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Pendergast ging in den Salon im ersten Stock zurück und nippte nachdenklich an seinem Sherry. Er hatte Maurice zwar gesagt, er sei völlig genesen, aber das war im Grunde gelogen – was umso klarer wurde, als er begriff, welch großes Versäumnis er sich hatte zuschulden kommen lassen.

Als er damals Helens Papiere und Unterlagen durchsah, war ihm entgangen, dass ein wichtiges Dokument fehlte. Alle anderen befanden sich in seinem Besitz. Dass Helen in der zweiten Klasse nur Portugiesisch gesprochen hatte, hatte ihn derart erstaunt, dass er nicht die irritierenden Fragen stellte, die sich daraus für ihre Geburtsurkunde – beziehungsweise deren Fehlen – ergaben. Helen musste die Urkunde an einem Ort versteckt haben, der zugänglich und doch sicher war. Was nahelegte, dass sich die Urkunde immer noch irgendwo im letzten von ihr bewohnten Haus befand.

Er trank noch einen Schluck Sherry und betrachtete die tiefe bernsteingelbe Farbe. Penumbra war ein großes, weitläufiges Plantagenhaus, deshalb gab es darin eine fast endlose Anzahl von Orten, an denen man ein einzelnes Blatt Papier verstecken konnte. Helen war schlau. Er musste alles genau durchdenken.

Langsam begann er, die möglichen Verstecke einzugrenzen. Es musste sich um einen Ort handeln, in dem Helen Zeit verbrachte, so dass man es nicht ungewöhnlich gefunden hätte, sie dort anzutreffen. Einen Ort, an dem sie sich wohlfühlte. Einen Ort, an dem sie nicht gestört wurde. Außerdem musste sich die Urkunde in irgendeiner Ecke oder in irgendeinem Möbelstück befinden, das niemals verrückt, geleert, ausgewischt, gelüftet oder durchsucht wurde.

Tief in Gedanken versunken, blieb Pendergast mehrere Stunden lang in dem Salon und durchsuchte im Geiste jedes Zimmer, jeden Winkel des großen Hauses. Dann – als er seine Suche abschließend auf ein Zimmer gerichtet hatte – erhob er sich schweigend und stieg die Treppe in die Bibliothek hinunter. An der Schwelle blieb er stehen und ließ den Blick durch den Raum schweifen, betrachtete die Jagdtrophäen, den großen Refektoriumstisch, die Bücherregale und Kunstgegenstände, erwog nacheinander Dutzende mögliche Verstecke – und verwarf alle wieder.

Nachdem er eine halbe Stunde lang überlegt hatte, grenzte er seine Suche auf ein Möbelstück ein.

An der Wand zur Linken stand der mächtige Schrank, in dem das doppelte Elefanten-Folio von Audubon – Helens Lieblingsbuch – aufbewahrt wurde. Pendergast betrat die Bibliothek, schloss die Schiebetür und ging hinüber zum Schrank. Nachdem er ihn eine Weile betrachtet hatte, zog er die unterste Schublade auf, in der die beiden mächtigen Bände des Folios lagen. Er trug jeden Band einzeln zum Refektoriumstisch, der mitten im Raum stand, und legte sie behutsam nebeneinander. Dann ging er zum Schrank zurück, zog die Schublade ganz auf und drehte sie um.

Nichts.

Pendergast gestattete sich ein leises Lächeln. Es gab in dem Schrank nur zwei logische Verstecke. In dem einen hatte sich nichts befunden. Das bedeutete, dass die Geburtsurkunde definitiv im anderen war.

Er streckte die Hand in den leeren Raum, an dem sich die Schublade befunden hatte, und tastete und strich mit der Hand über den Boden des darüber befindlichen Regals, wobei er mit den Fingern auch die Rückseite des tiefen Schranks absuchte.

Wieder nichts.

Pendergast zuckte zurück, als habe er sich verbrannt. Er stand auf und schaute zum Schrank hin. Er hob die Hand mit leicht zittrigen Fingerspitzen zum Mund. Dann, nach einem langen Augenblick, wandte er sich ab und sah sich, einen unergründlichen Ausdruck im Gesicht, in der Bibliothek um.

 

Maurice war Frühaufsteher. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, nicht später als sechs Uhr auf den Beinen zu sein, um im Haus aufzuräumen, auf dem Grundstück nach dem Rechten zu sehen und das Frühstück zuzubereiten. Doch an diesem Morgen blieb er bis weit nach acht im Bett liegen.

Er hatte kaum geschlafen. Wach im Bett liegend, hatte er gehört, wie Pendergast die ganze Nacht hindurch gedämpfte Geräusche machte. Er war treppauf, treppab gegangen, hatte Möbel gerückt, Dinge auf den Fußboden fallen lassen, Gegenstände von hier nach da geschoben. Zunehmend besorgt, hatte er gehorcht, während das Rumsen, Kratzen und Poltern, das Ziehen und Knallen immer weitergegangen war, vom Dachboden bis zum Salon, vom Frühstückszimmer bis zu den hinteren Schlafzimmern und zum Keller, Stunde um Stunde. Und jetzt, obwohl die Sonne vollständig aufgegangen und der Morgen schon fortgeschritten war, hatte Maurice beinahe Angst, sein Zimmer zu verlassen und sich in den Räumen umzuschauen. Das Haus musste in einem furchtbaren Zustand der Unordnung sein.

Dennoch: Es konnte nicht ewig hinausgeschoben werden. Und so schlug er seufzend die Bettdecke zur Seite und richtete sich auf.

Er stand auf und ging mit leisen Schritten zur Tür. Im Haus herrschte angespannte Stille. Er ergriff den Türknauf und drehte ihn. Knarrend öffnete sich die Tür. Sachte, zunehmend nervös und unruhig steckte er den Kopf durch den Türrahmen.

Der Flur war in tadellosem Zustand.

Leise tappte Maurice von einem Zimmer zum anderen. Alles stand da, wo es hingehörte. In Penumbra herrschte Ordnung. Nur Pendergast war nirgends zu finden.