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New York City

Corrie Swanson saß auf einer Bank an der Straße Central Park West, neben sich eine Tüte von McDonald’s, und tat so, als lese sie in einem Buch. Es war ein schöner Morgen, das Laub der Bäume im Park hinter ihr zeigte seine erste Herbstfärbung, am Himmel zogen Schönwetterwolken dahin, und alle auf den Straßen genossen den Altweibersommer. Alle außer Corrie. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die Fassade des Dakota-Gebäudes auf der anderen Straßenseite und dessen Eingang gerichtet, der um die Ecke lag, an der 72. Straße.

Da sah sie ihn: den silbernen Rolls-Royce, der den breiten Boulevard heraufgefahren kam. Sie kannte den Wagen – mehr als das, er würde ihr immer unvergesslich bleiben. Sie griff nach der McDonald’s-Tüte, sprang auf, wobei das Buch zu Boden fiel, und lief trotz der roten Ampel über die Straße und schlängelte sich durch den Verkehr. An der Ecke Central Park West und 72. Straße blieb sie stehen und wartete ab, ob der Rolls abbiegen würde.

Er bog ab. Der Fahrer, den sie nicht sehen konnte, wechselte auf die linke Spur, blinkte und drosselte die Geschwindigkeit, als er sich der Straßenecke näherte. Corrie lief die 72. Straße entlang bis zum Dakota-Gebäude, wo sie kurz vor dem Rolls ankam. Als der Wagen langsam in die Einfahrt einbog, trat sie vor die Kühlerhaube. Der Rolls blieb stehen; sie blickte den Fahrer durch die Windschutzscheibe an.

Es war nicht Pendergast. Aber es war mit Sicherheit sein Wagen. In den ganzen USA gab es keinen anderen solchen Rolls-Royce-Oldtimer.

Sie wartete. Der Fahrer ließ die Seitenscheibe herunter und streckte den Kopf heraus. Ein stiernackiger Kerl mit gemeißelten Gesichtszügen.

»Entschuldigen Sie, Miss.« Sein Tonfall klang ruhig und angenehm. »Würde es Ihnen etwas ausmachen …?« Seine Stimme verlor sich, und das Fragezeichen baumelte in der Luft.

»Ja, würde es«, sagte sie.

Der Mann musterte sie weiterhin. »Sie blockieren die Einfahrt.«

»Wie unangenehm für Sie.« Sie trat einen Schritt vor. »Wer sind Sie, und warum fahren Sie Pendergasts Auto?«

Der Fahrer schaute sie einen Augenblick an, dann ging die Tür auf, und er stieg aus. Das angenehme Lächeln war fast verschwunden, aber noch nicht ganz. Er war kräftig gebaut, hatte die Schultern eines Schwimmers und den Oberkörper eines Gewichthebers. »Und Sie sind?«

»Das geht Sie nichts an«, sagte Corrie. »Ich will wissen, wer Sie sind und warum Sie sein Auto fahren.«

»Ich heiße Proctor und arbeite für Mr. Pendergast.«

»Wie schön für Sie. Sie haben gerade die Gegenwartsform benutzt.«

»Bitte?«

»Sie sagten: ›Ich arbeite für Mr. Pendergast.‹ Wie kann das sein, wo er doch tot ist? Wissen Sie vielleicht etwas, was ich nicht weiß?«

»Hören Sie, Miss, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich bin sicher, wir können das bequemer anderswo besprechen.«

»Wir werden es genau hier besprechen, so unbequem wie möglich, während wir die Einfahrt blockieren. Ich hab’s nämlich satt, an der Nase herumgeführt zu werden.«

Der Dakota-Türsteher verließ sein Messing-Wachhäuschen. »Gibt’s ein Problem?«, fragte er, wobei sein Adamsapfel ruckte.

»Ja«, sagte Corrie. »Ein Riesenproblem. Ich rühre mich nicht vom Fleck, bis der Mann hier mir gesagt hat, was er über den Besitzer dieses Wagens weiß, und wenn das ein Problem für Sie ist, dann rufen Sie besser die Bullen und melden eine Ruhestörung. Denn die wird es geben, wenn ich nicht bald Antworten kriege.«

»Das wird nicht notwendig sein, Charles«, sagte der Mann namens Proctor ruhig. »Wir werden die Sache rasch klären und die Einfahrt räumen.«

Der Türsteher runzelte zweifelnd die Stirn.

»Sie können ruhig auf Ihren Posten zurückkehren«, sagte Proctor. »Ich habe die Sache im Griff.« Seine Stimme blieb gelassen, strahlte aber eine unverkennbare Autorität aus. Der Türsteher gehorchte.

Proctor wandte sich wieder ihr zu. »Sind Sie eine Bekannte von Mr. Pendergast?«

»Darauf können Sie wetten. Ich habe in Kansas mit ihm zusammengearbeitet. Die Stillleben-Morde.«

»Dann müssen Sie Corrie Swanson sein.«

Sie war verblüfft, fasste sich aber schnell. »Also haben Sie von mir gehört. Gut. Also, was ist jetzt damit, dass Pendergast tot sein soll?«

»Ich bedaure, sagen zu müssen, dass er …«

»Hören Sie auf mit dem Scheiß!«, rief Corrie. »Ich habe darüber nachgedacht, und die Geschichte mit dem Jagdunfall stinkt schlimmer als Brad Hazens Suspensorium. Sagen Sie mir die Wahrheit, sonst … Ich spüre förmlich, wie die Ruhestörung anfängt.«

»Es besteht keinerlei Grund zur Aufregung, Miss Swanson. Wieso wünschen Sie denn, Kontakt mit …«

»Jetzt reicht’s!« Corrie zückte den Kugelhammer, den sie in der McDonald’s-Tüte mit sich herumgetragen hatte, und zielte damit auf die Windschutzscheibe.

