19

New York City

Dr. John Felder schritt mit einer schmalen Mappe unterm Arm über einen der langen hallenden Flure im Mount Mercy Hospital. Neben ihm ging der ärztliche Direktor, Doktor Ostrom.

»Vielen Dank, dass Sie mir diese Visite gestatten, Doktor Ostrom.«

»Gern geschehen. Ich nehme an, Sie haben nicht nur ein vorübergehendes Interesse an der Patientin?«

»Ganz recht. Ihre Erkrankung ist … einzigartig.«

»Vieles, was mit der Familie Pendergast zusammenhängt, ist einzigartig.« Ostrom wollte noch mehr sagen, verstummte dann aber, als habe er in dieser Angelegenheit schon zu viel verraten.

»Wo ist eigentlich ihr Vormund, dieser Pendergast?«, fragte Felder. »Ich habe versucht, mich mit ihm in Verbindung zu setzen.«

»Ich werde nicht schlau aus ihm, fürchte ich. Er kommt und geht zu den merkwürdigsten Zeiten, stellt Forderungen und verschwindet dann wieder. Ich finde den Umgang mit ihm etwas schwierig.«

»Verstehe. Dann haben Sie also keine Einwände, dass ich die Patientin auch weiterhin besuche?«

»Überhaupt nicht. Ich werde Sie gern an meinen Beobachtungen teilhaben lassen, wenn Sie das wünschen.«

»Vielen Dank, Doktor.«

Sie kamen an die Tür. Ostrom klopfte leise an.

»Bitte kommen Sie herein.«

Ostrom schloss die Tür auf und überließ Felder den Vortritt. Das Krankenzimmer sah ähnlich aus wie beim letzten Mal, als er es gesehen hatte, außer dass sich mehr Bücher darin befanden – sehr viel mehr Bücher. Der Bücherschrank, in dem nur ein halbes Dutzend Bände gestanden hatte, enthielt jetzt deutlich mehr. Felder warf einen Blick auf die Titel: The Complete Poems of John Keats, C. G. Jungs Symbole der Wandlung, Die hundertzwanzig Tage von Sodom von Marquis de Sade, T. S. Eliots Vier Quartette, Thomas Carlyles Sartor Resartus. Kein Zweifel, die Bücher stammten aus der Bibliothek des Mount Mercy. Ein wenig schockiert stellte er fest, dass bestimmte Titel eigentlich gar nicht hätten ausgeliehen werden dürfen.

Es gab auch noch einen weiteren Unterschied: Auf dem Tisch in dem Zimmer lagen jetzt Blätter Kanzleipapier, vollgeschrieben mit engzeiligem Text, der von aufwendigen Skizzen, Diagrammen, Stillleben, Gleichungen und Da-Vinci-ähnlichen Zeichnungen unterbrochen wurde. Und dort hinter dem Tisch saß Constance. Sie schrieb gerade etwas, einen Federkiel in der Hand, ein Fässchen mit blauschwarzer Tinte neben sich auf dem Tisch.

Sie hob den Kopf, als die beiden Herren eintraten. »Guten Morgen, Doktor Ostrom. Guten Morgen, Doktor Felder.« Sie schob die Blätter zu einem kleinen Stapel zusammen, dann legte sie das oberste Blatt mit der Schriftseite nach unten darauf.

»Guten Morgen, Constance«, sagte Ostrom. »Haben Sie gut geschlafen?«

»Sehr gut, danke der Nachfrage.«

»Dann lasse ich Sie beide jetzt allein. Doktor Felder, ich stelle jemanden vor der Tür ab. Klopfen Sie einfach, wenn Sie gehen möchten.« Ostrom verließ das Zimmer. Kurz darauf hörte Felder, wie sich ein Schlüssel geschmeidig im Schloss drehte.

