knallverrückt sein. Und was er hier veranstaltete, das war vergebliche Liebesmüh. Ausgeschlossen, dass Pendergast den weiten Weg bis zum Cottage zurückgelegt hatte.

Es regnete weiter, heftig und mit dicken Tropfen. Es wurde immer dunkler, so sehr, dass man beinahe das Gefühl hatte, es würde Nacht werden. Der Fußweg war nur noch undeutlich zu erkennen, die Sümpfe drängten sich auf beiden Seiten heran, und hier und da führten Schnürpfade oder flache, aneinandergereihte Steine über Wasserflächen. Wegen des Nebels, des Regens und der Dunkelheit fiel es D’Agosta immer schwerer, den nächsten Cairn ausfindig zu machen, so dass er lange in die Düsternis spähen musste, ehe er ihn entdeckte.

Wie weit noch? Er blickte auf seine Armbanduhr. Halb eins. Er war jetzt zweieinhalb Stunden gegangen. Das Cottage müsste sich in unmittelbarer Nähe befinden. Aber vor ihm erstreckte sich nichts als eine graue Moorlandschaft, die sich hier und da im Nebel und Regen abzeichnete.

Er hoffte verdammt stark, jemanden im Cottage anzutreffen und dass die Bewohner ein Kaminfeuer entfacht und Kaffee oder wenigstens Tee hatten. Die Feuchtigkeit drang durch die Kleidung, ihn fror. Es war ein Fehler gewesen. Zu den Schmerzen in der Wunde gesellte sich nun hin und wieder ein Stechen im Bein. Ob er noch mal rasten sollte? Nein, er war fast am Ziel. Nach der Ruhepause wäre er vielleicht ganz steif und würde wahrscheinlich noch mehr frieren.

Er blieb stehen. Der Fußweg endete in einem breiten, schlammigen Sumpfloch. Er blickte sich nach Cairns um, die möglicherweise den Weg dort hindurch wiesen, sah aber keinen. Verdammt, er hatte nicht aufgepasst. Er wandte sich um und warf einen Blick zurück auf den Weg, den er gegangen war. Jetzt, wo er ihn sich genauer anschaute, sah er gar nicht mehr aus wie ein Weg, eher wie eine unverbundene Reihe unwegsamer Flächen. Er ging zurück und blieb verblüfft stehen. Da gab es zwei Wege, auf denen er hierhergekommen sein konnte, zwei Wanderwege. Als er sich beide genau anschaute, konnte er seine Fußabdrücke auf der harten Bodenoberfläche nicht erkennen, weil jetzt Pfützen darauf standen. Er richtete sich auf und suchte den Horizont ab, um eine der Granitmarkierungen zu erkennen. Aber so angestrengt er sich auch umschaute, er sah nichts als grauen, sumpfigen Grund und Nebelfetzen.

Er atmete tief durch. Die Cairns standen zweihundert Meter auseinander. Er konnte also nicht mehr als hundert Meter vom letzten entfernt sein. Er musste nur langsam gehen, es ruhig angehen lassen, locker bleiben und zum vorherigen Cairn zurückkehren.

Er entschied sich für den Weg zur Rechten und ging langsam, wobei er ab und zu stehen blieb, um nach vorn zu schauen und auf diese Weise den Cairn ausfindig zu machen. Nachdem er ungefähr fünfzig Meter zurückgelegt hatte, wurde ihm bewusst, dass das hier nicht der Weg sein konnte, den er gekommen war – der Cairn hätte längst zu sehen sein müssen. Okay, dann nahm er eben den anderen Weg. Er kehrte um und ging ungefähr fünfzig Meter weit, doch aus irgendeinem Grund führte der Fußweg nicht zurück zur Weggabelung, die ihn vorhin irritiert hatte. Er ging ein wenig weiter, weil er glaubte, dass er die Entfernung falsch eingeschätzt hatte, aber nur um festzustellen, dass der Pfad wieder in einem Sumpf endete.

D’Agosta blieb stehen, atmete langsam und ruhig. Na schön, er hatte sich verlaufen. Aber nicht sehr. Bestimmt befand er sich nicht weiter als ein-, zweihundert Meter vom letzten Cairn entfernt. Er musste sich nur umschauen. Er würde sich erst dann vom Fleck rühren, wenn er sich orientiert hatte und genau wusste, wohin er ging.

