75
Esterhazy hob eine Festmacherleine vom Deck. »Helfen Sie mir, ihn an dieser Klampe hier festzubinden«, sagte er zu Schultz.
Seine Gedanken rasten. Er hatte Bravour und eine Aura der Befehlsgewalt vorgetäuscht, aber unmittelbar unter der Oberfläche war er fast außer sich vor Angst. Er musste jetzt einen Weg finden, wie er seine Haut retten konnte. Aber ihm fiel keine Lösung ein. Was ist denn los, Judson?, hatte Falkoner gesagt. Sie vertrauen uns auf einmal nicht mehr? Ich bin überrascht. Und gekränkt.
Esterhazy wurde klar, dass er möglicherweise ebenso todgeweiht war wie Pendergast.
Das Schiff hatte gewendet und verlangsamte jetzt seine Fahrt, während es sich Constances Position näherte. Esterhazy setzte sich in Richtung Bug in Bewegung, um nach ihr zu suchen, während zwei Scheinwerfer von der Brücke aus die Wellen beleuchteten.
»Dort!«, sagte Esterhazy, als plötzlich ein reflektierendes Band an der Schwimmweste im Licht des einen Scheinwerfers aufblitzte.
In wenigen Augenblicken hatte das Boot sie erreicht, es verlangsamte seine Fahrt noch weiter und drehte bei. Esterhazy lief im Laufschritt nach achtern, schnappte sich die Rettungsweste mit einem Festmacherhaken und zog Constance zum Heck herum. Falkoner kam nach achtern, und gemeinsam zogen sie Constance auf die Schwimmplattform, dann trugen sie sie durch den Heckspiegel in den großen Salon, wo sie sie auf den Teppich legten.
Sie war nur halb bei Bewusstsein, aber sie atmete noch. Esterhazy fühlte kurz ihren Puls: langsam und gleichmäßig.
»Unterkühlung«, sagte er zu Falkoner. »Wir müssen ihre Körpertemperatur irgendwie hochbringen. Wo steckt die Frau?«
»Gerta? Sie hat sich in der Mannschaftsunterkunft eingeschlossen.«
»Sie soll ein lauwarmes Bad einlaufen lassen.«
Falkoner verschwand, während Esterhazy die Rettungsweste, das nasse Kleid und die Unterwäsche aufknöpfte und abstreifte und Constance eine trockene Afghan-Decke umlegte, die gefaltet auf einem Stuhl in der Nähe lag. Er legte ihr Handschellen an und lockere Fesseln um die Fußgelenke, so dass sie gerade genug Spiel hatte, um gehen zu können.
Einen Augenblick später traf die Frau zusammen mit Falkoner ein. Sie war blass, aber gefasst. »Das Bad läuft ein.«
Sie trugen Constance durch den Salon ins Badezimmer in einer der vorderen Gästekabinen, wo sie sie in das lauwarme Wasser setzten. Sie erholte sich bereits und murmelte etwas.
»Ich gehe nach vorn, um Pendergast im Auge zu behalten«, sagte Esterhazy.
Falkoner sah ihn einen Moment lang an – ein forschender, berechnender Blick. Dann lächelte er schief. »Wenn sie sich erholt hat, setzen wir sie ein, um ihn zum Reden zu bringen.«
Esterhazy lief es kalt den Rücken hinunter.
Er fand Pendergast dort vor, wo er ihn zurückgelassen hatte, Schultz passte auf ihn auf. Er zog einen Deckstuhl heran und setzte sich, legte seine Pistole auf den Schoß und musterte Pendergast. Es war das erste Mal, dass sie einander von Angesicht zu Angesicht und unverkleidet gegenüberstanden, seit er den Agenten allein gelassen hatte, schwer verletzt und im Sumpf des Foulmire versinkend. Pendergasts silbrig-helle Augen waren in dem schummrigen Licht kaum zu sehen und wie üblich undurchdringlich.
