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Penumbra-Plantage, Gemeinde St. Charles

»»Herzlich willkommen zu Hause, Mr. Pendergast«, sagte Maurice beim Öffnen der Haustür, als wäre Pendergast nur einige Minuten statt zwei Monate fort gewesen. »Wünschen Sie zu Abend zu essen, Sir?«

Pendergast betrat das Haus, und Maurice schloss die Tür, um die kühlen Nebel der winterlichen Luft draußen zu halten. »Nein danke. Aber wenn’s Ihnen nichts ausmacht, ein Glas Amontillado im Salon im ersten Stock wäre schön.«

»Ich habe Feuer gemacht.«

»Fabelhaft.« Pendergast stieg die Treppe zum Salon hinauf, dort brannte ein kleines Feuer im Kamin, das die klamme Feuchtigkeit, die normalerweise im Haus herrschte, vertrieben hatte. Er setzte sich in einen Ohrensessel in der Nähe, und einen Augenblick später kam Maurice mit einem Silbertablett herein, auf dem ein kleines Glas mit Sherry stand.

»Vielen Dank, Maurice.«

Als der weißhaarige Butler sich zum Gehen wandte, sagte Pendergast: »Ich weiß, dass Sie sich Sorgen um mich gemacht haben.«

Maurice blieb stehen, gab aber keine Antwort.

»Nachdem ich hinter die Umstände des Todes meiner Frau gekommen war«, fuhr Pendergast fort, »war ich nicht mehr ich selbst. Ich kann mir vorstellen, dass Sie beunruhigt waren.«

»Ich habe mich gesorgt«, sagte Maurice.

»Danke. Ich habe davon gehört. Aber jetzt bin ich wieder ganz der Alte, und es besteht weder die Notwendigkeit, mein Kommen oder Gehen zu überwachen, noch meine Frau meinem Schwager gegenüber zu erwähnen …« Er hielt kurz inne. »Sie standen, nehme ich an, mit Judson bezüglich meiner Situation in Verbindung?«

Maurice errötete. »Er ist Arzt, Sir, und hat mich um Hilfe gebeten, vor allem, was Ihre Reisen betrifft. Er befürchtete, Sie könnten etwas Übereiltes tun. Da habe ich mir gedacht, angesichts der Geschichte Ihrer Familie …« Er stockte.

»Das war schon richtig, gewiss. Allerdings hat sich herausgestellt, dass Judson möglicherweise nicht meine Interessen im Blick hatte. Wir hatten ein kleines Zerwürfnis, fürchte ich. Und wie gesagt, ich bin völlig genesen. Sie sehen also, es gibt keinen Grund, ihn über irgendwelche Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten.«

»Gewiss. Ich hoffe, es hat Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet, dass ich mich Doktor Esterhazy anvertraut habe?«

»Überhaupt keine.«

»Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«

»Nein danke. Gute Nacht, Maurice.«

»Gute Nacht, Sir.«

 

Eine Stunde lang saß Pendergast reglos in dem kleinen Raum, der früher einmal seiner Mutter als Ankleidezimmer gedient hatte. Er hatte die Tür hinter sich abgeschlossen. Das schwere alte Mobiliar war entfernt und durch einen Ohrensessel und einen davor stehenden Mahagonitisch ersetzt worden. Die elegante William-Morris-Tapete war abgenommen und stattdessen eine dunkelblaue Schallisolierung installiert worden. Es gab nichts in dem Zimmer, was die Blicke auf sich gelenkt oder Interesse erregt hätte. Das einzige Licht in dem fensterlosen Raum spendete eine Bienenwachskerze, die auf dem kleinen Tisch stand und deren flackerndes Licht auf die strukturlosen Wände fiel. Es handelte sich um das intimste und abgelegenste Zimmer im Herrenhaus.

In der völligen Stille, die in dem Raum herrschte, richtete Pendergast seinen Blick auf die Kerzenflamme und verlangsamte bewusst seine Atmung und seinen Puls. Mittels der esoterischen meditativen Disziplin des Chongg Ran, die er Jahre zuvor im Himalaya erlernt hatte, bereitete er sich darauf vor, in den höheren Bewusstseinszustand des stong pa nyid einzutreten. Pendergast hatte diese uralte buddhistische Praktik mit der Idee vom Gedächtnispalast verbunden, die Giordano Bruno in seiner Ars Memoriae entwickelte, und so seine eigene, einzigartige Form der geistigen Konzentration geschaffen.