Der Wind trieb den Regen vor sich her. D’Agosta spürte, wie die Kälte ihm den Rücken hinunterkroch. Er ignorierte das und machte Bestandsaufnahme. Offenbar befand er sich in einer kesselähnlichen Niederung. Der Horizont war ringsum ungefähr anderthalb Meilen entfernt, was wegen der unaufhörlich umherziehenden Nebelschwaden allerdings schwer zu erkennen war. Er zog die Karte hervor und steckte sie dann doch wieder ein. Was sollte die ihm nützen? Er verfluchte sich, weil er keinen Kompass mitgenommen hatte. Hätte er einen dabei, dann wüsste er wenigstens, in welche Richtung er ging. Er sah auf die Uhr: halb zwei. Noch rund drei Stunden bis Sonnenuntergang.

»Verdammt«, sagte er laut, und dann lauter: »Verdammt!«

Danach ging es ihm besser. Er wählte einen Punkt am Horizont und suchte ihn nach einem Cairn ab. Und dort war er – ein ferner senkrechter Schemen in den wabernden Nebeln.

Er setzte sich in die Richtung des Cairns in Bewegung, wobei er von einer Fläche mit Kiessand zur nächsten trat. Aber die Sümpfe hatten sich gegen ihn verschworen, behinderten ihn auf Schritt und Tritt. Immer wieder musste er erst in die eine Richtung gehen, dann in die andere und schließlich wieder umkehren, bis es schien, als säße er auf einer Art schlangenförmiger Insel mitten in den Sümpfen fest. Verflucht noch mal, er konnte diesen dämlichen Cairn doch sehen – der war doch keine zweihundert Meter weit weg!

Schließlich gelangte er an ein schmales Sumpfgebiet und entdeckte, dass der eigentliche Fußweg auf der gegenüberliegenden Seite entlangführte: ein Stück Sandboden, das sich in Richtung Cairn schlängelte. D’Agosta fiel ein Stein vom Herzen. Er ging mal dahin und mal dorthin, auf der Suche nach einem Weg über das schmale Sumpfbecken. Zunächst war kein sicherer Übergang zu finden, dann aber fiel ihm auf, dass das Sumpfloch an einer Stelle mit kleinen, engstehenden Hügelchen durchsetzt war, auf denen er es überqueren konnte. Er holte tief Luft, trat auf den ersten kleinen Hügel, testete ihn, stellte sich mit dem ganzen Körpergewicht darauf und zog den anderen Fuß nach. Beim nächsten Hügel ging er genauso vor. Und so überquerte er das Sumpfloch, setzte den Fuß von einem Hügelchen auf das nächste, während unter ihm der dunkle Morast quatschte und gelegentlich Blasen aus Marschgas daraus emporstiegen, ausgelöst durch die Schwingungen, die seine Tritte hervorriefen.

Er war fast drüben. Er streckte seinen Fuß über eine große Lücke, stieß sich mit dem anderen ab – und verlor das Gleichgewicht. Unwillkürlich stieß er einen Schrei aus, versuchte, über die letzte Strecke des Sumpfs auf festen Boden zu springen, kam nicht weit genug und landete mit lautem Platschen im Morast.

Während sich der feuchte Modder um seine Oberschenkel legte, überkam ihn reine, hysterische Panik. Er schrie erneut auf und versuchte, ein Bein freizubekommen, aber durch die Bewegung sackte er noch tiefer ein. Seine Panik steigerte sich. Das andere Bein hochzureißen, hatte den gleichen Effekt. Wenn er sich wehrte, wäre er nur noch stärker dem eisigen Druck des Schlamms ausgesetzt, würde er nur noch tiefer einsinken, während seine Anstrengungen Blasen auslösten, die rings um ihn herum platzten und ihn in den Gestank von Sumpfgas einhüllten.

»Hilfe!«, rief D’Agosta, während der kleine Teil seines Gehirns, der sich noch nicht im Panik-Modus befand, registrierte, wie töricht dieser Schrei war. »Helft mir!«

Inzwischen ging ihm der Morast fast bis zur Brust. Instinktiv schlug er mit den Armen um sich, um rauszukommen, aber dadurch spreizten sich nur die beiden Arme, und er wurde noch tiefer reingezogen. Es war, als steckte man in einer Zwangsjacke. Wild um sich schlagend versuchte er, wenigstens einen Arm freizubekommen, aber er klebte fest wie eine Fliege im Honig und sackte langsam immer tiefer ein.