»Miss Swanson«, sagte Proctor, »tun Sie nichts Unüberlegtes.« Er tat einen Schritt auf sie zu.

»Halt!« Sie hob den Arm.

»Das ist doch keine Art, an Informationen …«

Sie ließ den Hammer auf die Scheibe niederkrachen. Ein Sternmuster aus Rissen funkelte im Sonnenlicht.

»Mein Gott«, stieß Proctor ungläubig hervor, »haben Sie überhaupt eine Vorstellung, wie …«

»Lebt er, oder ist er tot?« Sie holte erneut aus. Als Proctor Anstalten machte, näher zu kommen, brüllte sie: »Wenn Sie mich anfassen, schreie ich, dass Sie mich vergewaltigen wollen.«

Charles stand mit hervorquellenden Augen in seinem Wachhäuschen.

Proctor erschrak. »Lassen Sie mir etwas Zeit. Sie werden Ihre Antwort schon bekommen – aber Sie müssen Geduld haben. Noch mehr Gewalt, und Sie kriegen gar nichts.«

Ein kurzer Moment des Zögerns, dann ließ Corrie langsam den Hammer sinken.

Proctor zückte ein Handy und hielt es hoch, damit sie es sehen konnte. Dann begann er zu wählen.

»Sie sollten sich beeilen. Charles ruft vielleicht schon die Bullen.«

»Das bezweifle ich.« Proctor sprach mit leiser Stimme ins Telefon, ungefähr eine Minute lang. Dann hielt er es ihr hin.

»Wer ist dran?«

Statt zu antworten, hielt Proctor ihr einfach weiter das Handy hin und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen.

Sie nahm es. »Ja?«

»Meine liebe Corrie«, erklang die seidenweiche Stimme, die sie so gut kannte, »ich bedaure außerordentlich, dass ich unser Mittagessen im Le Bernardin versäumt habe.«

»Es heißt, Sie wären tot!«, stieß Corrie hervor und ärgerte sich, als ihr die Tränen in die Augen sprangen. »Man sagt …«

»Die Berichte über mein Hinscheiden«, kam die drollige Stimme, »sind stark übertrieben. Ich war untergetaucht. Der Krawall, den Sie da veranstalten, kommt mir ziemlich ungelegen.«

»Herrgott noch mal, das hätten Sie mir doch sagen können. Ich war ganz krank vor Sorge.« Die Erleichterung, die sie empfunden hatte, verwandelte sich allmählich in Wut.

»Das hätte ich vielleicht tun sollen. Ich habe vergessen, wie einfallsreich Sie sind. Der arme Proctor, er hatte ja keine Ahnung, gegen wen er da antrat. Es dürfte Ihnen äußerst schwerfallen, seine gute Meinung von Ihnen zurückzugewinnen. Aber mussten Sie denn auch unbedingt die Windschutzscheibe meines Rolls zertrümmern, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen?«

»Tut mir leid. Es war die einzige Möglichkeit.« Sie spürte, dass sie errötete. »Sie haben mich im Glauben gelassen, dass Sie tot sind! Wie konnten Sie nur!«

»Corrie, ich bin nicht verpflichtet, Ihnen Rechenschaft über meine Aktivitäten abzulegen.«

»Also, was ist das für ein Fall?«

»Ich kann nicht darüber sprechen. Es ist rein privat, inoffiziell und – wenn Sie den Jargon entschuldigen wollen – freiberuflich. Ich lebe, ich bin gerade in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, aber ich arbeite allein und benötige keine Hilfe. In keinster Weise. Sie können sich darauf verlassen, dass ich Sie für unser ausgefallenes Mittagessen entschädigen werde, aber das könnte noch etwas dauern. Bis dahin setzen Sie bitte Ihre Studien fort. Es handelt sich um einen außerordentlich gefährlichen Fall, und Sie dürfen sich da nicht einmischen. Haben Sie mich verstanden?«

»Aber …«

»Vielen Dank. Übrigens, ich war ganz gerührt von dem, was Sie da auf Ihrer Website geschrieben haben. Ein sehr schöner Nachruf, wie ich fand. So wie Alfred Nobel habe ich nun die eigenartige Erfahrung gemacht, meinen eigenen Nachruf zu lesen. Also, versprechen Sie mir hoch und heilig, absolut nichts zu unternehmen?«

Corrie zögerte. »Ja. Aber sind Sie immer noch angeblich tot? Was soll ich denn sagen, wenn mich jemand fragt?«

»Die Notwendigkeit für diese Lüge hat sich vor kurzem erledigt. Ich bin wieder da – obwohl ich mich noch ziemlich bedeckt halte. Nochmals meine Entschuldigung für den Verdruss, den ich Ihnen bereitet habe.«

Er hatte bereits aufgelegt, als sie sich noch verabschiedete. Sie blickte kurz auf das Handy und gab es Proctor zurück, der es einsteckte und sie kühl musterte.

»Ich hoffe«, sagte er in ziemlich eisigem Tonfall, »dass wir Sie nicht wieder in dieser Gegend sehen werden.«

»Kein Problem.« Corrie verstaute den Hammer wieder in der Tüte. »Aber ich an Ihrer Stelle würde beim Gewichtheben etwas kürzer treten. Sie haben ja einen Vorbau, auf den Dolly Parton stolz sein könnte.« Und damit machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte in den Park zurück. Der Nachruf war ihr tatsächlich ganz gut gelungen, fand sie. Vielleicht würde sie ihn noch eine Weile auf der Website lassen, nur so zum Spaß.