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New York City
Langsam stieg Dr. John Felder die Treppe der Filiale der New Yorker Stadtbibliothek in der 42. Straße hinauf. Es war später Nachmittag, und auf den breiten Stufen wimmelte es von Studenten und kameraschwenkenden Touristen. Aber Felder nahm keine Notiz von ihnen, ging zwischen den Marmorlöwen hindurch, die die Jugendstilfassade bewachten, und drängelte sich in das hallende Foyer.
Seit Jahren nutzte Felder diese Hauptfiliale der Stadtbibliothek als eine Art Zufluchtsort. Er liebte es, wie sich hier eine Atmosphäre der Eleganz und des Reichtums mit Forschung und Wissenschaft verband. Schon während seiner armen Kindheit und Jugend war er eine Leseratte gewesen, der Sohn eines Vertreters für Kurzwaren und einer Grundschullehrerin, und in dieses Gebäude hatte er sich immer vor dem Trubel geflüchtet, der in der elterlichen Wohnung in der Jewel Avenue herrschte. Selbst jetzt noch, da ihm im Amt für Gesundheit sämtliches Recherchematerial zur Verfügung stand, kehrte er immer wieder in die Stadtbibliothek zurück. Schon beim Betreten der nach Büchern riechenden Räumlichkeiten empfand er Trost, denn er verließ die gemeine Welt und betrat einen schöneren Ort.
Nur heute nicht. Heute war ihm irgendwie anders zumute.
Er stieg die beiden Treppen zum großen Lesesaal hinauf und ging an den Dutzenden der langen Eichentische vorbei in eine der hinteren Ecken. Er stellte seine Tasche auf die zerkratzte Tischplatte und zog eine Tastatur zu sich heran.
Er überlegte. Es lag schätzungsweise ein halbes Jahr zurück, dass er sich erstmals mit dem Fall Constance Greene befasst hatte. Ursprünglich war es eine Routineangelegenheit gewesen: erneut eine vom Gericht angeforderte Befragung einer straffällig gewordenen psychiatrischen Patientin. Doch das Ganze hatte sich schnell ausgeweitet. Greene war anders als alle anderen Patienten, denen er begegnet war. Und plötzlich hatte er verwirrt, fassungslos, fasziniert und, ja, erregt reagiert.
Erregt. Er hatte es sich schließlich selbst eingestehen müssen. Aber es lag nicht nur an ihrer Schönheit, sondern auch an ihrem seltsamen Gebaren, so als käme sie aus einer anderen Welt. Constance Greene hatte etwas Einzigartiges an sich, etwas, das über ihren offensichtlichen Wahnsinn hinausreichte. Und ebendieses Etwas trieb Felder um, trieb ihn dazu an, sie verstehen zu wollen. Auf eine Weise, die er nicht ganz begriff, verspürte er das tiefsitzende Verlangen, ihr zu helfen, sie zu heilen. Und dieser Wunsch wurde noch dadurch gesteigert, dass sie offenbar keinerlei Interesse daran hatte, dass man ihr half.
Und in diese seltsame Gemengelage von Gefühlen war Dr. Ernest Poole soeben eingedrungen. Dabei war sich Felder durchaus bewusst, dass er Poole gemischte Gefühle entgegenbrachte. Er hatte ein gewisses Besitzinteresse an Constance, und die Vorstellung, dass ein anderer Psychiater sie vor ihm untersucht hatte, fand er auf sonderbare Weise ärgerlich. Doch Pooles eigene Erfahrungen mit Constance – offenbar ganz andere als seine eigenen – boten vielleicht noch die beste Aussicht, in ihre Geheimnisse einzudringen. Dass Pooles klinische Bewertungen so ganz anders ausfielen, war dabei ebenso verwirrend wie ermutigend. Pooles Einschätzungen könnten eventuell einen einzigartigen, umfassenden Blick von allen Seiten auf das eröffnen, was – da war sich Felder zunehmend sicher – die Fallstudie seiner ganzen Berufslaufbahn werden würde.
Er legte die Finger auf die Tastatur und überlegte wieder. Ich wurde tatsächlich in der Water Street geboren, in den Siebzigern – den Siebzigern des 19. Jahrhunderts. Seltsam, Constances intensiver Glaube, gepaart mit ihren fotografischen, bislang noch nicht erklärlichen Kenntnissen über ihr altes Viertel, hatte ihn fast glauben gemacht, dass sie tatsächlich hundertvierzig Jahre alt war. Aber dass Poole von ihrer lakunären Amnesie gesprochen hatte, ihrer dissoziativen Fugue, das hatte ihn in die Wirklichkeit zurückgeholt. Dennoch: Er fand, dass er es Constance schuldete, eine letzte Recherche durchzuführen.
