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Das Haus in der East End Avenue hatte die Bezeichnung Brownstone nicht verdient. Es war aus Backstein, nicht Naturstein erbaut, es war schmal, und es war lediglich drei Stockwerke hoch. Ein trostloseres und verwahrlosteres Gebäude findet sich in der ganzen Upper East Side nicht, dachte Corrie, während sie auf der anderen Straßenseite mit dem Rücken an einem Gingko-Baum lehnte, Kaffee trank und zum wiederholten Mal so tat, als lese sie in einem Buch.
Die heruntergezogenen Jalousien im Innern sahen aus, als seien sie über Jahrzehnte immer mehr vergilbt. Die Fenster selbst waren schmutzig, mit Gittern geschützt und erkennbar mit Alarmfolie aus Blei versehen. Die Vorderterrasse war rissig, und im Kellereingang hatte sich Müll angesammelt. Trotz der schäbigen äußeren Erscheinung schien das Gebäude ziemlich gut gesichert zu sein, mit glänzenden neuen Schlössern an der Haustür. Und die Gitter an den Fenstern sahen auch nicht gerade alt aus.
Corrie trank ihren Kaffee aus, steckte ihr Buch ein und schlenderte die Straße hinunter. Der Stadtteil, ehemals von deutschstämmigen Einwanderern bewohnt, war heutzutage scherzhaft unter dem Namen »Mädels-Ghetto« bekannt, der bevorzugte Stadtteil für Hochschulabsolventen, meist Frauen, die neu in Manhattan waren und nach einer sicheren Bleibe suchten. Das Viertel war ruhig, sauber und unbestreitbar sicher. Die Straßen waren voller attraktiver, schick gekleideter junger Frauen, von denen die meisten aussahen, als arbeiteten sie an der Wall Street oder in einer der Rechtsanwaltskanzleien in der Park Avenue.
Corrie rümpfte die Nase und ging weiter bis zum Ende des Blocks. Betterton hatte gesagt, er habe gesehen, wie jemand das Haus verlassen hatte, aber es machte eher den Eindruck, als stünde es schon seit Ewigkeiten leer.
Sie drehte sich um und schlenderte den Block wieder zurück, wobei sie sich frustriert fühlte. Das Gebäude war Teil einer Reihe echter Brownstones, deshalb verfügte jedes auf der Rückseite zweifellos über ein kleines Gärtchen oder eine Terrasse. Wenn sie einen Blick auf die Rückseite des Gebäudes werfen könnte, könnte sie die Lage etwas besser checken. Natürlich konnte das Ganze auch Bettertons überhitzter Phantasie entsprungen sein. Andererseits hatte seine Geschichte, derzufolge Pendergast eine Bar in die Luft gejagt, ein medizinisches Labor abgefackelt und einen Haufen Boote versenkt hatte, etwas fast Glaubhaftes. Und auch wenn Betterton sich geirrt hatte, musste sie doch zugeben, dass er einen intelligenten, zähen Eindruck gemacht hatte. Er war ihr nicht wie jemand vorgekommen, den man problemlos um die Ecke bringen konnte. Aber irgendwer hatte es getan.
Als sie sich der Mitte der Häuserreihe näherte, nahm sie die beiden Brownstones neben der Nummer 428 in Augenschein. Bei beiden handelte es sich um typische UpperEast-Side-Gebäude, mit mehreren Wohnungen pro Etage. Noch während sie sich das Haus ansah, trat eine junge Frau aus einem der Häuser, im schicken Kostüm und mit einer Aktentasche in der Hand. Die Frau drängelte sich an ihr vorbei, praktisch ohne sie eines Blicks zu würdigen, und ließ eine Fahne teuren Parfüms hinter sich zurück. Andere junge Frauen aus dem Viertel kamen und gingen – und schienen alle dem gleichen Typus anzugehören: junge Akademikerinnen im Business-Kostüm oder Jogginganzug. Corrie wurde bewusst, dass sie mit ihrem Goth-Outfit – das stachelige, mit Farbsträhnen gefärbte Haar, all das baumelnde Metall, die vielen Ohrringe und Tattoos – auffiel wie ein bunter Hund.