Er wandte sich um und sah, dass Constance ihn mit ihren sonderbaren Augen betrachtete. »Bitte nehmen Sie Platz, Doktor Felder.«

»Vielen Dank.« Felder setzte sich auf den einzigen freien Stuhl im Zimmer, einen Plastikstuhl mit Stahlbeinen, die mit dem Fußboden verschraubt waren. Er hätte zwar gern gewusst, was sie da geschrieben hatte, entschloss sich aber, das Thema ein anderes Mal anzusprechen. Er legte die Mappe auf die Knie und wies mit einem Nicken auf den Federkiel. »Interessante Wahl für ein Schreibwerkzeug.«

»Ich musste mich entscheiden. Federkiel oder Buntstifte.« Sie machte eine Pause. »Ich habe nicht erwartet, Sie so bald wiederzusehen.«

»Ich hoffe, Sie finden unsere Unterhaltungen nicht unangenehm.«

»Im Gegenteil.«

Felder rutschte unruhig auf dem Stuhl herum. »Constance, wenn es Ihnen nichts ausmacht … Ich wollte mit Ihnen noch einmal kurz über … über Ihre Kindheit sprechen.«

Constance setzte sich leicht auf.

»Erlauben Sie, dass ich mich zunächst vergewissere, ob ich alles richtig verstanden habe. Sie behaupten, in den 1870er Jahren in der Water Street geboren worden zu sein, auch wenn Sie das genaue Jahr nicht kennen. Ihre Eltern starben an Tuberkulose, und auch Ihr Bruder und Ihre ältere Schwester sind einige Jahre darauf verstorben. Das würde bedeuten, dass Sie«, er machte eine Pause und rechnete, »über hundertdreißig Jahre alt sind.«

Einen Augenblick lang gab Constance keine Antwort. Sie betrachtete ihn nur ganz ruhig. Wieder war Felder von ihrer Schönheit beeindruckt, ihrem intelligenten Gesichtsausdruck, ihrem Bob aus kastanienbraunem Haar. Und sie besaß sehr viel mehr Selbstbeherrschung, als es für eine Frau, die wie zwei- oder dreiundzwanzig aussah, normal gewesen wäre.

»Doktor Felder«, sagte sie schließlich. »Ich habe Ihnen für vieles zu danken. Sie haben mich freundlich und respektvoll behandelt. Aber wenn Sie gekommen sind, um mich bei Laune zu halten, wird meine gute Meinung über Sie darunter leiden, fürchte ich.«

»Ich bin nicht gekommen, um Sie bei Laune zu halten«, sagte Felder aufrichtig. »Sondern um Ihnen zu helfen. Aber zunächst muss ich Sie besser verstehen.«

»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Entweder Sie glauben mir oder nicht.«

»Ich möchte Ihnen ja glauben, Constance. Aber versetzen Sie sich doch einmal in meine Lage. Es ist eine biologische Unmöglichkeit, dass Sie hundertdreißig Jahre alt sind. Und deshalb suche ich nach anderen Erklärungen.«

Wieder schwieg sie einen Moment. »Eine biologische Unmöglichkeit? Doktor Felder, Sie sind doch ein Mann der Wissenschaft. Glauben Sie, dass das menschliche Herz von einem Menschen in den anderen verpflanzt werden kann?«

»Natürlich.«

»Glauben Sie, dass Röntgenbilder und MRI-Geräte vom Inneren des Körpers Aufnahmen machen können, ohne dass hierzu operative Verfahren erforderlich sind?«

»Selbstverständlich.«

»Zur Zeit meiner Geburt hätte man solche Dinge für ›eine biologische Unmöglichkeit‹ gehalten. Ist es denn tatsächlich ›unmöglich‹, dass die Medizin den Alterungsprozess aufhalten und die Lebenserwartung über ihre natürliche Länge hinaus verlängern kann?«

»Nun … vielleicht kann sie unser Leben etwas verlängern. Aber dass eine junge Frau mehr als ein Jahrhundert lang Anfang zwanzig bleibt? Nein, tut mir leid, das ist einfach nicht möglich.« Noch während er das sagte, spürte Felder allerdings, dass seine Überzeugung ins Wanken geriet. »Wollen Sie damit sagen, dass Ihnen das widerfahren ist? Dass Sie irgendeiner Art medizinischem Verfahren unterzogen wurden, das Ihr Leben verlängert hat?«

Constance gab keine Antwort. Felder merkte, dass er ganz plötzlich weiterkam.

