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Felder stand hinten in einer Ecke von Constance Greenes Zimmer im Mount Mercy Hospital. Dr. Ostrom war anwesend, zusammen mit Agent Pendergast und einem Lieutenant von der New Yorker Polizei namens D’Agosta. Am gestrigen Nachmittag hatte die Polizei alle Bücher Constances, ihre privaten Aufzeichnungen, diverse persönliche Gegenstände und sogar die Bilder an den Wänden mitgenommen. Am Morgen hatten die Beamten abschließend geklärt, dass Poole ein Betrüger war, und Felder hatte sich vom echten Poole abkanzeln lassen müssen, der ihn schonungslos kritisiert hatte, weil er die Referenzen des Mannes nicht überprüft hatte.
Pendergast hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, seine stählerne Verachtung dafür, dass man Constance erlaubt hatte, Mount Mercy zu verlassen, zu verbergen. Ein Teil seines Missvergnügens war gegen Ostrom gerichtet gewesen, aber das Gros seines eisigen Zorns hatte Felder zu spüren bekommen.
»Also, meine Herren Ärzte«, sagte Pendergast jetzt, »erlauben Sie mir, Ihnen zur ersten Flucht in hundertzwanzig Jahren aus dem Mount Mercy zu gratulieren. Wo wollen wir die Plakette anbringen?«
Schweigen.
Pendergast zog ein Foto aus seiner Anzugjacke und zeigte es erst Ostrom und dann Felder. »Erkennen Sie diesen Mann wieder?«
Felder schaute sich das Foto genauer an. Es handelte sich um das leicht verschwommene Foto eines gutaussehenden Mannes mittleren Alters.
»Er sieht Poole ähnlich«, sagte Felder, »aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich nicht um denselben Mann handelt. Um seinen Bruder vielleicht?«
»Und Sie, Doktor Ostrom?«
»Schwer zu sagen.«
Pendergast zog einen dünnen Filzstift aus der Tasche, beugte sich über die Fotografie und malte ein wenig darauf herum. Dann fügte er etwas mit einem weißen Stift hinzu. Schließlich wandte er sich wieder zu den beiden Ärzten um und zeigte ihnen kommentarlos die Fotografie.
Felder warf erneut einen Blick auf das Foto, und jetzt erkannte er den Mann. Pendergast hatte einen graumelierten Spitzbart hinzugefügt.
»Mein Gott, das ist er. Poole.«
Ostrom nickte zustimmend und betrübt.
»In Wirklichkeit heißt der Mann Esterhazy«, sagte Pendergast und warf die Fotografie angewidert auf den leeren Tisch.
Er setzte sich neben den Tisch, legte die Finger aneinander, richtete den Blick nach innen. »Ich war ein verdammter Trottel, Vincent. Ich dachte, ich hätte ihn tief ins Gebüsch getrieben. Aber ich habe nicht vorhergesehen, dass er auf dem Fußweg kehrtmachen und sich mir von hinten nähern würde wie ein Kapbüffel.«
Der Lieutenant gab ihm keine Antwort. Eine unbehagliche Stille breitete sich im Zimmer aus.
»In dem Brief«, sagte Felder, »behauptet sie, ihr Kind sei noch am Leben. Wie kann das sein? Dass sie hier ist, liegt doch allein daran, dass sie den Kindsmord zugegeben hat.«
Pendergast warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ehe wir ein Baby von den Toten erwecken, Doktor, sollten wir da nicht zunächst die Mutter zurückholen?«
Pause. Dann wandte sich Pendergast zu Ostrom um. »Hat sich dieser sogenannte Poole mit präzisen psychiatrischen Begriffen zu Constances Erkrankung geäußert?«
»Ja.«
»Und war seine Einschätzung widerspruchsfrei? Glaubhaft?«
»Sie hat mich überrascht, angesichts dessen, was ich über Miss Greene wusste. Die innere Logik war allerdings fehlerfrei, darum habe ich angenommen, dass Doktor Pooles Diagnose korrekt ist. Er hat behauptet, dass sie seine Patientin gewesen sei. Ich habe keinen Grund gesehen, das anzuzweifeln.«
Pendergast trommelte mit seinen spinnengleichen Fingern auf die Armlehne des Stuhls. »Und Sie sagen, dass Doktor Poole, als er Constance zum ersten Mal besuchte, darum gebeten hat, einen Augenblick mit ihr allein zu sein?«
»Ja.«
Pendergast sah D’Agosta an. »Ich denke, die Situation ist einigermaßen klar. Mehr noch: glasklar.«
Felder war sie zwar überhaupt nicht klar, doch er schwieg.
