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Inverkirkton, Schottland

Mit sichtlicher Mühe strampelte der einsame Fahrradfahrer die schmale, gewundene Straße hinauf. Das schwarze Rad mit Dreigangschaltung war am Gepäckträger mit einem speziellen Gestell ausgerüstet, an dem lederne, von Gummiseilen gehaltene Fahrradtaschen hingen. Der Radler trug eine dunkelgraue Windjacke und eine taubengraue Cordhose und bildete zusammen mit dem schwarzen Rad eine merkwürdig farblose Gestalt vor dem Ginster und der Heide des schottischen Hochlands.

Oben auf dem Hügel angekommen, wo sich eine Reihe verwitterter Felsen wie große Klauen aus dem grünen Stechginster erhoben, gabelte sich die Straße an einer T-Kreuzung. Hier hielt der Radler an, stieg ab und zog – allem Anschein nach dankbar für die Pause – eine Karte unter der Jacke hervor, breitete sie auf dem Fahrradsattel aus und begann, sie in aller Ruhe zu studieren.

Doch im Inneren war Judson Esterhazy alles andere als ruhig. Er hatte seinen Appetit verloren; es kostete ihn schon Mühe, überhaupt etwas Essbares zu sich zu nehmen. Ständig musste er gegen den Drang ankämpfen, sich nach hinten umzuschauen. Er konnte nicht mehr durchschlafen. Immer wenn er die Augen schloss, sah er den tödlich verwundeten Pendergast, wie er aus dem Sumpfloch zu ihm heraufstarrte aus Augen, die unerbittlich und stechend glitzerten.

Wohl zum tausendsten Mal machte er sich bittere Vorwürfe, den FBI-Agenten im Foulmire zurückgelassen zu haben. Er hätte warten sollen, bis der Morast ihn vollständig verschlungen hatte. Warum hatte er nicht gewartet? Es lag an Pendergasts Augen; er hätte es nicht ertragen, auch nur eine Sekunde länger in diese schmalen, silbrigen Augen zu schauen, die seinen Blick skalpellscharf erwiderten. Eine erbärmliche und unentschuldbare Schwäche hatte ihn im Moment der Wahrheit überwältigt. Esterhazy wusste, dass Pendergast über alle Maßen einfallsreich war. Sie machen sich ja keine Vorstellung – und ich meine: keinerlei Vorstellung –, wie gefährlich dieser Pendergast ist. Waren das nicht seine eigenen Worte gewesen, vor einem Jahr? Er ist hartnäckig und schlau. Und diesmal ist er motiviert – in einzigartiger Weise motiviert. Esterhazy hatte die ganze Sache sorgfältig eingefädelt, und doch war sie noch immer nicht abgeschlossen.

Was für ein Fluch die Ungewissheit doch war.

Und während er neben dem Fahrrad stand und so tat, als lese er die Karte, und die kühle, feuchte Brise an seinen Hosenbeinen zerrte, rief er sich in Erinnerung, dass die Wunde tödlich gewesen war. Sie musste es gewesen sein. Selbst wenn Pendergast es irgendwie geschafft hatte, sich aus dem Sumpf zu ziehen – die Suchtrupps hätten in den Tagen und Nächten ihrer sorgfältigen Suche seinen Leichnam finden müssen. Höchstwahrscheinlich war das Absuchen des Sumpflochs nur deshalb ohne Ergebnis verlaufen, weil Pendergast zwar diesem entkommen, dann aber in irgendeinem Dickicht gestorben oder in einem anderen, entfernt gelegenen Sumpf versunken war.

Aber er wusste es nicht, jedenfalls nicht mit Sicherheit, und das trieb ihn fast in den Wahnsinn. Er musste die Wahrheit herausfinden. Die Alternative – ein Leben voller Angst und Wahn – war schlichtweg nicht akzeptabel.

Nach der gerichtlichen Untersuchung hatte er Schottland verlassen, und zwar möglichst auffällig. Der missmutige Inspector Balfour hatte ihn höchstpersönlich nach Glasgow gefahren. Und jetzt, eine Woche später, war er wieder da. Er hatte sich das Haar kurz schneiden lassen und schwarz gefärbt, trug eine dicke Schildpatt-Brille und hatte sich einen qualitativ hochwertigen Theater-Schnurrbart gekauft. Im unwahrscheinlichen Fall, dass er Balfour oder einem seiner Männer begegnete, war die Chance, dass man ihn erkannte, praktisch gleich null. Er war einfach nur ein amerikanischer Urlauber, der noch spät im Jahr eine Radtour durch die Highlands unternahm.

Fast drei Wochen waren seit dem Schuss auf Pendergast vergangen. Die Spur, so es denn eine gab, war mittlerweile kalt. Aber das ließ sich nicht ändern. Vor der gerichtlichen Untersuchung hatte man Esterhazy unter strenge Bewachung gestellt, um zu verhindern, dass er private Ermittlungen anstellte. Er musste jetzt so schnell wie möglich handeln, sicherstellen, dass keine Zeit vergeudet wurde. Er musste die Wahrheit herausfinden, um selbst zufriedengestellt zu sein, um zu wissen, dass Pendergast nicht überlebt hatte und auf allen vieren aus dem Mire herausgekrochen war. Erst wenn er das wusste, konnte er vielleicht Seelenfrieden finden.

