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Special Agent Pendergast saß in einem Mietwagen an der kreisförmigen Auffahrt oberhalb der Marina an der 79. Straße in der Upper West Side von Manhattan und betrachtete durch sein Fernglas die Yacht, die rund zweihundert Meter vom Ufer entfernt vor Anker lag. Es handelte sich um die größte Yacht in dem Hafen, knapp vierzig Meter lang, schnittig und bestens ausgestattet. Als der nachmittägliche Wind drehte, schwang das Schiff an seiner Ankerkette, so dass am Heck Name und Heimathafen sichtbar wurden.

Vergeltung

Orchid Island, Florida

Vom Wasser her wehte ein kalter Wind und rüttelte den Wagen durch, auf dem breiten Hudson erhoben sich kleine Schaumkronen.

Das Handy, das auf dem Beifahrersitz lag, klingelte. Pendergast nahm das Fernglas von den Augen und ging ran. »Ja?«

»Ist da mein Geheimagent-Mann?«, ließ sich die Flüsterstimme am anderen Ende der Leitung vernehmen.

»Mime«, sagte Pendergast. »Wie geht es Ihnen?«

»Haben Sie die Yacht gefunden?«

»Ich schaue Sie mir gerade an.«

Aus dem Handy erklang ein erfreutes, heiseres Lachen. »Hervorragend. Ganz hervorragend. Und glauben Sie, dass wir einen, hm, Treffer haben?«

»Das glaube ich tatsächlich, Mime. Dank Ihnen.«

»Vergeltung. Das war eine ziemliche Herausforderung. Aber andererseits, das Ghostnet von Zombie-PCs, die ich in ganz Cleveland eingerichtet habe, ist in letzter Zeit ziemlich faul gewesen. Es war höchste Zeit, dass die mal an was Nützlichem gearbeitet haben.«

»Ich würde es vorziehen, von den Details nichts zu erfahren. Aber Sie haben meinen Dank.«

»Freut mich, dass ich diesmal mehr helfen konnte. Bleib locker, Kumpel.« Ein Klicken, dann war die Leitung unterbrochen.

Pendergast steckte das Handy ein, fuhr los und steuerte auf den Eingang der Marina und die Tür zu, die zum Hauptanlegesteg führte. Ein Mann in frisch gebügelter Uniform, ohne Zweifel ein ehemaliger Polizist, beugte sich aus dem Wachhäuschen. »Kann ich helfen?«

»Ich möchte Mr. Lowe, den Hafenmanager, sprechen.«

»Und Sie sind?«

Pendergast zückte seinen Dienstausweis. »Special Agent Pendergast.«

»Haben Sie einen Termin?«

»Nein.«

»Und in welcher Angelegenheit …?«

Pendergast sah den Mann einfach nur an. Dann lächelte er unvermittelt. »Gibt’s ein Problem? Wenn es nämlich eins gibt, möchte ich das sofort wissen.«

Der Mann blinzelte. »Einen Moment.« Er zog sich zurück und sprach in ein Telefon. Dann öffnete er das Tor. »Sie können durchfahren und parken. Mr. Lowe kommt gleich raus zu Ihnen.«

Es dauerte mehr als nur einen Augenblick. Schließlich trat ein hochgewachsener, sportlicher, seemännisch wirkender Mann mit einer griechischen Fischermütze auf dem Kopf aus dem Hauptgebäude der Marina und kam mit langen Schritten herüber; sein Atem kondensierte hinter ihm in kleinen Wölkchen. Pendergast stieg aus dem Wagen, blieb stehen und wartete auf ihn.

»Meine Güte. FBI?«, sagte der Mann, streckte die Hand aus, lächelte freundlich und blitzte Pendergast mit seinen strahlend blauen Augen an. »Was kann ich für Sie tun?«

Mit einem Nicken wies Pendergast auf die auf Reede liegende Yacht. »Ich möchte gern etwas über die Yacht dort wissen.«

Der Mann hielt inne. »Und in welcher Funktion?« Er lächelte weiterhin freundlich.

»In offizieller«, sagte Pendergast und erwiderte das Lächeln.

»In offizieller … Also, das ist ja eigenartig«, sagte der Mann. »Ich habe nämlich gerade eben das New Yorker Büro des FBI angerufen und dort gefragt, ob ein gewisser Special Agent Pendergrast in einem Fall ermittelt, bei dem unser Yachthafen eine Rolle spielt …«

»Pendergast

»Entschuldigen Sie. Pendergast. Dort hat man mir gesagt, dass Sie Urlaub genommen haben, und versichert, dass Sie im Moment in keinem laufenden Fall ermitteln. Also muss ich annehmen, dass Sie auf eigene Faust handeln und Ihren Dienstausweis unter einem falschen Vorwand zücken. Was gegen die Vorschriften des FBI verstoßen muss. Habe ich recht?«