Pendergast wandte sich wieder zu Ostrom um. »Und natürlich war es derselbe Poole, der vorgeschlagen hat, Constance einen Ausflug außerhalb des Krankenhausgeländes zu gestatten?«
»Das ist richtig«, sagte Ostrom.
»Wer hat sich um den Papierkram gekümmert?«
»Doktor Felder.«
Pendergast warf Felder einen verstohlenen Blick zu. Der zuckte zusammen.
Pendergast schaute sich lange und forschend im Zimmer um. Dann wandte er sich wieder an D’Agosta. »Vincent, dieser Raum und dieses Krankenhaus sind für uns nicht weiter von Interesse. Wir müssen uns auf den Brief konzentrieren. Können Sie ihn uns bitte noch einmal zeigen?«
D’Agosta griff in seine Anzugjacke und holte die Fotokopie hervor, die Ostrom angefertigt hatte. Pendergast nahm sie und las sie durch, einmal, zweimal.
»Die Frau, die das hier abgegeben hat«, sagte er. »Haben Sie ihr Taxi aufspüren können?«
»Nein.« D’Agosta wies mit einem Nicken auf den Brief. »Da steht nicht viel drin.«
»Nicht viel«, sagte Pendergast. »Aber vielleicht gerade genug.«
»Ich verstehe nicht ganz«, erwiderte D’Agosta.
»In diesem Brief artikulieren sich zwei Stimmen. Die eine kennt Constances endgültigen Bestimmungsort, die andere nicht.«
»Wollen Sie damit sagen, dass die Stimme zu Poole gehört? Ich meine Esterhazy.«
»Genau. Und Ihnen ist sicherlich auch aufgefallen, dass ihm, vielleicht unabsichtlich, eine bestimmte Formulierung herausgerutscht ist, die Constance zitiert. ›Vergeltung, dort wird es enden.‹«
»Und?«
»Esterhazy war immer übermäßig eingebildet auf seine geistreiche Art. ›Vergeltung, dort wird es enden.‹ Ist das nicht eine merkwürdige Formulierung, Vincent?«
»Ich bin mir nicht sicher, wirklich nicht. Das ist doch der Sinn der ganzen Sache: Vergeltung.«
Pendergast wedelte ungeduldig mit der Hand. »Und wenn er nun nicht von einer Handlung, sondern von einem Objekt gesprochen hat?«
Dem folgte ein langes Schweigen.
»Esterhazy hat Constance an irgendeinen Ort namens Vergeltung gebracht. Vielleicht handelt es sich um eine alte Familienvilla. Ein Anwesen. Ein Unternehmen irgendeiner Art. Das ist genau die Art Wortspiel, das Esterhazy gebrauchen würde – zumal im Moment des Triumphs, als den er die Entführung ohne Zweifel betrachtet.«
D’Agosta schüttelte den Kopf. »Ich finde die Argumentation ziemlich dürftig. Wer würde denn schon irgendein Objekt ›Vergeltung‹ nennen?«
Pendergast fixierte mit seinen silbrigen Augen den skeptischen D’Agosta. »Haben Sie sonst noch etwas, mit dem wir weitermachen können?«
D’Agosta hielt inne. »Ich schätze nicht.«
»Und hätten Hunderte Beamte der New Yorker Polizei, wenn sie auf Büsche einschlagen und Türen eintreten, größere Erfolgsaussichten als ich, wenn ich dieser möglichen Spur nachgehe?«
»Da suchen Sie doch eine Stecknadel im Heuhaufen. Wie wollen Sie denn ein solches Objekt aufspüren?«
»Ich kenne jemanden, der in solchen Dingen außergewöhnlich geschickt ist. Gehen wir, die Zeit drängt.«
Pendergast wandte sich zu Felder und Ostrom um. »Wir sind so weit, meine Herren.«
Im Gehen, wobei er so rasch ausschritt, dass Felder und Ostrom fast in Laufschritt fallen mussten, um sein Tempo mitzuhalten, holte er sein Handy hervor und wählte.
»Mime?«, sprach er ins Gerät. »Pendergast hier. Ich habe noch einen Auftrag für Sie, wieder einen sehr schwierigen, fürchte ich …« Er sprach weiter, schnell und leise, bis sie zur Eingangshalle kamen, dann klappte er das Handy zu, drehte sich zu Ostrom und Felder um und sagte in höchst ironischem Tonfall: »Vielen Dank, meine Herren Ärzte, aber wir finden schon allein hinaus.«