81

Special Agent Pendergast saß auf einer Ledercouch im Empfangszimmer seiner Wohnung im Dakota. Die Schnittwunde auf seiner Wange war desinfiziert worden und nur noch ein schmaler roter Strich. Neben ihm saß Constance Greene, sie trug einen weißen Kaschmirpullover und einen knielangen korallenroten Faltenrock. Kammmuschelförmige Achat-Einbauleuchten, die unmittelbar unter der Decke angebracht waren, tauchten das Zimmer in ein weiches Licht. Das Zimmer hatte keine Fenster. Drei der Wände waren in Altrosa gestrichen, die vierte Wand bestand ganz aus schwarzem Marmor, über den sich ein dünner Wasserfall ergoss und leise in den Teich darunter plätscherte, in dem Lotusblüten trieben.

Auf einem Tisch aus brasilianischem Purpurholz stand eine Teekanne aus Eisen, daneben zwei kleine Tassen, die mit einer grünen Flüssigkeit gefüllt waren. Constance und Pendergast unterhielten sich leise, kaum hörbar durch das Plätschern des Wasserfall-Springbrunnens.

»Ich begreife noch immer nicht, warum du ihn gestern Nacht hast entkommen lassen«, sagte Constance gerade. »Du vertraust ihm doch nicht.«

»Ich vertraue ihm zwar nicht«, erwiderte Pendergast. »Aber in dieser Sache glaube ich ihm. Er hat mir die Wahrheit gesagt, was Helen angeht, dort im Foulmire. Und er sagt auch jetzt die Wahrheit. Außerdem«, fuhr er mit noch leiserer Stimme fort, »weiß er, dass ich ihn, sollte er sein Versprechen nicht halten, aufspüren werde. Komme, was da wolle.«

»Und wenn du ihn nicht aufspürst«, sagte Constance, »dann ich.«

Pendergast warf seinem Mündel einen Blick zu. Kalter Hass flackerte in ihren Augen auf, ein Flackern, das er schon einmal gesehen hatte. Es stellte, das war ihm sogleich klar, ein ernsthaftes Problem dar.

»Es ist halb sechs«, sagte sie und sah auf die Uhr. »In einer halben Stunde …« Sie hielt inne. »Wie fühlst du dich, Aloysius?«

Pendergast antwortete nicht sofort. Schließlich verlagerte er sein Gewicht auf dem Stuhl. »Ich bekenne mich zu einem höchst unangenehmen Gefühl von Angst.«

Constance blickte ihn an, ihre Gesichtszüge waren voll Sorge. »Nach zwölf Jahren … wenn es stimmt, dass deine … deine Frau dem Tod entronnen ist, warum hat sie sich nie mit dir in Verbindung gesetzt? Warum diese – verzeih mir, Aloysius –, aber warum diese ungeheuerliche Täuschung?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann nur vermuten, dass es mit diesem Bund zu tun hat, den Judson erwähnte.«

»Und wenn sie noch lebt … Würdest du sie dann noch lieben?« Sie errötete ein wenig und senkte den Blick.

»Das weiß ich auch nicht«, antwortete Pendergast so leise, dass es selbst für Constance kaum zu hören war.

Ein Telefon auf dem Tisch klingelte. Pendergast streckte die Hand danach aus. »Ja?« Er hörte einen Augenblick lang zu und legte den Hörer auf die Gabel zurück. Er wandte sich zu Constance um. »Lieutenant D’Agosta ist auf dem Weg hierher.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Constance, ich muss dir das sagen: Wenn du zu irgendeiner Zeit Bedenken hast oder es nicht mehr erträgst, inhaftiert zu sein, lass es mich wissen, ich hole dann das Kind und kläre die ganze Sache auf. Wir müssen nicht … den Plan einhalten.«

Sie brachte ihn mit einer sanften Geste zum Schweigen, ihre Gesichtszüge wurden weicher. »O doch, wir müssen ihn einhalten. Und außerdem kehre ich gern ins Mount Mercy zurück. Auf eine sonderbare Weise finde ich es tröstlich, dort zu sein. Die Unsicherheit und die Geschäftigkeit der Welt dort draußen sind mir gleichgültig. Aber eines will ich sagen. Ich erkenne jetzt, dass ich mich geirrt habe – geirrt, das Kind als den Sohn deines Bruders zu betrachten. Ich hätte den Jungen von Anfang an als den Neffen meines … liebsten Vormunds ansehen sollen.« Und dabei drückte sie ihm die Hand.

