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Corrie Swanson hörte das Klingeln ihres Handys durch die Ohrhörer, während sie auf dem Bett in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim lag und den Nine Inch Nails lauschte. Sie stand auf, nahm die kleinen Ohrhörer heraus, schlängelte sich durch die fünfzig Zentimeter hohe Schicht aus Kleidungsstücken auf dem Boden und kramte das Handy aus ihrer Handtasche.
Eine Nummer, die sie nicht kannte. »Jaa?«
»Hallo?«, erklang eine Stimme. »Spreche ich mit Corinne Swanson?«
»Corinne?« Der Mann sprach mit einem starken Südstaaten-Akzent, nicht so kultiviert und melodiös wie Pendergasts, aber auch nicht so ganz anders. Sofort war sie auf der Hut. »Ja, ich bin Corinne.«
»Corinne, mein Name ist Ned Betterton.«
Sie wartete.
»Ich bin Reporter.«
»Für welche Zeitung?«
Ein Zögern. »Den Ezzerville Bee.«
Corrie musste lachen. »Okay, wer sind Sie wirklich, und was soll der Scherz? Sind Sie mit Pendergast befreundet?«
Stille am anderen Ende der Leitung. »Ich habe keinen Scherz gemacht, aber es stimmt, Pendergast ist der Grund, weshalb ich anrufe.«
Corrie wartete.
»Entschuldigen Sie, dass ich auf diese Weise Kontakt mit Ihnen aufnehme, aber meines Wissens sind Sie diejenige, die die Website über Special Agent Pendergast unterhält.«
»Das stimmt«, bestätigte Corrie vorsichtig.
»Dort habe ich auch Ihren Namen gefunden«, sagte der Mann. »Mir ist erst heute klargeworden, dass Sie in der Stadt sind. Ich schreibe an einer Geschichte über einen Doppelmord, der sich unten in Mississippi ereignet hat. Ich würde gern einmal mit Ihnen reden.«
»Dann reden Sie doch.«
»Nicht am Telefon. Persönlich.«
Corrie zögerte. Ihre Intuition riet ihr, den Mann abzuwimmeln, aber sie war neugierig, was dessen Verbindung zu Pendergast betraf. »Wo?«
»Ich kenne mich in New York nicht besonders gut aus. Wie wär’s, hm, mit dem Carnegie Deli?«
»Ich esse keine Pastrami.«
»Es gibt dort auch leckeren Käsekuchen, hab ich gehört. Wie wär’s in einer Stunde? Ich werde einen roten Schal tragen.«
»Was auch immer.«
Im Deli saßen ungefähr zehn Leute, die einen roten Schal trugen, und als Corrie Betterton schließlich gefunden hatte, war sie mieser Stimmung. Er stand auf, als sie näher kam, und rückte ihr den Stuhl hin.
»Ich kann mich selber setzen, danke, ich bin nicht irgend so eine Südstaaten-Schöne, die ständig in Ohnmacht fällt«, sagte sie, packte den Stuhl und setzte sich.
Er war Ende zwanzig, klein, sah aber tough aus, muskulös, vernarbte Akneflecken auf dem ansonsten hübschen Gesicht. Er trug ein billiges Sportsakko, hatte kurzes braunes Haar und eine Nase, die aussah, als ob sie schon einmal gebrochen worden war. Attraktiv.
Er bestellte ein Stück Trüffel-Käsekuchen, Corrie entschied sich für ein Sandwich mit Bacon, Salat und Tomaten. Als die Kellnerin gegangen war, verschränkte sie die Arme und fixierte Betterton. »Okay, worum geht’s?«
»Vor knapp zwei Wochen wurde ein Ehepaar, Carlton und June Brodie, in Malfourche, Mississippi, brutal ermordet. Erst gefoltert und dann getötet, um genau zu sein.«
Kurz übertönten das Geklapper von Geschirr und eine Kellnerin, die eine Bestellung rief, seine Worte.
»Reden Sie weiter«, sagte Corrie.
»Der Mord ist noch nicht aufgeklärt. Aber zufällig bin ich auf einige Informationen gestoßen, die ich überprüfe. Nichts Definitives, verstehen Sie, aber vielversprechend.«
»Welche Rolle spielt Pendergast in dieser Angelegenheit?«
»Darauf komme ich gleich. Die Geschichte geht so: Vor etwa zehn Jahren verschwanden die Brodies. Die Ehefrau täuschte einen Selbstmord vor, dann verschwand der Ehemann. Vor einigen Monaten tauchten sie wieder auf, als wäre nichts passiert, zogen nach Malfourche zurück und nahmen ihr altes Leben wieder auf. Die Ehefrau führte den vorgetäuschten Selbstmord auf Ehe- und Job-Probleme zurück, und beide erzählten herum, sie hätten in Mexiko eine Pension geführt. Nur, das haben sie nicht. Das war gelogen.«
Corrie beugte sich vor. Die Sache war interessanter, als sie erwartet hatte.
»Nicht lange vor dem Wiederauftauchen der Brodies traf Pendergast mit einem Captain von der New Yorker Polizei – einer Frau – im Schlepptau in Malfourche ein.«
Corrie nickte. Das musste Hayward sein.
