24

Lochmoray, Schottland

Judson Esterhazy radelte bergauf und ließ die kleine Stadt weit unter sich zurück. Die Straße schlängelte sich durch die Granitfelsen, langsam verschwanden alle Anzeichen von Zivilisation. Anderthalb Stunden später tauchte in der Ferne ein Kirchturm aus grauem Naturstein auf, der gerade eben über die Gebirgsfalte ragte.

Das konnte nur die Kapelle von St. Mun’s mit ihrem historischen Friedhof sein, wo Esterhazy – mit etwas Glück – den Pfarrer finden würde.

Er blickte auf die lange, gewundene Straße, hielt den Atem an und nahm die Steigung in Angriff.

Die Straße verlief bergan durch Kiefern und Tannen, bevor sie einen Bogen um die Bergschulter machte, um dann ins Tal hinab und zu der einsam gelegenen Kapelle hinaufzuführen. Ein kalter Wind wehte, und Wolken jagten über den Himmel, als Esterhazy oben auf der Bergschulter hielt, um das Terrain zu sondieren.

Und tatsächlich: Der Pfarrer stand auf dem Friedhof, ganz allein. Er war nicht in Schwarz geleidet, sondern trug Tweed; nur der Pfarrerkragen verriet seinen Stand. Sein Fahrrad lehnte an einem Grabstein, und der Geistliche selbst stand über ein Hochgrab gebeugt und war dabei, eine Frottage anzufertigen. Obwohl er sich dabei ein wenig idiotisch vorkam, tastete Esterhazy nach der beruhigenden Ausbuchtung in der Tasche – seiner Pistole – und vergewisserte sich, dass er schnell rankommen konnte. Dann stieg er wieder aufs Rad und sauste talwärts.

Es war schon erstaunlich. Dieser Schweinehund von Pendergast bereitete ihm nach wie vor Schwierigkeiten, noch über den Tod hinaus. Denn es musste Pendergast gewesen sein, auf den der Pfarrer da draußen im Moor gestoßen war. Vermutlich geschwächt vom Blutverlust, halb verrückt vor Schmerzen, nur Minuten vom Tod entfernt. Was hatte er dem Mann erzählt? Esterhazy konnte Schottland nicht verlassen, ohne es in Erfahrung gebracht zu haben.

Der Pfarrer erhob sich ungeschickt, als Esterhazy sich näherte, und bürstete Zweiglein und Gras von seinen Knien. Auf dem Grabstein lag ein großes Blatt Reispapier; die Frottage war halb fertig. Eine Mappe mit weiteren Frottagen lag davor, ausgebreitet auf einer Leinwand mit Buntstiften, Pastellkreiden und Kohle.

»Uff!«, murmelte der Pfarrer, rückte seine Kleidung zurecht und klopfte sich ab. »Guten Tag auch.« Er sprach mit einem starken walisischen Akzent, seine Gesichtshaut war rot und geädert.

Esterhazys gewohnheitsmäßige Vorsicht löste sich in Luft auf, als der Pfarrer die Hand ausstreckte. Sein Handschlag war unerfreulich feucht und nicht ganz sauber.

»Sie müssen der Pfarrer von Anglesey sein.«

»Ganz recht.« Das Lächeln wich einem Ausdruck von Verwirrung. »Aber woher wissen Sie das?«

»Ich komme gerade aus dem Pub in Inverkirkton. Dort sagte man mir, dass Sie in der Gegend sind. Um Frottagen von Grabsteinen zu machen.« Esterhazy wies mit dem Kopf auf das Grab.

Der alte Mann strahlte. »Ganz richtig! Ganz richtig!«

»Was für ein Zufall, dass wir uns über den Weg laufen. Mein Name ist Wickham.«

»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Sie verharrten einen Augenblick lang in freundlichem Schweigen.

»Es wurde auch erwähnt, dass Sie eine ziemlich wüste Geschichte erzählt haben«, fuhr Esterhazy fort. »Über einen Mann in einer verzweifelten Lage, dem Sie im Moor begegnet sind.«

»Ja, das bin ich wirklich!« Der Eifer im Gesicht des Mannes verriet Esterhazy, dass er zu jenen Menschen gehörte, die danach gierten, zu jedem nur erdenklichen Thema Ratschläge zu erteilen.