»Was ist bei diesem Verfahren geschehen? Wieso wurde es angewandt? Wer hat es durchgeführt?«

»Mehr zu sagen würde bedeuten, ein Versprechen zu brechen.« Constance strich über ihr Kleid. »Ich habe bereits mehr gesagt, als ich es hätte sollen. Ich erzähle Ihnen dies auch nur deshalb, weil ich fühle, dass es Sie aufrichtig danach verlangt, mir zu helfen. Aber mehr darf ich nicht sagen. Was Sie mir glauben wollen, liegt ganz allein bei Ihnen, Doktor Felder.«

»So ist es. Ich danke Ihnen, dass Sie sich mir anvertraut haben.« Felder zögerte. »Aber ich frage mich, ob Sie mir vielleicht einen Gefallen erweisen könnten.«

»Gewiss.«

»Ich möchte, dass Sie sich noch einmal in Ihre Kindheit in der Water Street versetzen, in die frühesten Erinnerungen daran.«

Sie musterte ihn sehr genau, so als suche sie in seinem Gesicht nach Anzeichen für eine Täuschungsabsicht. Nach einer Weile nickte sie.

»Haben Sie deutliche Erinnerungen an die Water Street?«

»Ich erinnere mich noch gut an die Straße.«

»Sehr schön. Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie gesagt, dass Ihr Elternhaus die Hausnummer sechzehn hatte.«

»Ja, das stimmt.«

»Und dass Sie ungefähr fünf Jahre alt waren, als Ihre Eltern gestorben sind.«

»Ja.«

»Erzählen Sie doch mal von der unmittelbaren Nachbarschaft – der Gegend rund um das Haus, meine ich.«

Einen Moment lang schien es, als schweife Constances wacher Blick in weite Ferne. »Nebenan befand sich ein Tabakladen. Ich erinnere mich, wie der Geruch von Cavendish und Latakia durchs Vorderfenster in unsere Wohnung wehte. Gegenüber befand sich ein Fischhändler. Die Katzen aus der Nachbarschaft versammelten sich gern auf der Backsteinmauer zum hinteren Garten.«

»Erinnern Sie sich noch an irgendetwas anderes?«

»Auf der anderen Straßenseite hatte ein Herrenausstatter sein Geschäft. London Town hieß es. Ich entsinne mich an die Modepuppe, die unter dem Ladenschild ausgestellt war. Und weiter unten in der Straße befand sich eine Drogerie – Huddell’s. Ich erinnere mich deshalb, weil mein Vater mit uns dort hineingegangen ist und uns eine Penny-Tüte Süßigkeiten gekauft hat.« Bei dieser Erinnerung huschte ein Strahlen über ihr Gesicht.

Felder fand die Antworten mehr als nur ein wenig beunruhigend.

»Wie sieht’s mit der Schulbildung aus? Sind Sie in der Water Street zur Schule gegangen?«

»Es gab zwar eine Schule unten an der Ecke, aber ich bin nicht hingegangen. Meine Eltern konnten es sich nicht leisten. Es gab damals ja noch kein öffentliches Bildungssystem. Und ich sagte Ihnen ja bereits, ich bin Autodidaktin.« Sie hielt kurz inne. »Warum stellen Sie mir diese Fragen, Doktor Felder?«

»Weil es mich interessiert zu erfahren, wie deutlich Ihre Erinnerungen an Ihre Kindheit sind.«

»Warum? Um sich selbst davon zu überzeugen, dass es sich um Wahnvorstellungen handelt?«

»Nein, ganz und gar nicht.« Er hatte Herzklopfen und bemühte sich, seine Erregung und seine Verwirrung zu verbergen.

Constance erwiderte seinen Blick, sie schien geradezu in sein Innerstes hineinzuschauen. »Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen wollen, Doktor, ich bin müde.«

Er nahm die Mappe in beide Hände und erhob sich. »Nochmals vielen Dank, Constance. Ich weiß Ihre Offenheit sehr zu schätzen.«

»Gern geschehen.«

»Und wozu immer es auch gut sein mag«, sagte er unvermittelt, »ich glaube Ihnen. Ich begreife das alles zwar noch nicht einmal ansatzweise, aber ich glaube Ihnen.«

Ein sanfterer Ausdruck trat in ihr Gesicht. Ganz leicht neigte sie den Kopf.

Er drehte sich um und klopfte an die Tür. Was war denn nur in ihn gefahren, eine solch impulsive Aussage zu machen? Kurz darauf drehte sich der Schlüssel, und ein Pfleger erschien im Türrahmen.