»Um Gottes willen, helft mir doch!«, rief D’Agosta, dessen Stimme über das menschenleere Moor hallte.

Du Idiot, ermahnte ihn jene kleine vernunftbegabte Region im Gehirn, hör auf, dich zu bewegen. Mit jeder Bewegung sank er noch tiefer ein. Mit einer fast übermenschlichen Willensanstrengung unterdrückte er seine panische Angst.

Tief Luft holen. Warten. Nicht bewegen.

Es fiel ihm schwer zu atmen, weil der Morast auf seiner Brust lastete. Inzwischen reichte ihm der Matsch bis zu den Schultern, aber wenn er sich nicht bewegte, wenn er völlig regungslos verharrte, könnte er das Einsinken, so kam es ihm jedenfalls vor, ein wenig aufhalten. Er wartete und bemühte sich, das panikartige Gefühl zu bewältigen, während ihm der Schlamm weiter bis zum Hals stieg, wenn auch langsamer. Schließlich hörte das auf. D’Agosta verharrte im strömenden Regen, bis ihm klarwurde, dass er tatsächlich nicht mehr weiter einsank. Seine Lage war stabil, er sank nicht tiefer.

Und nicht nur das, denn jetzt erkannte er, dass er sich nur anderthalb Meter vom Saumpfad entfernt befand, der auf der gegenüberliegenden Seite entlangführte.

Ganz langsam hob er den Arm, wobei er die Finger gespreizt hielt, und zog ihn vorsichtig aus dem Morast, um jegliche Saugwirkung zu vermeiden und um dem Schlamm Zeit zu geben, am Arm herunterzufließen.

Ein Wunder. Sein Arm war frei. Indem er ihn so hielt, dass er auf der Oberfläche trieb, beugte er sich ganz langsam vor. Eine Riesenpanik erfasste ihn, als er spürte, wie ihm der Morast ins Genick rann, aber als er mit dem Oberkörper tiefer eintauchte, registrierte er an seinen unteren Gliedmaßen einen gewissen Auftrieb, außerdem fühlte es sich an, als hätten sich seine Füße ein wenig angehoben. Während er sich weiter nach vorn beugte, hoben sich, darauf reagierend, seine Füße. Sachte tauchte er mit dem Kopf teilweise in den Morast, was den Effekt verstärkte und seine Beine noch höher hob, und neigte den gesamten Körper dem Rand des Sumpfs entgegen. Indem er sich so entspannt wie möglich und quälend langsam bewegte, beugte er sich weiter vor, wodurch es ihm gelang – kurz bevor seine Nase den Morast berührte –, den Arm auszustrecken und einen kräftigen Zweig Heide zu packen.

Langsam und gegen leichten Gegendruck zog er sich zum Ufer, bis sein Kinn darauf zum Liegen kam. Dann zog er – langsam, ganz langsam – den anderen Arm heraus, ergriff einen anderen Heidestrauch und rettete sich auf festen Boden.

Und während er so dalag, spürte er eine unendlich große Erleichterung. Langsam hörte sein Herz auf, laut zu pochen. Der starke Regen fing an, ihm den Schlamm abzuspülen.

Nach ein, zwei Minuten gelang es D’Agosta aufzustehen. Er war ausgekühlt bis auf die Knochen, der übelriechende Modder tropfte an ihm herab, die Zähne klapperten. Er hielt das Handgelenk hoch, damit der Regen den Schlamm von der Uhr wusch: vier Uhr.

Vier Uhr! Kein Wunder, dass es schon dunkel war. Im Oktober ging die Sonne in diesen nördlichen Regionen früh unter.

Er zitterte am ganzen Leib. Es blies ein böiger Wind, es schüttete wie aus Eimern, und er konnte Donnergrollen hören. Er hatte nicht mal eine Taschenlampe oder ein Feuerzeug dabei. Der pure Wahnsinn, es bestand die Gefahr der Unterkühlung. Zum Glück hatte er den Fußweg gefunden. Als er in die Düsternis blinzelte, sah er geradeaus jenen Cairn, den er unbedingt hatte erreichen wollen.

Nachdem er möglichst viel Schlamm von sich abgeschüttelt hatte, ging er vorsichtig auf den Cairn zu. Im Näherkommen sah dieser jedoch irgendwie falsch aus. Zu schmal. Und als er dann davor stand, erkannte er, worum es sich in Wirklichkeit handelte – um einen kleinen, abgestorbenen Baumstamm, ohne Rinde, mit kahlen Zweigen und Ästen.