Esterhazy schaute sich mit gespielter Gleichgültigkeit um. »Es würde mich interessieren, mehr darüber zu erfahren.«

Ein eifriges Nicken. »Ja, in der Tat. In der Tat. Es war … lassen Sie mal sehen … Anfang Oktober.«

Esterhazy wartete ungeduldig und bemühte sich, den Pfarrer nicht zu hart zu bedrängen.

»Ich habe zufällig einen Mann getroffen. Er ging taumelnd über das Moor.«

»Wie sah er denn aus?«

»Furchtbar. Er war krank, zumindest hat er das gesagt … Ich glaube ja eher, dass er betrunken war, oder noch wahrscheinlicher, auf der Flucht vor dem Gesetz. Er muss auf einen Felsen gestürzt sein – sein Gesicht war ganz blutig. Er war bleich, schlammbedeckt und durchnässt bis auf die Haut. Es hatte an dem Nachmittag stark geregnet, soweit ich mich erinnere. Ja, ich erinnere mich an diesen Regen. Aber zum Glück hatte ich ja meine Regenjacke dabei …«

»Aber wie hat er ausgesehen? Was für eine Haarfarbe hatte er?«

Der Geistliche verstummte, als sei ihm gerade eben ein Gedanke gekommen. »Welches Interesse haben Sie denn an der Sache, wenn ich fragen dürfte?«

»Ich schreibe Kriminalromane. Ich bin ständig auf der Suche nach Ideen.«

»Oh. Nun, in dem Fall, lassen Sie mich mal nachdenken: helles Haar, bleiches Gesicht, groß. Trug Jagdkleidung. Tweed.« Der Pfarrer schüttelte den Kopf und gab ein vogelähnliches Glucksen von sich. »Der arme Teufel war in einem furchtbaren Zustand, wirklich.«

»Und hat er irgendetwas gesagt?«

»Also, ja. Aber darüber kann ich eigentlich nicht sprechen, Sie verstehen schon. Was ein Mensch vor Gott beichtet, ist ein geheiligtes Geheimnis.«

Der Pfarrer sprach derart langsam und bedächtig, dass Esterhazy befürchtete durchzudrehen. »Was für eine faszinierende Geschichte. Können Sie mir sonst noch etwas erzählen?«

»Er fragte nach dem Weg durch die Sumpfgebiete. Ich sagte ihm, das seien mehrere Meilen.« Der Pfarrer schürzte die Lippen. »Aber er hat nicht lockergelassen, deshalb habe ich ihm eine kleine Karte gezeichnet.«

»Eine Karte?«

»Tja, also, das war ja das mindeste, was ich tun konnte. Ich musste ihm den Weg aufzeichnen. Das Moor ist furchtbar tückisch, überall Sumpflöcher.«

»Aber Sie kommen doch aus Anglesey. Wieso kennen Sie dann die Gegend hier so gut?«

Der Pfarrer lachte leise. »Ich komme seit Jahren her. Seit Jahrzehnten! Ich bin auf all diesen Mooren gewandert. Habe jeden Kirchhof zwischen hier und Loch Linnhe besucht! Es ist eine Gegend von höchstem historischem Interesse, wissen Sie. Ich habe Durchreibungen von Hunderten von Grabsteinen gemacht, einschließlich derer der Lairds von …«

»Ja, ja. Aber erzählen Sie von der Karte, die Sie gezeichnet haben. Könnten Sie mir die gleiche Karte machen?«

»Aber natürlich! Es wäre mir eine Freude! Schauen Sie, ich habe ihm den Weg um die Marschgebiete herum gezeigt, weil die Strecke an der Kilchurn Lodge vorbei sogar noch gefährlicher ist. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie er überhaupt da hingeraten konnte.« Er gab wieder ein Glucksen von sich und zeichnete dabei eine grobe Karte, grauenhaft schlecht, krakelig und viel zu klein. »Hier standen wir«, erklärte er und deutete auf ein X.