»Niemand kann mir sagen, was sie dort getan haben, oder warum. Es sieht ganz so aus, als hätte er sich für einen Ort tief in dem angrenzenden Sumpfgebiet interessiert, einen Ort namens Spanish Island.« Er fuhr fort, Corrie alles zu erzählen, was er herausgefunden hatte, und erwähnte dabei auch seine Vermutung, dass es sich bei der ganzen Sache um eine große Drogenoperation handelte.
Corrie nickte. Daran hatte Pendergast also im Geheimen gearbeitet.
»Erst vor zwei Wochen tauchte ein Mann mit deutschem Akzent in Malfourche auf. Die Brodies wurden brutal ermordet. Ich bin dem Mann bis hierher nach New York gefolgt. Er benutzt eine falsche Adresse, aber es ist mir gelungen, ihn mit einem kleinen Brownstone in der 428 East End Avenue in Verbindung zu bringen. Ich habe dort ein wenig recherchiert. Das Gebäude liegt im Herzen von Yorkville, der früheren Wohngegend deutschstämmiger Einwanderer, und gehört seit neunzehnhundertvierzig ein und demselben Unternehmen. Einer Immobilien-Holding. Und es scheint so, dass der Mann eine riesige Yacht besitzt, die in der städtischen Marina liegt. Ich bin ihm von dem Brownstone bis zur Yacht gefolgt.«
Erneutes Nicken von Corrie. Langsam fragte sie sich, was er im Austausch gegen diese Informationen wohl von ihr verlangen würde. »Und?«
»Und deshalb glaube ich, dass dieser Pendergast, über den Sie offenbar so viel wissen, der Schlüssel zu der ganzen Sache ist.«
»Kein Zweifel. Das hier ist der große Fall, an dem er arbeitet.«
Betretenes Schweigen. »Das kommt mir eher unwahrscheinlich vor.«
»Was meinen Sie damit?«
»Ein FBI-Agent jagt keine Bar in die Luft und versenkt kein Boot – vom Niederbrennen des Pharmalabors in dem Sumpf ganz zu schweigen. Nein, in dieser Sache hat Pendergast nicht im Auftrag des FBI ermittelt.«
»Kann sein. Er ermittelt oft auf … freiberuflicher Basis.«
»Das waren keine Ermittlungen. Das war Vergeltung. Eine Abrechnung. Dieser Pendergast, ich glaube, er ist der Drahtzieher hinter der ganzen Operation.«
Sie starrte ihn an. »Der Drahtzieher hinter was?«
»Den Brodie-Morden. Dem Drogenhandel – wenn es sich denn darum handelt. Aber es läuft hier etwas Großes und Illegales ab, so viel ist klar.«
»Einen Moment! Sie bezeichnen Pendergast als Drogenbaron, womöglich sogar als Mörder?«
»Sagen wir, ich vermute stark, dass er involviert ist. Alles, was passiert ist, sieht für mich nach Drogenhandel aus, und dieser FBI-Agent steckt da bis zum Hals drin …«
Corrie stand jählings auf. Ihr Stuhl fiel klappernd um. »Sind Sie irgend so ein Spinner?«, sagte sie laut.
»Setzen Sie sich, bitte …«
»Ich werde mich nicht setzen! Pendergast soll mit Drogen handeln?« Ihr angewiderter und ungläubiger Tonfall fiel derart auf, dass sich einzelne Gäste in dem vollbesetzten Restaurant umwandten. Es war ihr egal.
Betterton zuckte innerlich zusammen, denn der Gefühlsausbruch seiner Gesprächspartnerin war ihm peinlich. »Seien Sie doch still …«
»Pendergast ist einer der ehrlichsten Menschen, der Ihnen je begegnen wird. Sie dürften ihm nicht mal die Füße lecken.«
Sie sah, dass Betterton vor Zerknirschung errötete. Jetzt hatte sie die Aufmerksamkeit des gesamten Restaurants. Schon eilten mehrere Kellner und Kellnerinnen herbei. Das Ganze hatte etwas Befriedigendes.
Ihre tiefe Enttäuschung wegen Pendergasts Verschwinden, ihre Wut, dass er sie im Glauben gelassen hatte, er sei tot, fanden in Betterton ihr Ziel. »Sie nennen sich Reporter?«, rief sie. »Worüber schreiben Sie Reportagen, über Duschbeutel? Pendergast hat mir das Leben gerettet! Er hat mein Studium bezahlt, nur zu Ihrer Information, und glauben Sie ja nicht, dass zwischen uns irgendwas läuft, denn er ist der anständigste Mensch, den es gibt, Sie Arschgesicht.«
»Entschuldigen Sie, Miss!« Ein Kellner fuchtelte hektisch mit den Händen, als könnte er sie dadurch aus dem Restaurant zaubern.
»Nennen Sie mich nicht ›Miss‹, ich gehe.« Sie drehte sich um und warf einen Blick auf die Gäste im Restaurant. »Was denn, Kraftausdrücke gefallen euch nicht? Dann geht doch zurück in eure Käffer.«
Sie stolzierte aus dem Restaurant, trat auf die Seventh Avenue, und dort, inmitten der Menschen, die auf dem Weg zum Mittagessen waren, gelang es ihr, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden und wieder zu Atem zu kommen.
Das hier war eine ernste Sache. Anscheinend war Pendergast in Schwierigkeiten, vielleicht in großen Schwierigkeiten. Aber bisher hatte er die immer gemeistert. Sie hatte ihm ein Versprechen gegeben, nämlich dass sie sich nicht einmischen würde, und sie hatte vor, es auch zu halten.