D’Agosta starrte ungläubig darauf. Ein einsamer abgestorbener Baumstamm, hier am Ende der Welt, meilenweit entfernt von irgendwelchen gesunden Bäumen. Wenn er schon einmal an ihm vorbeigekommen wäre, dann wäre er ihm mit Sicherheit aufgefallen.

Aber befand er sich denn nicht auf dem Fußweg …?

Während er sich in der zunehmenden Dunkelheit umblickte und den Fußweg inspizierte, ging ihm allmählich auf, dass es sich bei dem, was er für einen angelegten Weg gehalten hatte, lediglich um eine zufällige Ansammlung kleiner Flächen aus Sand und Kies handelte, die verstreut zwischen den Sümpfen lagen.

Jetzt wurde es richtig dunkel. Und die Temperatur sank. Durchaus möglich, dass sie unter null lag.

Allmählich ging ihm auf, wie kolossal dumm es gewesen war, sich allein ins Moor zu wagen. Er war schließlich immer noch geschwächt. Keine Taschenlampe, kein Kompass, das eine Sandwich längst gegessen. Seine Sorge um Pendergast hatte ihn dazu verleitet, törichte Risiken einzugehen und bis zum Äußersten zu gehen … und darüber hinaus.

Und was jetzt? Es war bereits so dunkel, dass es dämlich wäre, weiterzugehen. Die Landschaft war nur noch ein trübes, geflecktes Grau in Grau, so dass keinerlei Hoffnung mehr bestand, irgendeinen Cairn zu erkennen. Gott, ihm war noch nie im Leben so kalt gewesen. Es fühlte sich an, als härtete die Kälte das Mark in seinen Knochen.

Er würde die Nacht im Moor verbringen müssen.

Als er sich umschaute, sah er nicht weit entfernt zwei Felsbrocken. Bibbernd und mit laut klappernden Zähnen ging er dorthin und kauerte sich zwischen sie nieder, damit er aus dem Wind herauskam. Er versuchte, sich möglichst klein zu machen, eine Fötusstellung einzunehmen, und klemmte sich die Hände unter die Arme. Der Regen prasselte auf seinen Rücken, kroch in Rinnsalen am Hals und am Gesicht hinunter. Und dann merkte er, dass es nicht mehr regnete, sondern graupelte. Die dicken Tropfen aus Schneematsch prasselten auf seinen Regenmantel und rutschten daran herunter.

Gerade als er meinte, die Kälte nicht mehr ertragen zu können, verspürte er eine kriechende Wärme. Es war unglaublich, seine Strategie funktionierte, sein Körper reagierte, passte sich der intensiven Kälte an. Die Wärme ging von ganz innen aus und strahlte langsam, ganz langsam nach außen. Er fühlte sich schläfrig und seltsam friedlich. Er wurde ruhiger. Vielleicht würde er die Nacht ja doch überleben. Und am Morgen schien vielleicht die Sonne, die Luft würde sich erwärmen, und er konnte von neuem anfangen und den Fußweg finden.

Jetzt, wo ihm einigermaßen warm war, stieg seine Laune. Das hier war doch ein Kinderspiel. Selbst die Schmerzen in seiner Wunde waren verschwunden.

Die Nacht war hereingebrochen, D’Agosta fühlte sich unglaublich schläfrig. Es wäre gut, ein wenig Schlaf zu bekommen, die Nacht würde viel schneller vergehen. Während es stockfinster wurde, ließ der Schneeregen nach. Wieder hatte er Glück. Nein – jetzt schneite es. Na, wenigstens hatte der Wind nachgelassen. Gott, wie schläfrig er war.

Und dann, als er sich anders hinlegte, sah er es: einen schwachen Lichtschein in den Feldern der Finsternis – gelblich, flackernd. D’Agosta schaute genauer hin. Sah er Gespenster? Das musste Glims Holm sein, was sonst sollte es sein? Und das Haus befand sich auch nicht besonders weit entfernt. Er musste dort hingehen.

Aber nein, er war so herrlich schläfrig, dass er die Nacht hier verbringen und am Morgen zum Cottage gehen würde. Gut zu wissen, dass es ganz in der Nähe lag. Jetzt konnte er beruhigt einschlafen. Und dann trieb er davon, in ein herrlich warmes Meer des Nichts …