Esterhazy musste sich vorbeugen, damit er mehr erkennen konnte. »Wo?«

»Hier.«

Bevor Esterhazy begriff, was geschah, verspürte er einen heftigen Ruck. Dann wurde er zu Boden gezwungen und dort festgehalten, die Arme hinter dem Rücken verdreht, das Gesicht ins Gras gedrückt –, und dann wurde ihm der kalte Lauf einer Pistole derart fest in den Gehörkanal gepresst, dass er ihm ins Fleisch schnitt und Blut hervortrat.

»Rede«, sagte der Geistliche.

Es war die Stimme von Pendergast.

Esterhazy wehrte sich, seine Gedanken rasten, aber der Pistolenlauf bohrte unbarmherzig. Eine Welle von Schrecken und Entsetzen ergriff ihn. Gerade als er überzeugt war, dass dieser Teufel tot war, endgültig fort, tauchte er wieder auf. Das war das Ende. Pendergast hatte gewonnen. Die ungeheuerliche Erkenntnis sickerte in ihn ein wie Gift.

»Helen lebt noch, hast du gesagt«, kam die Stimme, fast wie ein Hauch. »Und jetzt erzähl mir den Rest. Alles.«

Esterhazy bemühte sich, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, den Schock zu überwinden, zu überlegen, was er sagen sollte und wie. Der Torfgeruch stieg ihm in die Nase und erzeugte einen Würgereiz. »Einen Augenblick«, japste er. »Lass mich erklären, wie es angefangen hat. Bitte, lass mich hoch.«

»Nein. Du bleibst unten. Wir haben reichlich Zeit. Und ich habe keinerlei Bedenken, dich zum Reden zu bringen. Du wirst reden. Aber wenn du mich anlügst, und sei es nur ein einziges Mal, bringe ich dich um. Ohne weitere Warnung.«

Esterhazy rang mit einer fast überwältigenden Angst. »Aber dann … wirst du es nie erfahren.«

»Falsch. Jetzt, da ich weiß, dass sie lebt, werde ich sie finden. Aber du kannst mir viel Zeit und Mühe ersparen. Ich wiederhole: die Wahrheit, oder du stirbst.«

Esterhazy hörte das leise Klicken, als die Sicherung gelöst wurde.

»Ja, ich verstehe …« Er versuchte erneut, sich zu sammeln, sich zu beruhigen. »Du hast ja keine Ahnung«, stieß er keuchend hervor, »du hast keine Ahnung, um was es hier geht. Das Ganze reicht weit zurück, in die Zeit vor Longitude.« Er keuchte, rang im taufeuchten Gras nach Atem. »Zurück bis in die Zeit vor unserer Geburt.«

»Ich höre.«

Esterhazy atmete tief durch. Ihm fiel das alles schwerer, als er es sich je ausgemalt hätte. Die Wahrheit war derart entsetzlich …

»Fang am Anfang an.«

»Das wäre der April neunzehnhundertfünfundvierzig …«

Unvermittelt verschwand der Druck der Pistole. »Mein Lieber, was für ein hässlicher Sturz! Warten Sie, ich helfe Ihnen auf.« Pendergasts Stimme hatte sich verändert, und der walisische Akzent war wieder da, in voller Stärke.

Einen Augenblick lang war Esterhazy völlig durcheinander.

»Sie haben sich ja am Ohr verletzt! Oje!« Pendergast tupfte an seinem Ohr herum, und Esterhazy spürte, wie die Pistole, die jetzt in Pendergasts Tasche steckte, sich ihm in die Seite bohrte. Gleichzeitig hörte er, wie eine Autotür zugeknallt wurde, und dann Stimmen – ein Chor von Stimmen. Er blickte vom Boden auf und blinzelte. Eine heitere Gruppe, bestehend aus Männern und Frauen mit Wanderstöcken, Regenkleidung, Notizbüchern, Kameras und Stiften, näherte sich. Der Minibus, in dem sie gekommen waren, parkte direkt vor der alten Steinmauer, die den Kirchhof umgab. Weder Esterhazy noch Pendergast hatten ihn kommen hören, so intensiv war ihre Auseinandersetzung gewesen.

