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New York City
Corrie hatte den ersten Teil des Abends damit zugebracht, ihrer neuen Freundin dabei zu helfen, die Wohnung sauber zu machen und eine Lasagne zu kochen – während sie gleichzeitig das Gebäude nebenan im Auge behielt. Maggie war um acht Uhr abends zur Arbeit in den Jazz-Club gegangen und würde erst um zwei Uhr nachts wieder zurück sein.
Jetzt war es fast Mitternacht. Corrie trank ihren dritten Kaffee in der winzigen Küche und betrachtete ihre Ausrüstung. Sie hatte ihre zerfledderte Kopie des Underground-Klassikers The MIT Guide to Lock Picking gelesen, dann nochmals gelesen, aber die neuen Schlösser an dem Haus könnten, wie sie befürchtete, gezahnte Schließzylinder haben, so dass man sie so gut wie nicht knacken konnte.
Und dann war da noch das Alarm-Tape aus Bleifolie, das sie gesehen hatte. Es bedeutete: Selbst wenn sie das Schloss aufbräche, würde beim Öffnen der Tür der Alarm losgehen. Beim Öffnen oder Einschlagen eines Fensters würde das Gleiche passieren. Außerdem: Das Haus machte zwar einen verlassenen Eindruck, dennoch könnten überall darin Bewegungsmelder und Laser-Alarmanlagen installiert sein. Was man aber erst wissen konnte, wenn man drin war.
Drin? Wollte sie das wirklich machen? Bislang hatte sie lediglich erwogen, das Haus von außen auszukundschaften. Aber irgendwie hatten sich ihre Pläne im Lauf des Abends unbewusst geändert. Warum? Sie hatte Pendergast versprochen, sich aus der Sache herauszuhalten, aber gleichzeitig hatte sie ein tiefes, instinktives Gefühl, dass er sich der Gefahr, in der er schwebte, nicht in vollem Umfang bewusst war. Wusste er, was diese Drogenhändler Betterton und dem Ehepaar Brodie angetan hatten? Das waren böse, böse Menschen.
Und was sie selbst anging, sie war kein Trottel. Sie würde nichts, aber auch gar nichts tun, was sie in Gefahr brachte. Das Haus in der 428 East End Avenue vermittelte durchaus den Eindruck, unbewohnt zu sein – drinnen war kein einziges Licht zu sehen. Sie hatte das Haus den ganzen Tag observiert, niemand war gekommen oder gegangen.
Sie hatte nicht vor, die Grenze ihres Versprechens Pendergast gegenüber zu überschreiten. Und erst recht nicht, sich mit Drogenschmugglern anzulegen. Sie würde nur einbrechen, sich ein paar Minuten im Haus umsehen und wieder verschwinden. Beim ersten Anzeichen von Ärger, egal wie gering, würde sie abhauen. Sollte sie irgendetwas Wertvolles finden, würde sie es zu diesem muskelbepackten Chauffeur Proctor bringen, und der konnte es dann an Pendergast weitergeben.
Sie sah auf die Uhr: Mitternacht. Es hatte keinen Sinn, länger zu warten. Sie faltete die Dietriche zusammen und steckte sie in ihren Rucksack zu den anderen Sachen: ein kleiner tragbarer Bohrer mit Sätzen für Glas, Holz und Mauerwerk, ein Glasschneider, Saugnäpfe, ein Satz Elektrodrähte, Abisolierzangen und andere Werkzeuge, Dentalspiegel und -klammern, zwei kleine LED-Taschenlampen, ein Strumpf fürs Gesicht für den Fall, dass Überwachungskameras installiert waren, Handschuhe, Pfefferspray, Feinmechaniköl, Lappen, Klebeband und Sprayfarbe – und zwei Handys, eins davon in ihrem Stiefel versteckt.
Sie spürte eine wachsende Anspannung. Die Sache würde Spaß machen. Zu Hause in Medicine Creek hatte sie oft solche Brüche durchgezogen, und es war wahrscheinlich eine gute Idee, nicht aus der Übung zu kommen, dranzubleiben. Sie fragte sich, ob sie wirklich für eine Laufbahn bei der Polizei geeignet war, oder ob sie nicht vielleicht überlegen sollte, stattdessen Einbrecher zu werden … Aber andererseits, viele Leute bei der Polizei fühlten sich auf perverse Weise vom Verbrechen angezogen. Pendergast zum Beispiel.
Sie verließ die Küche und trat auf die winzige Terrasse hinterm Haus, die auf allen Seiten von einer zwei Meter fünfzig hohen Mauer umgeben war. Der Garten war verwildert, mehrere Gartenmöbel aus Gusseisen waren auf der Terrasse aufgestellt. Das schummrige Licht aus den umgebenden rückwärtigen Fenstern war hell genug, dass sie etwas sehen konnte, und schützte sie zugleich vor neugierigen Blicken.
Sie wählte den dunkelsten Bereich der Backsteinmauer, die an 428 grenzte, und stellte ein Gartenmöbel dagegen, stieg darauf, dann zog sie sich über die Mauer und ließ sich in den hinteren Garten des verlassenen Hauses hinuntergleiten. Er war völlig verwildert, zugewachsen mit Götterbäumen und Giftsumach: noch mehr perfekte Deckung. Sie zog einen wackligen alten Tisch zur Mauer herüber, über die sie gerade geklettert war, dann ging sie ganz langsam durch das Gestrüpp in Richtung Rückseite des Hauses. Absolut keine Lichter, keinerlei Anzeichen für Aktivitäten darin.