Draußen auf dem Flur, als der Pfleger die Tür wieder abschloss, klappte Felder die Mappe auf, die er mitgebracht hatte und in der sich ein Zeitungsausschnitt aus der New York Times von heute befand. In dem Artikel ging es um einen historischen Fund, der an diesem Tag verkündet worden war: das Tagebuch eines jungen Mannes, Whitfield Speed, der von 1869 bis zu seinem viel zu frühen Tod im Jahr 1883, als er von einer Droschke überfahren wurde, in der Catherine Street gewohnt hatte. Speed, ein begeisterter New Yorker, war offenbar sehr eingenommen von Stows A Survey of London und hatte geplant, einen ähnlich detailgenauen Führer über die Straßen und Geschäfte von New York zu schreiben. Vor seinem Ableben hatte er es lediglich geschafft, ein einziges Tagebuch mit seinen Beobachtungen zu füllen. Das Journal war zusammen mit seinen wenigen Habseligkeiten in einem Koffer auf dem Dachboden verschlossen gewesen und erst einige Tage zuvor wieder aufgefunden worden. Das Journal wurde als bedeutender Beitrag zur Geschichte der Stadt New York gefeiert, da es sehr präzise Informationen über die Gegebenheiten von Speeds Viertel lieferte – Informationen, die aus keiner anderen Quelle zu erhalten waren.

Speeds Wohnhaus in der Catherine Street hatte ganz in der Nähe der Water Street gelegen. Auf einer der Innenseiten hatte die Times eine der aufwendigen Bleistiftskizzen aus Speeds laufenden Aufzeichnungen abgedruckt – eine Skizze, zu der auch eine detaillierte Karte der beiden Straßen, der Catherine und der Water Street, gehörte. Bis zu diesem Morgen hatte kein Lebender gewusst, welche Geschäfte es in diesen beiden Straßen in den 1870er Jahren gegeben hatte.

Kaum hatte Felder heute Morgen am Frühstückstisch den Artikel durchgelesen, war ihm eine Idee gekommen. Eine verrückte Idee natürlich, denn in Wirklichkeit tat er ja kaum mehr, als Constance zu verhätscheln, sie in ihren Wahnvorstellungen zu bestätigen, aber hier bot sich ihm eine ideale Gelegenheit, ihre Aussagen zu überprüfen. Angesichts der Wahrheit – der tatsächlichen Zusammensetzung von Geschäften, öffentlichen und privaten Bauten in der Water Street in den 1870er Jahren – ließe sich Constance vielleicht davon überzeugen, ihre Phantasiewelt hinter sich zu lassen.

Felder stand im Flur, betrachtete eingehend die Abbildung in der Zeitung und versuchte, die alte Handschrift zu entziffern, in der etwas darübergekritzelt war. Auf einmal stockte er. Da war ja der Tabakladen. Und zwei Häuser weiter Huddell’s Drogerie. Gegenüber lag der Herrenausstatter, London Town, und an der Ecke Mrs. Sarratts Akademie für Kinder.

Langsam klappte er die Mappe zu. Die Erklärung lag natürlich auf der Hand. Constance hatte die heutige Ausgabe der Times schon gelesen. Wenn man so wissbegierig war wie sie, wollte man schließlich wissen, was in der Welt so vor sich ging. Felder setzte sich in Richtung Empfang in Bewegung.

Als er sich dem Empfangstresen näherte, sah er Ostrom, der in einer offenen Tür stand und sich gerade mit einer Krankenschwester unterhielt.

»Doktor Ostrom?«, fragte Felder etwas atemlos.

Ostrom erwiderte seinen Blick und hob fragend die Augenbrauen.

»Constance hat doch die Morgenzeitung gelesen, oder? Die Times?«

Ostrom schüttelte den Kopf.

Felder erschrak. »Nein? Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher. Die einzigen Zeitungen, Radio- und Fernsehgeräte, zu denen die Patienten Zugang haben, befinden sich in der Bibliothek. Außerdem war Constance den ganzen Vormittag auf ihrem Zimmer.«

»Niemand hat sie gesehen? Keine Krankenschwester, niemand vom nichtärztlichen Personal?«

»Niemand. Seit gestern Abend wurde ihre Tür nicht mehr aufgeschlossen. Das steht eindeutig im Protokoll.« Er runzelte die Stirn. »Stimmt irgendetwas nicht?«

Felder merkte, dass er die Luft angehalten hatte. Langsam atmete er aus. »Nein, alles in Ordnung. Vielen Dank.«

Und dann verließ er die Eingangshalle und trat in den hellen Sonnenschein.