»Hallo!« Der Leiter der Gruppe, ein kleiner, dicker, vitaler Mann, kam auf sie zugestapft und winkte mit seinem zusammengerollten Regenschirm. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Nur ein kleiner Sturz«, sagte Pendergast. Er half Esterhazy auf und hielt ihn gleichzeitig mit stahlhartem Griff fest. Der Pistolenlauf wurde wie eine Pike in seine Nierengegend gerammt.

»Man stelle sich das mal vor – in diesem vergessenen Winkel Schottlands auf andere Menschen zu stoßen! Und Sie sind mit dem Fahrrad hergekommen, alle Achtung! Was führt Sie denn in diese Wildnis?«

»Grab-Ikonographie«, sagte Pendergast erstaunlich gelassen. Sein Blick jedoch war alles andere als ruhig.

Esterhazy unternahm eine gewaltige Anstrengung, sich zusammenzureißen. Pendergast war zwar vorübergehend matt gesetzt, aber er konnte sicher sein, dass der FBI-Agent jede Gelegenheit nutzen würde, das Angefangene zu Ende zu bringen.

»Und wir sind Ahnenforscher!«, sagte der Mann. »Unser Interesse gilt Namen.« Er streckte die Hand aus. »Rory Monckton von der Schottischen Gesellschaft für Genealogie.«

Esterhazy sah seine Chance. Als der Mann überschwenglich Pendergasts widerstrebende Hand schüttelte, musste er Esterhazys Arm für einen Moment loslassen.

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, begann Pendergast, »aber ich fürchte, wir müssen uns jetzt wirklich auf den Weg …«

Esterhazy rammte unvermittelt seinen Arm gegen die verdeckte Pistole, entwand sich Pendergasts Griff und ließ sich auf den Boden fallen. Pendergast feuerte, aber eine Millisekunde zu spät, und dann hatte Esterhazy schon seine eigene Waffe gezückt.

»Heilige Muttergottes!« Der stämmige Mann warf sich ins Gras.

Die Angehörigen der Gruppe, die angefangen hatten, sich zwischen den Grabsteinen zu verteilen, verfielen in Hysterie, einige suchten Deckung, andere liefen wie Fasane auf die Berge.

Ein zweiter Schuss zerfetzte den Kapuzenrand von Esterhazys Jacke, während er gleichzeitig einen Schuss auf Pendergast abfeuerte. Der tauchte mit einem Satz hinter einen Grabstein und schoss erneut, verfehlte Esterhazy aber. Er war nicht in Bestform, offensichtlich noch geschwächt von seiner Verletzung.

Esterhazy gab zwei Schüsse ab und trieb Pendergast dadurch hinter den Grabstein zurück – und dann rannte er wie der Teufel auf den Minibus zu, umrundete ihn und sprang geduckt von der anderen Seite hinein.

Der Schlüssel steckte.

Eine Kugel durchschlug das Seitenfenster und überschüttete ihn mit Glassplittern. Esterhazy erwiderte das Feuer.

Er ließ den Motor an, wobei er mit einer Hand weiter aus dem mittlerweile zertrümmerten Seitenfenster schoss, über die Köpfe der Ahnenforscher hinweg und zwischen den Grabsteinen hindurch. Damit hinderte er Pendergast daran, einen Treffer zu landen. Schreie gellten über den Friedhof, während Esterhazy mit durchdrehenden Reifen zurücksetzte, was den Kies wie Schrotkörner aufspritzen ließ. Er hörte, wie Kugeln den hinteren Teil des Minibusses trafen, während er wendete, Gas gab und losfuhr.

Wieder traf ein Kugelhagel den Minibus, dann war er hinter der Bergschulter und außer Schussweite. Esterhazy konnte sein Glück kaum fassen. Die Kapelle von St. Mun’s lag zwölf Meilen von Lochmoray entfernt. Es gab hier keinen Handy-Empfang. Und kein Auto, nur zwei alte Fahrräder.

Ihm blieben zwei Stunden, vielleicht etwas weniger, um zu einem Flughafen zu kommen.