Was tun? Sie ging in einen Bagel-Shop, bestellte einen Bialy mit Räucherlachspaste und setzte sich ans Fenster, von wo aus sie einen guten Blick die Straße hinunter hatte. Wenn es ihr gelang, sich mit jemandem aus einem Erdgeschoss-Apartment auf der einen oder anderen Seite des Gebäudes anzufreunden, könnte sie sich vielleicht einschmeicheln und einen Blick in den hinteren Garten werfen. Aber in New York ging man nicht so einfach auf Leute zu und sagte hallo. Sie war nicht mehr in Kansas …
Und da sah sie, wie aus dem Brownstone rechts von Nummer 428 eine junge Frau mit langem schwarzem Haar und in Lederminirock und hohen Lederstiefeln heraustrat.
Corrie legte ein paar Dollarscheine auf den Tisch, lief aus dem Bagel-Shop und ging die Straße hinunter, ihre Handtasche schwingend und in den Himmel schauend, auf Kollisionskurs mit der anderen Goth, die ihr da entgegenkam.
Es war kinderleicht gewesen. Mittlerweile ging die Sonne unter, und Corrie relaxte in der winzigen Küche der Erdgeschosswohnung, trank grünen Tee und hörte zu, wie sich ihre neue Freundin über die vielen Yuppies im Viertel beschwerte. Sie hieß Maggie, arbeitete als Kellnerin in einem Jazz-Club und versuchte gleichzeitig, Schauspielerin zu werden. Sie war intelligent, witzig und litt eindeutig unter mangelnder Gesellschaft.
»Ich würde ja gern nach Long Island City oder Brooklyn ziehen«, sagte Maggie und umfasste ihren Teebecher, »aber mein Dad glaubt, dass jedes Viertel außer der Upper East Side von Vergewaltigern und Mördern bevölkert wird.«
Corrie lachte. »Vielleicht hat er ja recht. Das Gebäude nebenan sieht ziemlich gruselig aus.« Sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, eine junge Frau zu manipulieren, die sie gern zur Freundin gehabt hätte.
»Ich glaube, das Haus steht leer. Ich denke nicht, jemals irgendjemand da hinein- oder hinausgehen gesehen zu haben. Komisch, denn es ist wahrscheinlich fünf Millionen wert. Eine Premium-Immobilie, die einfach vor die Hunde geht.«
Corrie blickte in ihren Teebecher und fragte sich, wie sie jetzt, da sie hier war, nach draußen auf die Terrasse hinter dem Brownstone und über die knapp drei Meter hohe Mauer in den Hintergarten des Spukhauses kommen und dann da einbrechen konnte.
Einbrechen. Wollte sie das tatsächlich? Zum ersten Mal hielt sie inne, um darüber nachzudenken, warum sie eigentlich hier war und was sie vorhatte. Sie hatte sich eingeredet, lediglich die Lage checken zu wollen. Aber war es wirklich intelligent, über einen Einbruch nachzudenken, während sie am John Jay studierte, um Polizistin zu werden?
Und das war nur die eine Seite. Sicher, zu Hause in Medicine Creek war sie in mehr als nur ein paar Häuser eingebrochen – allerdings nur zum Spaß –, aber wenn Betterton recht hatte, handelte es sich bei diesen Leuten um gefährliche Drogenhändler. Und Betterton war tot. Und dann war da natürlich auch noch das Versprechen, das sie Pendergast gegeben hatte …
Ganz klar, sie würde da nicht einbrechen. Aber sie würde sich das Haus einmal ansehen. Sie würde auf Nummer sicher gehen, durchs Fenster spähen, Distanz halten. Beim ersten Anzeichen von Ärger oder Gefahr oder irgendwas würde sie sich zurückziehen.
Sie wandte sich zu Maggie um und seufzte. »Es gefällt mir hier. Ich wünschte, ich hätte auch so eine Wohnung. Übermorgen muss ich aus meiner raus, und in die neue kann ich erst am Ersten einziehen. Da muss ich wohl in einer Jugendherberge übernachten oder so was.«
Maggies Gesicht hellte sich auf. »Du brauchst ein Zimmer, wo du ein paar Tage pennen kannst?«
»Ja!« Corrie lächelte.
»Hey, es wäre super, jemanden um sich zu haben. Allein zu leben, kann einem manchmal ziemlich Angst machen. Weißt du, als ich gestern Abend nach Hause gekommen bin, da hatte ich so ein merkwürdiges Gefühl, dass jemand während meiner Abwesenheit in der Wohnung war …«