21
Im Foulmire
Judson Esterhazy blieb stehen, um zu verschnaufen. Es war ein ungewöhnlich sonniger Morgen, und die sumpfige Moorlandschaft, die ihn auf allen Seiten umgab, erstrahlte in tiefen Braun- und Grüntönen. In der Ferne zeichnete sich die Insh-Marsch als dunkle Linie ab. Und zwischen den vor ihm liegenden Hügeln stand, ein paar hundert Meter entfernt, das kleine Steinhäuschen namens Glims Holm.
Esterhazy kannte das Cottage zwar vom Hörensagen, hatte es aber zunächst als irrelevant abgetan, weil es zu weit vom Ort des Unfalls entfernt lag und viel zu primitiv war, als dass Pendergast dort jene Art ärztlicher Behandlung hätte bekommen können, die er benötigt hätte. Dann aber hatte er erfahren, dass D’Agosta sich in Inverkirkton aufgehalten und nach Pendergast gefragt hatte, und dort hatte er dann herausgefunden, dass Glims Holm der letzte Ort war, den D’Agosta aufgesucht hatte, ehe er enttäuscht in die USA zurückgekehrt war.
Aber war D’Agosta wirklich enttäuscht gewesen? Je länger Esterhazy darüber nachdachte, desto mehr schien ihm das Cottage ironischerweise genau der Ort zu sein, den Pendergast für seine Genesung ausgewählt hätte.
Und dann war er – rein zufällig, im Rahmen einer Background-Recherche im Archiv des Shire of Sutherland – auf die Goldader gestoßen, die ihn vollends überzeugt hatte: Bei der seltsamen Alten, die das vor ihm liegende Steinhäuschen bewohnte, handelte es sich um Dr. Roscommons Tante. Ein Umstand, den Roscommon – allzu offenkundig ein Mann der gewohnheitsmäßigen Zurückhaltung – vor den braven Leuten von Inverkirkton geheim gehalten hatte.
Esterhazy stellte sich hinter einem großen Stechginsterbusch auf und holte sein Fernglas hervor. Die alte Frau war durchs Fenster im Erdgeschoss zu sehen, sie hantierte an einem Herd und bewegte sich herum. Nach einer Weile nahm sie etwas vom Herd, ging am Fenster vorbei und geriet außer Sicht. Einen Augenblick lang war sie fort … und dann ging sie am Fenster im ersten Stock vorbei, mit etwas in der Hand, das ein Becher zu sein schien. In der Dachkammer konnte er ihre Gestalt nur so gerade eben erkennen, sie beugte sich vor, offenbar über einen Kranken, der im Bett lag, half ihm dabei, sich aufzusetzen, und reichte ihm den Becher.
Esterhazys Herz schlug schneller. Er bohrte seinen Gehstock in den weichen Grund, ging um das Cottage herum und gelangte zur Rückseite. Dort befanden sich eine kleine Tür, roh gezimmert, die in einen kleinen Küchengarten führte, ein Schuppen und ein Schafstall aus Naturstein. Fenster gab es auf der Rückseite des Häuschens keine.
Er schaute sich vorsichtig um. Niemand zu sehen. Die schier endlosen Moore und Sümpfe ringsum waren bar allen Lebens. Er zog seine kleine Handfeuerwaffe aus der Tasche und vergewisserte sich, dass sie geladen war. Äußerst umsichtig näherte er sich dem Cottage von der fensterlosen Rückseite.
Kurz darauf hockte er neben der Hintertür. Mit dem Finger machte er auf dem Holz ein leises, kratzendes Geräusch und wartete.
Und tatsächlich, die Alte hatte es gehört. Er lauschte ihren Schritten und unverständlichen Flüchen, während sie näher kam. Ein Riegel wurde zurückgezogen, die Tür ging auf. Die Frau blickte nach draußen.
Ein gemurmelter Fluch.
Schnell und geschmeidig erhob sich Esterhazy, legte die Hand über ihren Mund und zerrte sie von der Tür weg. Mit dem Knauf seiner Waffe versetzte er ihr einen festen Schlag auf den Hinterkopf, dann legte er ihren bewusstlosen Körper auf den Rasen. Einen Augenblick später war er lautlos ins Cottage geschlüpft. Das Erdgeschoss bestand aus einem großen Raum; er sah sich schnell um und warf einen Blick auf den Emaille-Herd, die abgewetzten Stühle, die Geweihe an der Wand, die Stiege, die ins Dachgeschoss führte. Von dort war ein lautes, röchelndes Atmen zu hören.