Zehn Minuten verstrichen, während Esterhazy jedes Szenario durchging, jeden möglichen Plan, wie er von der Vergeltung herunterkommen konnte, aber vergebens. Die würden ihn umbringen – er hatte es in dem Blick gelesen, den Falkoner ihm zugeworfen hatte. Dank Pendergast hatte er dem Bund zu viel Ärger bereitet, hatte ihn zu viele Männer gekostet, als dass diese Leute ihn am Leben lassen würden.
Er hörte erhobene Stimmen und sah, wie Constance von Gerta, der rothaarigen Frau, auf dem Backbord-Laufgang vorangestoßen wurde, gefolgt vom Gemurmel Falkoners. Kurz darauf erschienen sie an Deck. Zimmermann hatte sich ihnen angeschlossen. Constance trug einen langen weißen Frotteebademantel, darüber ein Herrensakko. Falkoner gab ihr einen letzten Schubs, dann stürzte sie vor Pendergast aufs Deck.
»Dieses freche Luder«, sagte Falkoner und betupfte sich seine blutende Nase. »Hat sich ganz schön schnell wieder erholt. Bindet sie an dem Pfosten dort fest.«
Schultz und die rothaarige Frau stießen sie in Richtung einer Stahlstrebe für eine Rettungsleine, dann banden sie sie daran fest. Sie leistete keine Gegenwehr, sondern blieb merkwürdig ruhig. Als sie sie festgebunden hatten, betupfte Falkoner seine Stirn und warf Esterhazy einen kühlen, triumphierenden Blick zu. »Ich regle das hier«, sagte er kurz angebunden. »Das ist schließlich mein Spezialgebiet.«
Er riss Pendergast das Klebeband vom Mund. »Wir wollen doch kein Wort verpassen, das dieser Mann sagt, nicht wahr?«
Esterhazy blickte zur Brücke hinauf: eine Reihe matt schimmernder Fenster auf dem Oberdeck, oberhalb und hinter dem Vorschiff. Er konnte den Kapitän hinter dem Steuerrad sehen. Gruber, der Maat, stand neben ihm. Beide konzentrierten sich auf ihre Arbeit und schenkten dem Drama, das sich unter ihnen auf dem Vorderdeck abspielte, keine Beachtung. Das Schiff hielt unterdessen Kurs nach Norden, fuhr parallel zur Südküste von Long Island. Esterhazy fragte sich, wohin sie wohl fuhren. Falkoner war in dieser Hinsicht mehr als vage gewesen.
»Also gut«, sagte Falkoner und drehte sich unmittelbar vor Pendergast auf prahlerische Weise um. Er steckte seine Waffe ins Holster und zog ein Kampfmesser aus der Scheide. Er stellte sich vor Pendergast auf und spielte damit in dem matten Licht, testete die Schärfe, kniete sich hin, dann stach er Pendergast mit der Spitze und zog einen Strich seine Wange hinunter. Blut quoll hervor.
»Jetzt hast du einen Heidelberger Schmiss, genau wie mein Großvater. Hübsch.«
Die rothaarige Frau schaute zu; ein gemeiner Ausdruck der Vorfreude trat in ihre Gesichtszüge.
»Siehst du, wie scharf das Messer ist?«, fuhr Falkoner fort. »Aber es ist nicht für dich bestimmt. Sondern für sie.«
Er schlenderte zu Constance hinüber und stellte sich über sie, spielte mit dem Messer und sprach sie direkt an. »Wenn er meine Fragen nicht prompt und vollständig beantwortet, dann ritze ich dich an. Und zwar ziemlich schmerzhaft.«
»Er wird kein Wort sagen«, erwiderte Constance mit leiser, ruhiger Stimme.
»Er wird, wenn wir anfangen, die Fische zu füttern, und zwar mit deinen Körperteilen.«
Sie starrte ihn an. Esterhazy war überrascht, wie wenig Angst in ihrem Blick lag. Sie war wirklich furchterregend. Falkoner kicherte bloß und drehte sich wieder zu Pendergast um. »Deine kleine Suche, der wir erst vor kurzem gewahr wurden, war höchst lehrreich. Zum Beispiel hatten wir in all den Jahren geglaubt, dass Helen tot ist.«
Esterhazy gefror das Blut in den Adern.