Die Türglocke läutete. Pendergast erhob sich und öffnete die Tür. D’Agosta stand mit langem Gesicht im Vestibül.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Vincent. Ist alles vorbereitet?«

D’Agosta nickte. »Der Wagen wartet unten. Ich habe Doktor Ostrom gesagt, dass Constance sich auf dem Weg zurück in die Klinik befindet. Der arme Kerl ist vor Erleichterung fast zusammengebrochen.«

Pendergast holte aus einem Wandschrank einen Vicuñamantel, zog ihn an und half Constance in ihren Mantel. »Vincent, bitte sorgen Sie dafür, dass Doktor Ostrom voll und ganz versteht, dass Constance freiwillig zurückkehrt – dass es sich bei ihrem Verlassen des Krankenhauses um eine Entführung und keine Flucht gehandelt hat und dass alles ausschließlich die Schuld dieses falschen Doktor Poole war. Nach dem wir immer noch suchen, den wir aber vermutlich nie finden werden.«

D’Agosta nickte. »Ich kümmere mich darum.«

Sie verließen die Wohnung und betraten den wartenden Aufzug. »Wenn Sie ins Mount Mercy zurückkehren, vergewissern Sie sich bitte, dass sie ihr altes Zimmer zurückbekommt, samt all ihren Büchern, Möbeln und Notizbüchern. Wenn nicht, protestieren Sie kraftvoll.«

»Ich werde einen heiligen Aufstand veranstalten, glauben Sie mir.«

»Ausgezeichnet, mein lieber Vincent.«

»Aber … verdammt, finden Sie nicht, dass ich mit Ihnen zum Bootshaus gehen sollte? Nur für den Fall, dass es Schwierigkeiten gibt?«

Pendergast schüttelte den Kopf. »Unter allen anderen Umständen, Vincent, würde ich Ihre Hilfe annehmen. Aber Constances Sicherheit ist zu wichtig. Sie sind natürlich bewaffnet?«

»Natürlich.«

Der Fahrstuhl traf im Erdgeschoss ein, die Tür glitt leise auf. Sie verließen das Gebäude durch die Südwest-Lobby und gingen durch den Innenhof.

D’Agosta runzelte die Stirn. »Womöglich stellt Esterhazy uns eine Falle.«

»Das bezweifle ich, aber ich habe Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Für den Fall, dass jemand uns zu stören versucht.«

Sie gingen an einem neugotischen Gebäude vorbei und durch den Eingangstunnel zur 72. Straße. Ein ziviler Wagen stand im Leerlauf neben dem Wachhäuschen des Doormans, ein uniformierter Polizist saß hinterm Steuer. D’Agosta blickte sich kurz um, dann öffnete er die hintere Tür und hielt sie Constance auf.

»Gib auf dich acht, Aloysius«, flüsterte sie.

»Ich bin so bald wie möglich wieder bei dir«, versicherte er ihr.

Sie drückte ihm ein letztes Mal die Hand und setzte sich in den Fond des Wagens.

D’Agosta schloss die Wagentür und ging um den Wagen herum. Er warf Pendergast einen letzten, entschlossenen Blick zu. »Pass auf deinen Arsch auf, Partner.«

»Ich werde Ihren Rat befolgen – im übertragenen Sinne natürlich.«

D’Agosta stieg ein, und der Wagen fädelte sich in den Verkehr ein.

Pendergast blickte dem Wagen hinterher, der in der beginnenden Abenddämmerung verschwand. Dann griff er in seine Anzugjacke, zog ein winziges Bluetooth-Headset hervor und befestigte es am Ohr. Er schob die Hände in die Manteltaschen, überquerte die breite Durchgangsstraße, betrat den Central Park und ging den gewundenen Fußweg Richtung Conservatory Water hinunter.