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Ned Betterton fuhr in seinem Chevy Aero den FDR Drive hinauf und fühlte sich mehr als nur ein wenig niedergeschlagen. In ungefähr einer Stunde musste er den Mietwagen am Flughafen zurückgeben, und am Abend flog er zurück nach Mississippi.
Sein kleines Reportage-Abenteuer war vorbei.
Es war kaum zu glauben, dass er noch vor ein paar Tagen einen guten Lauf gehabt hatte. Er hatte einen Hinweis auf den »ausländischen Burschen« bekommen. Unter Einsatz seiner Social-Engineering-Strategie – auch bekannt unter dem Begriff Vorwand – hatte er bei Dixie Airlines angerufen, sich als Bulle ausgegeben und die Adresse von Klaus Falkoner erhalten, der vor knapp zwei Wochen nach Mississippi geflogen war: 702 East End Avenue.
Ein Kinderspiel. Aber dann war er gegen eine Mauer gerannt. Zunächst einmal gab es keine 702 East End Avenue. Die noch nicht einmal zehn Häuserblocks lange Straße lag direkt am Ufer des East River, und die Hausnummern gingen nicht so weit hoch.
Als Nächstes hatte er Special Agent Pendergasts Spur bis zu einem Apartmentgebäude namens Dakota verfolgt. Aber der Kasten war eine verdammte Festung, und sich Zutritt zu verschaffen, erwies sich als so gut wie unmöglich. Ständig stand ein Doorman in seinem Häuschen vor dem Eingang, und drinnen liefen Bedienstete und Fahrstuhlführer herum, die alle seine Versuche und Tricks, ins Gebäude zu gelangen oder Auskünfte zu erhalten, höflich, aber bestimmt zurückwiesen.
Dann hatte er versucht, an Informationen über diesen Captain der New Yorker Polizei ranzukommen. Aber es gab mehrere weibliche Captains, und er konnte einfach nicht herausfinden, ganz egal, wen er fragte, welche von denen mit Pendergast als Partner zusammengearbeitet hatte oder nach New Orleans geflogen war – nur dass das außerhalb des Dienstes geschehen sein musste.
Das grundlegende Problem aber stellte dieses durchgeknallte New York dar. Die Leute knauserten mit Informationen und waren paranoid, was ihre sogenannte Privatsphäre betraf. Die Dinge liefen hier ziemlich anders als im tiefen Süden. Nur hatte Betterton keine Ahnung, wie sie hier liefen, er wusste nicht mal, wie man Leute richtig ansprach und Fragen stellte. Selbst sein Akzent war problematisch und schreckte sie ab.
Schließlich hatte er sich Falkoner gewidmet und hätte fast einen Durchbruch erzielt. Für den Fall, dass Falkoner tatsächlich in der Straße wohnte, aber eine gefälschte Hausnummer angegeben hatte – die East End Avenue war schließlich eine seltsame Wahl für eine falsche Adresse –, hatte Betterton die Straße von oben bis unten abgeklappert, an Türen geklopft, Passanten angesprochen, gefragt, ob sie einen großgewachsenen, blonden Mann kannten, der in der Nachbarschaft wohnte, mit einem hässlichen Muttermal im Gesicht und deutschem Akzent. Die meisten Leute, typische New Yorker, weigerten sich entweder, mit ihm zu reden, oder sagten nur, er solle abhauen. Einige der älteren Anwohner waren jedoch freundlicher. Und durch sie erfuhr Betterton, dass das Viertel, bekannt als Yorkville, früher eine bevorzugte Wohngegend von deutschen Einwanderern gewesen war. Die älteren Einwohner sprachen wehmütig von Restaurants wie Die Loreley und Café Mozart, vom fabelhaften Kuchen in der Kleinen Konditorei, den hell erleuchteten Tanzlokalen, die allabendlich Volkstänze auf dem Programm hatten. Mittlerweile war das alles verschwunden und ersetzt worden durch anonyme Einkaufsläden, Supermärkte und schicke Boutiquen.
Aber egal, etliche Leute glaubten tatsächlich, einen solchen Mann gesehen zu haben. So behauptete ein alter Herr, bemerkt zu haben, dass ein solcher Mann in einem Gebäude mit heruntergezogenen Jalousien in der East End Avenue zwischen der 91. und 92. Straße, am Nordende des Carl-Schurz-Parks, ein und aus ging.
Betterton hatte das Gebäude überwacht. Ziemlich schnell war ihm klargeworden, dass es schlichtweg nicht möglich war, davor herumzulungern, ohne Aufmerksamkeit oder Argwohn zu erregen. Das hatte ihn dazu gezwungen, einen Wagen zu mieten und seine Observation von der Straße aus vorzunehmen. Drei anstrengende Tage hatte er damit verbracht, das Gebäude zu beobachten. Stunde um Stunde hatte er es observiert, aber niemand ging hinein, keiner kam heraus. Ihm war das Geld ausgegangen, und seine Urlaubsuhr tickte. Schlimmer noch, Kranston hatte angefangen, ihn täglich anzurufen und zu fragen, wo er eigentlich stecke, und sogar angedeutet, ihn ersetzen zu wollen.
Auf diese Weise waren die Tage, die er in seinem Zeitplan New York zugeteilt hatte, zu Ende gegangen. Das Ticket für den Rückflug nach Hause war nicht erstattungsfähig, und für einen Umtausch müsste er vierhundert Dollar hinblättern. Geld, das er nicht besaß.
Und so fuhr Betterton also um fünf Uhr morgens auf dem FDR Drive in Richtung Flughafen, um den Rückflug anzutreten. Doch als er das Ausfahrtsschild zur East End Avenue sah, veranlasste ihn irgendeine abartige, unerschütterliche Hoffnung abzubiegen. Noch ein Blick – nur einer –, und dann würde er sich auf den Rückweg machen.
Weil er nirgends parken konnte, musste er mehrmals um den Block fahren. Es war zum Verrücktwerden. Er würde seinen Flug verpassen. Doch als er zum vierten Mal um die Ecke bog, sah er, dass ein Taxi vor dem Gebäude hielt. Plötzlich hellwach geworden, fuhr Betterton rechts ran, stellte sich im Halteverbot vor das Taxi, zog eine Straßenkarte hervor, tat so, als konsultiere er sie, und beobachtete den Eingang des Gebäudes mit den geschlossenen Jalousien.
Fünf Minuten verstrichen, dann ging die Haustür auf. Ein Mann trat heraus, in jeder Hand eine Reisetasche – und Betterton stockte der Atem. Großgewachsen, schlank und blond. Sogar auf diese Entfernung war das Muttermal unter dem rechten Auge zu erkennen.
»Du heilige Sch…«, murmelte er.
Der Mann warf die Reisetaschen ins Taxi, stieg ein und schloss die Tür. Kurz darauf fuhr das Taxi an und passierte Bettertons Chevy. Betterton holte tief Luft, legte die Straßenkarte aus der Hand, wischte sich die Handflächen am Hemd ab. Und dann folgte er dem Taxi, das jetzt in die 91. Straße bog und Richtung Westen fuhr.