Pendergast lächelte unbeirrt weiter. »Sie haben recht, in allen Punkten.«

»Und darum gehe ich jetzt zurück in mein Büro, und Sie verschwinden, und wenn ich noch mehr über diese Angelegenheit höre, rufe ich das FBI noch einmal an und erstatte Anzeige, dass sich einer ihrer Special Agents in der Stadt herumtreibt und seinen Dienstausweis einsetzt, um gesetzestreue Bürger einzuschüchtern.«

»Einschüchtern? Wenn ich anfange, Sie einzuschüchtern, dann werden Sie es schon merken.«

»Ist das eine Drohung?«

»Nein, eine Ansage.« Mit einem Nicken wies Pendergast in Richtung Wasser. »Ich nehme an, Sie können die Yacht dort drüben sehen? Ich habe Grund zu der Annahme, dass in Kürze darauf eine schwere Straftat begangen wird. Wenn diese Straftat begangen wird, dann werde ich in dem Fall ermitteln – und zwar in der offiziellsten aller möglichen Funktionen –, und dann wird selbstverständlich gegen Sie wegen Beihilfe ermittelt werden.«

»Eine leere Drohung. Ich bin unschuldig, und das wissen Sie auch. Wenn in Kürze eine Straftat begangen wird, dann schlage ich vor, dass Sie die Polizei rufen, Mr. Prendergast.«

»Pendergast.« Sein Tonfall klang weiter ruhig und vernünftig. »Ich möchte von Ihnen, Mr. Lowe, lediglich ein paar Informationen über die Yacht, die Angehörigen der Crew, ihr Kommen und Gehen. Was unter uns bleiben muss. Denn ich sehe, dass Sie ein freundlicher Mann sind, der den Strafverfolgungsbehörden gern hilft.«

»Wenn Sie das Einschüchterung nennen, dann funktioniert sie nicht. Meine Aufgabe besteht darin, die Privatsphäre der Kunden, die diesen Yachthafen regelmäßig anlaufen, zu schützen, und das habe ich auch vor. Wenn Sie mit einem Durchsuchungsbefehl zurückkommen wollen, okay. Wenn die New Yorker Polizei herkommt, okay. Dann werde ich kooperieren. Aber nicht mit einem FBI-Agenten, der während seiner dienstfreien Zeit mit irgendeinem Blech herumwedelt. Und nun verschwinden Sie.«

»Wenn wir in dieser Strafsache ermitteln, werden meine Kollegen und das New Yorker Morddezernat wissen wollen, warum Sie von den Leuten auf der Yacht Geld angenommen haben.«

Ein Flackern huschte über das Gesicht des Mannes. »Sonderzuwendungen sind ein ganz normaler Bestandteil dieses Geschäfts. Ich bin wie ein Taxifahrer – Trinkgelder sind Standard hier. Das ist nicht illegal.«

»Natürlich. Allerdings nur dann, wenn das ›Trinkgeld‹ nicht eine gewisse Höhe überschreitet. Dann wird es zu einer Zahlung. Vielleicht sogar zu einer Bestechung. Und wenn das besagte Geld zum Zweck gezahlt wird, eine verdeckte Gegenleistung zu erhalten, nun ja, Mr. Lowe, dann hätten Sie sich tatsächlich der Beihilfe schuldig gemacht, und dann kommen Angehörige der Strafermittlungsbehörden vorbei und stellen Fragen. Zumal wenn bekannt wird, dass Sie nicht nur gedroht haben, mich umzubringen, sollte ich das Gelände nicht verlassen, sondern auch New Yorks Polizisten mit vulgären Ausdrücken beleidigt haben.«

»Was zum Teufel …? Ich habe weder Ihnen noch der Polizei je gedroht.«

»Ihre exakten Worte lauteten: Ich habe Freunde, die Ihnen eine Kugel in den Kopf jagen, wenn Sie nicht sofort von hier verschwinden. Und das gilt auch für die Schweine von der New Yorker Polizei.«

»Ich habe nichts dergleichen gesagt, Sie Dreckskerl von einem Lügner!«

»Das ist richtig. Aber das wissen nur Sie und ich. Alle anderen werden glauben, dass ich die Wahrheit sage.«

»Damit kommen Sie nie durch! Sie bluffen!«

»Ich bin verzweifelt, Mr. Lowe, und operiere außerhalb der Regeln. Ich werde alles tun – lügen, nötigen und täuschen –, um Sie zur Kooperation zu zwingen.« Er holte sein Handy hervor. »Also, ich rufe gleich eine Notfallnummer des FBI an, um Ihre Drohungen zu melden und Unterstützung anzufordern. Wenn ich das tue, wird sich Ihr Leben ändern … für immer. Oder Sie …?« Er hob eine Augenbraue, zusammen mit dem Handy.

Lowe starrte ihn an, zitternd vor Wut. »Sie Dreckskerl.«

»Ich interpretiere das als Ja. Wollen wir uns nun in Ihr Büro zurückziehen? Vom Hudson her weht doch ein recht unangenehmer Wind.«