»Stimmt’s, Judson?«
»Nein«, sagte Esterhazy matt.
Falkoner winkte ab, als handele es sich um eine Bagatelle. »Wie auch immer. Hier ist die erste Frage: Was weißt du über unsere Organisation, und woher hast du deine Informationen?«
Aber Pendergast gab keine Antwort. Stattdessen wandte er sich mit einem seltsam einfühlsamen Ausdruck in den Augen zu Esterhazy um. »Du bist als Nächster dran, das ist dir sicher klar.«
Falkoner ging mit langen Schritten zu Constance und packte ihre Hände, die hinter der Stütze gefesselt waren. Er zückte sein Messer und schnitt langsam und absichtsvoll in ihren Daumen. Sie unterdrückte einen Aufschrei und wandte den Kopf jäh zur Seite.
»Beim nächsten Mal sprichst du mit mir und beantwortest meine Frage.«
»Sag nichts!«, rief Constance mit heiserer Stimme, ohne sich umzudrehen. »Sag gar nichts. Die bringen uns sowieso um.«
»Stimmt nicht«, sagte Falkoner. »Wenn er redet, dann setzen wir dich lebendig an Land ab. Sein Leben kann er nicht retten, aber deins.«
Er wandte sich wieder zu Pendergast um. »Beantworte die Frage.«
Und Pendergast packte aus. Er erzählte kurz, wie er entdeckt hatte, dass das Gewehr seiner Frau mit Platzpatronen geladen war, und wie ihm klarwurde, dass dies bedeutete, dass sie vor zwölf Jahren in Afrika ermordet worden war. Er sprach langsam, klar und völlig ausdruckslos.
»Und deshalb bist du also nach Afrika geflogen«, sagte Falkoner, »und hast unsere kleine Verschwörung aufgedeckt, mit der wir sie beseitigt haben.«
»Eure Verschwörung?« Pendergast dachte offenbar darüber nach.
»Warum erzählst du ihm das?«, fragte Constance unvermittelt. »Glaubst du wirklich, er lässt mich frei? Natürlich nicht. Hör auf, Aloysius, wir beide sterben sowieso.«
Mit erregter Miene packte Falkoner ihre Hand und schnitt ihr wieder langsam in den Daumen, dieses Mal sehr viel tiefer. Sie verzog das Gesicht und wand sich vor Schmerzen, schrie aber nicht auf.
Aus dem Augenwinkel sah Esterhazy, dass Schultz und Zimmermann ihre Waffen ins Holster steckten und die Vorstellung genossen.
»Nicht«, sagte Esterhazy zu Falkoner. »Wenn Sie damit weitermachen, redet er nicht mehr.«
»Verdammt, ich weiß genau, was ich tue. Ich mache so etwas seit Jahren.«
»Sie kennen ihn nicht.«
Aber Falkoner hatte aufgehört. Er hielt das blutige Messer hoch, wedelte Pendergast damit vor dem Gesicht herum und wischte das Blut an den Lippen des Agenten ab. »Beim nächsten Mal schneide ich ihr den Daumen ab.« Er lächelte schief. »Lieben Sie sie? Sie müssen sie lieben. Jung, schön, lebhaft. Wer würde es nicht?« Er richtete sich auf und ging langsam auf dem Deck herum. »Ich warte, Pendergast. Reden Sie weiter.«
Aber Pendergast redete nicht weiter. Stattdessen schaute er Esterhazy forschend an.
Falkoner unterbrach seinen Rundgang und legte den Kopf auf die Seite. »Na schön. Ich halte immer meine Versprechen. Schultz, halt ihre Hand fest.«
Schultz packte Constances Hand, während Falkoner das Messer zückte. Esterhazy sah, dass er tatsächlich vorhatte, ihr den Daumen abzuschneiden. Und wenn er das tat, würde es kein Zurück geben, nicht für Pendergast und nicht für ihn.