Esterhazy bewegte sich äußerst vorsichtig in dem kleinen Raum, setzte dabei jeden Fuß ganz vorsichtig auf, schaute in der Toilette und im begehbaren Schrank nach, um sich zu vergewissern, dass sich niemand dort versteckt hielt. Dann ging er, die Waffe fest umklammert, zur Treppe hinüber. Die Stufen bestanden aus genagelten Holzdielen, die möglicherweise knarrten.
Unten an der Treppe blieb er stehen und horchte. Das schwere Atmen setzte sich fort. Als er hörte, wie der Mann sich oben im Bett umdrehte und schnaufte, offenbar aus Unbehagen, wartete Esterhazy und ließ fünf Minuten verstreichen. Alles schien normal.
Er hob das Bein und stellte den Fuß auf die unterste Stufe, setzte ihn mit Druck auf, Stück für Stück, bis sein volles Körpergewicht auf der Stufe lastete. Kein Knarren. Er stellte den anderen Fuß auf die nächsthöhere Stufe und führte die gleiche quälende Prozedur durch. Wieder kein Knarren. Irrsinnig langsam stieg er auf diese Art die Treppe hinauf, es dauerte Minuten, bis er ganz oben war. Anderthalb Meter entfernt war das Fußende eines primitiven Betts zu sehen. Esterhazy richtete sich ganz langsam auf und spähte von oben ins Bett. Eine Gestalt lag darin, den Rücken ihm zugekehrt, unter einer Bettdecke, schlafend, die Atmung schwerfällig, aber regelmäßig. Ein hagerer Alter im dicken Schlafanzug, das weiße Haar fast genauso wüst und zerzaust wie das der Alten. So schien es jedenfalls.
Esterhazy wusste es besser.
Über dem Kopfbrett lag ein zusätzliches Kopfkissen. Esterhazy legte seine Waffe ab, ergriff das Kissen und nahm es, ohne den Mann aus den Augen zu lassen, hoch. Das Kissen mit beiden Händen gepackt, schlich er wie ein Tiger, dann machte er plötzlich einen Satz, landete auf dem Bett, legte das Kissen auf das Gesicht des Mannes und drückte mit aller Kraft zu.
Unter dem Kissen ertönte ein erstickter Schrei, eine Hand schnellte empor und schlug hektisch nach Esterhazy, aber es befand sich keine Waffe in der Hand, und da wusste er, dass sein Angriff perfekt ausgeführt und absolut überraschend gewesen war. Er drückte das Kissen noch fester nach unten, die gedämpften Laute verstummten, und jetzt kämpfte der geschwächte Mann, indem er mit wild gestikulierenden Händen in Esterhazys Hemd griff. Sein Körper, verblüffend kräftig für jemanden, der erst kürzlich so schwer verletzt worden war, hob sich ihm entgegen. Eine große, spinnengleiche Hand packte die Bettdecke, riss sie dahin und dorthin, als hielte sie die Decke irrtümlich für die Kleidung des Angreifers. Dann hoben sich Hände und Beine ein letztes Mal, die Bettdecke fiel zur Seite, und der Oberkörper kam zum Vorschein. Aber Pendergasts Kräfte schwanden bereits, sein Ende nahte.
Auf einmal verharrte Esterhazy. Die knotigen alten Hände des Mannes. In dem trüben Licht sah er entgeistert auf die unteren Gliedmaßen des Mannes, die spindeldürren Beine, die Pergamenthaut, die Krampfadern. Das war ganz unverkennbar der Körper eines alten Mannes. Kein Mensch brachte es fertig, sich derart wirkungsvoll zu verkleiden. Aber noch wichtiger war, dass da kein Verband war, keine Narbe oder irgendetwas auf dem Oberkörper, was auch nur entfernt auf eine vier Wochen alte Schusswunde hindeutete.
Esterhazy überlegte wie wild, um seinen Schock und seine Wut zu überwinden. Er war sich so sicher gewesen, so absolut sicher …
Rasch ließ er das Kissen los – und da erblickte er die verzerrten Gesichtszüge des Alten, die Zunge hing ihm aus dem Mund, die Augen traten vor panischer Angst beinahe aus den Höhlen. Er hustete einmal, zweimal, schnappte nach Luft, die eingefallene Brust hob und senkte sich vor Anstrengung.
In blinder Panik warf Esterhazy das Kissen beiseite und lief strauchelnd die Treppe hinunter. Die Alte rannte gerade taumelnd zur rückwärtigen Tür, Blut rann ihr Gesicht hinunter.
»Du Teufel!«, kreischte sie und griff nach ihm mit ihrer knochigen Hand, während er an ihr vorbeilief, die Haustür aufriss und über die weite, leere Moorlandschaft zurücklief.