Schnell tippend, holte er sich die Datenbank der Periodika der Bibliothek auf den Bildschirm. Er würde noch eine Recherche durchführen, diesmal betreffend die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts – der Zeitraum, in dem Constance laut eigener Aussage geboren wurde.
Er bewegte den Cursor auf das Feld »Suchparameter«, dann hielt er inne und las in seinen Notizen. Als meine Eltern und meine Schwester starben, wurde ich Waise und obdachlos. Mr. Pendergasts Haus am Riverside Drive 89 gehörte damals einem Mann namens Leng. Schließlich wurde es frei. Dort habe ich gewohnt.
Er würde nach drei Begriffen suchen: Greene, Water Street und Leng. Aus früheren Erfahrungen wusste er jedoch, dass er die Suchbegriffe vage halten musste – eingescannte Zeitungen waren berüchtigt wegen ihrer Fehlerhaftigkeit. Also würde er sich normale Begriffe ausdenken und eine logische UND-Verknüpfung eingeben.
Er tippte weiter und gab die Suchbedingungen ein:
[suchen] Greene [und] Wat St + Leng
Fast auf Anhieb landete er einen Treffer. Ein drei Jahre alter Artikel in der New York Times. Wieder Tastengeklapper. Dann erschien der Artikel auf dem Bildschirm. Felder begann zu lesen, und plötzlich stockte ihm fast der Atem.
Von WILLIAM SMITHBACK JR.
NEW YORK – 8. Oktober. In den Archiven des New Yorker Museums für Naturkunde wurde ein Brief gefunden, der unter Umständen den grausigen Leichenfund erklären kann, der Anfang vergangener Woche im unteren Manhattan gemacht wurde.
Bei Ausschachtungsarbeiten stießen Arbeiter, die ein Wohnhochhaus an der Ecke Henry und Catherine Street errichteten, auf einen Kellergang mit den sterblichen Überresten von sechsunddreißig jungen Männern und Frauen. Erste forensische Analysen zeigen, dass die Opfer seziert oder vielleicht auch obduziert und anschließend zerstückelt wurden. Vorläufige Datierungen der Ausgrabungsstelle durch eine Archäologin des New Yorker Naturkundemuseums deuten darauf hin, dass die Morde zwischen 1872 und 1881 stattgefunden haben, als an dieser Straßenecke ein dreistöckiges Gebäude stand, in dem sich ein Privatmuseum namens »J. C. Shottum’s Kabinett der Kuriositäten und Naturprodukte« befand. Das Museum brannte 1881 nieder. Besitzer Shottum kam in den Flammen ums Leben. Bei den nachfolgenden Recherchen entdeckte Dr. Kelly den besagten, von J. C. Shottum selbst verfassten Brief. Shottum schrieb ihn kurz vor seinem Tod und schildert darin seine Entdeckung der medizinischen Experimente seines Untermieters, eines Tierpräparators und Drogisten mit Namen Enoch Leng. In dem Brief deutet Shottum an, dass Leng chirurgische Experimente an Menschen durchführe, um so das eigene Leben zu verlängern.
Die sterblichen Überreste der Personen wurden zwar ins Gerichtsmedizinische Institut der Stadt New York überstellt, bislang jedoch noch nicht zur Untersuchung freigegeben. Der Kellergang wurde von Moegen-Fairhaven Inc., dem Bauunternehmen, während der regulären Bauarbeiten zerstört.
Ein Bekleidungsartikel, der sich vor Ort fand, ist erhalten, ein Kleid, das ins Museum gebracht und von Dr. Kelly untersucht wurde. Eingenäht in das Kleid fand Dr. Kelly ein kleines Blatt Papier, möglicherweise eine Notiz zur Selbstidentifizierung, geschrieben von einer jungen Frau, die offenbar glaubte, nicht mehr lange zu leben. »Ich bin Mary Greene, Allter [sic] 19 Jahre, Watter [sic] Street 16.« Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Notiz mit menschlichem Blut geschrieben wurde.
Das Federal Bureau of Investigation interessiert sich für den Fall. Special Agent Pendergast vom Büro New Orleans ist vor Ort gesehen worden. Das Büro New York und das Büro New Orleans des FBI lehnten allerdings jede Stellungnahme ab.
Watter Street 16. Mary Greene hatte den Straßennamen falsch geschrieben, deshalb war er nicht schon früher auf den Namen gestoßen.
Felder las den Artikel einmal, dann noch einmal, und schließlich ein drittes Mal. Dann setzte er sich ganz langsam in seinem Stuhl zurück und packte die Lehnen derart fest, dass ihm die Handknöchel weh taten.