Schließlich widmete er sich der Karte. Er fand seine Position, fand den Gipfel des Beinn Dearg und das Foulmire, fand Cairn Barrow, das größte Dorf in der Region. Die Fingerspitze auf den Punkt gelegt, wo er Pendergast erschossen hatte, sah er sich die Umgebung genauer an. Das nächste Dorf, Inverkirkton, lag fünfeinhalb Meilen vom Ort des Geschehens entfernt. Außer der Kilchurn Lodge lag keine menschliche Ansiedlung näher. Wenn Pendergast überlebt hatte, er irgendwo hingegangen war, dann nach Inverkirkton. Und genau dort würde er mit der Suche anfangen.

Esterhazy faltete die Karte zusammen und warf einen Blick die andere Seite des Hügels hinunter. Von seiner Warte aus war Inverkirkton gerade noch eben zu sehen. Er räusperte sich und stieg wieder aufs Rad. Und kurz darauf sauste er, die Nachmittagssonne auf dem Rücken und ohne vom süßen Duft der Heide Notiz zu nehmen, in östlicher Richtung den Hügel hinab.

Inverkirkton war eine Ansammlung gepflegter Häuser an einer Biegung der Straße, verfügte aber über jene beiden Einrichtungen, deren sich offenbar jedes schottische Dorf rühmen konnte: einen Pub und einen Gasthof. Er radelte bis zum Gasthof, stieg ab und lehnte das Rad gegen die weiß gekalkte Steinmauer. Dann zupfte er ein Taschentuch aus der Hosentasche und trat ein.

Der kleine Eingangsbereich war hell und freundlich eingerichtet. An den Wänden hingen gerahmte Fotos von Inverness und dem Mull of Kintyre neben Tartans und einer Karte der Umgebung. Bis auf einen Mann Anfang sechzig, offenkundig der Gastwirt, der hinter einem Tresen aus poliertem Holz stand und in einer Zeitung las, war niemand da. Er hob den Blick, als Esterhazy eintrat, und sah ihn aus seinen hellblauen Augen fragend an. Esterhazy wischte sich mit dem Taschentuch ausgiebig das Gesicht und schneuzte sich lautstark. Bestimmt wussten alle in diesem winzigen Dorf über den »Jagdunfall« in der Nähe und die Ermittlungen Bescheid, weshalb er erleichtert feststellte, dass im Blick des Mannes keinerlei Anzeichen für ein Erkennen lag.

»Einen schönen guten Tag«, sagte der Mann mit ausgesprochen tiefer Stimme.

»Guten Tag«, antwortete Esterhazy, nachdem er anscheinend wieder ein wenig zu Atem gekommen war.

Der Gastwirt blickte über Esterhazys Schulter, dorthin, wo der Vorderreifen seines Fahrrads so gerade eben durch die Tür zu sehen war. »Machen Sie Urlaub hier in der Gegend?«

Esterhazy nickte. »Ich hätte gern ein Zimmer, wenn denn eins frei ist.«

»Ja, eines. Und wie heißen Sie, Sir?«

»Edmund Draper.« Wieder atmete er einige Male tief durch und wischte sich nochmals ausgiebig mit dem Taschentuch übers Gesicht.

Der Gastwirt holte ein großes Gästebuch vom Bord hinter sich. »Sie scheinen mir ’n bisschen erschöpft zu sein, junger Mann.«

Esterhazy nickte abermals. »Bin ganz von Fraserburgh hergeradelt.«

Der Gastwirt öffnete das Gästebuch nicht weiter. »Fraserburgh? Aber das sind ja knapp vierzig Meilen – ’ne ganz schön lange Strecke über die Berge.«

»Ich weiß. Ich hab’s auf die harte Tour erfahren. Heute ist erst mein zweiter Urlaubstag, und ich hab’s wohl übertrieben. Aber so bin ich nun mal.«

Der Gastwirt schüttelte den Kopf. »Na, eins steht mal fest. Heute Nacht können Sie bestimmt gut schlafen. Am besten, Sie lassen es morgen ruhig angehen.«

»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.« Noch eine Pause, um Atem zu holen. »Übrigens, ich habe den Pub nebenan gesehen – man kann dort auch essen, nehme ich an?«

»Ja, und zwar ziemlich gut. Und wenn ich Ihnen eine Empfehlung geben darf, der hiesige Malt, Glen …«

Der Gastwirt hielt inne. Esterhazy hatte eine besorgte, schmerzhafte Miene aufgesetzt.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Esterhazy. Er ließ seine Stimme angestrengt klingen. »Ich habe da plötzlich so ein … Ziehen … in der Brust.«

Ein Ausdruck der Besorgnis huschte über das Gesicht des Gastwirts. Er eilte hinter dem Empfangstresen hervor, führte Esterhazy in einen kleinen angrenzenden Raum und setzte ihn vorsichtig in einen Polstersessel.

»Der Schmerz schießt mir in den Arm … O Gott, wie weh das tut.« Esterhazy griff sich mit der rechten Hand an die Brust.

»Soll ich Ihnen etwas zu trinken holen?« Der Gastwirt beugte sich besorgt über ihn.

»Nein … rufen Sie einen Arzt. Schnell …« Und damit sackte er zusammen und schloss die Augen.