Die Terrassentür war aus Metall und verfügte über ein relativ neues Schloss. Sie schlich weiter, kniete sich hin, klappte den Satz Dietriche auf und wählte einen aus. Sie schob ihn ins Schloss und stieß von den Zuhaltungen ab, wobei sie schnell feststellte, dass das Schloss schwierig zu knacken sein würde. Vielleicht nicht für Pendergast, aber sicherlich für sie.
Besser, sich nach einer Alternative umzusehen.
Sie schlich an der Rückseite des Hauses entlang und entdeckte entlang der Mauer mehrere Souterrainfenster. Sie kniete sich hin und leuchtete mit der Taschenlampe in das nächstgelegene Fenster. Es war schmutzig, fast undurchsichtig, und sie streckte den Arm aus und fing an, es mit einem Lappen zu putzen. Nachdem sie das Fenster so weit sauber gewischt hatte, dass sie hindurchsehen konnte, stellte sie fest, dass die elektrisch leitende Alarmfolie auch vor diesem Fenster verlegt worden war.
Also damit konnte sie etwas anfangen. Sie holte den schnurlosen Bohrer aus dem Rucksack, steckte eine 0,5-mm-Diamantspitze auf, schaltete den Bohrer ein und bohrte zwei Löcher ins Glas, eines durch die obere Bleifolie nahe der Verbindungsstelle und eines durch das untere Folienband, wobei sie darauf achtete, das Band nicht zu durchtrennen und dadurch den Alarm auszulösen. Sie entmantelte einen Kupferdraht und fädelte ihn durch beide Löcher, wobei sie eine dünne Dentalklammer verwendete, um den Kupferdraht auf der Metallfolie an der Innenseite zu befestigen und so den Stromkreislauf komplett aufrechtzuerhalten und um – was entscheidend war – den Alarm für das restliche Haus zu deaktivieren.
Dann bohrte sie mehrere Löcher in die Fensterscheibe, damit sie eine Öffnung hatte, die groß genug war, um hindurchschlüpfen zu können. Als Nächstes ritzte sie mit dem Glasschneider einen Kreis in die Fensterscheibe und verband alle Löcher miteinander. Sie brachte den Saugnapf an, klopfte einmal fest auf das Glas; es brach exakt entlang der Kreislinie. Sie entfernte das Stück und legte es beiseite. Zwar war die Bleifolie entlang des Schnitts eingerissen, aber das spielte keine Rolle. Dank des Kupferdrahts war der Stromkreislauf aufrechterhalten.
Sie trat einen Schritt zurück und warf einen Blick auf die umliegenden Gebäude. Niemand hatte sie gesehen oder gehört, niemand nahm Notiz von ihr. Sie blickte am Gebäude hoch, das vor ihr lag. Es war immer noch dunkel und grabesstill.
Sie konzentrierte sich wieder aufs Fenster. Während sie auf den eventuell installierten Bewegungsmelder achtgab, richtete sie den Strahl der Taschenlampe durchs Fenster, konnte aber bis auf Aktenschränke und Bücherstapel nichts erkennen. Bei dem Alarmkabel handelte es sich um ein ziemlich simples Sicherheitssystem, und sie vermutete, dass es sich im Inneren – wenn überhaupt – um das gleiche System handelte. Mittels eines Dentalspiegels war sie imstande, den Lichtstrahl in alle Ecken des Raums zu richten, entdeckte jedoch nichts, was einem Bewegungsmelder, einer Infrarot- oder Laser-Alarmanlage ähnelte.
Sie steckte den Arm durchs Fenster und wedelte damit herum, bereit, beim ersten Anzeichen, dass irgendwo in der Dunkelheit ein rotes Licht anging, loszulaufen.
Nichts.
Okay. Sie wandte sich um, steckte die Füße durch das Loch im Fenster, zwängte sich vorsichtig hindurch und ließ sich auf den Fußboden fallen, dann zog sie den Rucksack hinein ins Haus.
Wieder wartete sie reglos im Dunkeln und suchte nach irgendwelchen blinkenden Lichtern, irgendeinem Hinweis auf ein Sicherheitssystem. Alles blieb ruhig.
Sie zog einen Stuhl aus einer Ecke und stellte ihn unter das Fenster, für den Fall, dass sie schnell flüchten musste. Dann blickte sie sich um. Das Mondlicht war gerade hell genug, um den Inhalt des Raums erkennen zu können. Wie sie von draußen gesehen hatte, handelte es sich in erster Linie wohl um einen Lagerraum voller Metallaktenschränke, vergilbter Aktenordner aus Pappe und Bücherstapel.
Sie ging zum ersten Bücherstapel und hob die schmierige Plastikplane an. Zum Vorschein kamen ältere, identische Hardcover mit Buckram-Einband, jedes mit einem großen schwarzen Hakenkreuz in weißem Kreis, umgeben von einer roten Fläche.
Bei dem Buch handelte es sich um Mein Kampf, der Autor: Adolf Hitler.