Er schaute in die Flamme und ließ seinen Blick – langsam, ganz langsam – deren flackerndes Herz durchdringen. Während er reglos dasaß, ließ er zu, dass sein Bewusstsein in die Flamme eindrang, von ihr verzehrt wurde, sich mit ihr zunächst zu einem organischen Ganzen verband und dann – während die Minuten verstrichen – auf einer noch tieferen Ebene zusammenkam, bis ihm war, als seien die Moleküle seines fühlenden Wesens mit denen der Flamme verbunden.

Die flackernde Hitze nahm zu, durchdrang sein geistiges Auge mit einem endlosen, nicht zu löschenden Feuer. Und dann, ganz plötzlich, erloschen die Flammen. Totale Finsternis trat an ihre Stelle.

In vollkommener Gelassenheit wartete Pendergast, dass sein Gedächtnispalast – das Lagerhaus des Wissens und der Erinnerung, in das er sich zurückziehen konnte, wenn er der Leitung bedurfte – vor ihm erschien. Doch es stiegen nicht die vertrauten marmornen Mauern aus dem Dunkel auf. Vielmehr fand er sich in einem schummrigen, wandschrankgroßen Raum mit einer tiefhängenden Decke wieder. Vor sich erblickte er einen mit durchbrochenem Gittermuster versehenen Durchgang, der auf einen Service-Flur hinausging; hinter ihm befand sich eine von jugendlicher Hand mit Rube-Goldberg-ähnlichen Zeichnungen vollgekritzelte Wand.

Es handelte sich um das Versteck namens Platons Höhle, unter der Hintertreppe des alten Hauses in der Dauphine Street, das er und sein Bruder Diogenes immer dann aufgesucht hatten, wenn sie ihre kindlichen Pläne und Projekte schmiedeten … vor dem EREIGNIS, das ihre Kameradschaft für immer beendete.

Es war nun schon das zweite Mal, dass Pendergasts Erinnerungsfahrt eine unerwartete Abzweigung an diesen Ort genommen hatte. Plötzlich von Bangigkeit erfüllt, spähte er in den dunklen Raum ganz hinten in Platons Höhle. Und tatsächlich: Da war sein Bruder, neun oder zehn Jahre alt, in marineblauem Blazer und Shorts, die Uniform der Luther, der Schule, die sie beide besuchten. Er blätterte gerade in einem Bildband mit Gemälden von Caravaggio. Er blickte zu Pendergast auf, schenkte ihm ein sardonisches Lächeln und widmete sich wieder seiner Lektüre.

»Ah, du schon wieder«, sagte Diogenes, wobei er eigenartigerweise mit einer Erwachsenenstimme sprach. »Kommst aber genau richtig. Maurice hat gerade eben gesehen, wie in der Nähe des Hauses der Le Petres ein tollwütiger Hund auf der Straße herumgelaufen ist. Wollen wir versuchen, den Hund dazu zu bringen, in den Konvent der Heiligen Maria zu laufen, was meinst du? Es ist gerade Mittagszeit, die Nonnen sitzen wahrscheinlich alle beisammen und lesen die Messe.«

Als Pendergast nicht antwortete, blätterte Diogenes eine Seite um. »Das hier ist eines meiner Lieblingsbilder«, sagte er. »Die Enthauptung Johannes des Täufers. Schau mal, wie die Frau auf der Linken den Korb tiefer hält, um den Kopf darin aufzufangen. Wie zuvorkommend. Und der Adlige, der über Johannes steht und das Gerichtsverfahren leitet … was für ein Gestus ruhiger Befehlsgewalt! Genau so möchte ich aussehen, wenn ich …« Er verstummte jäh und blätterte wieder um.

Pendergast schwieg immer noch.

»Lass mich mal raten«, sagte Diogenes. »Es hat mit deiner lieben verstorbenen Frau zu tun.«

Pendergast nickte.

»Ich habe sie mal gesehen, weißt du«, fuhr Diogenes fort, ohne dass er von dem Buch aufblickte. »Ihr beide habt im Pavillon im Garten gesessen und Backgammon gespielt. Ich habe hinter der Glyzinie gehockt und euch beobachtet. Priapus im Gebüsch und das alles. Es war ja ein so idyllisches Bild. Sie hatte ja so eine Selbstsicherheit, war eine so elegante Erscheinung. Sie erinnerte mich an die Madonna in Murillos Unbefleckte Empfängnis.« Er hielt inne. »Du glaubst also, dass sie noch lebt, frater?«

Pendergast meldete sich erstmals zu Wort. »Judson hat es mir gesagt, und er hatte kein Motiv zu lügen.«

Diogenes steckte den Kopf immer noch ins Buch. »Kein Motiv? Das kann ich dir leicht beantworten. Er wollte dir im Augenblick deines Todes den größtmöglichen Schmerz zufügen. Du hast diese Wirkung auf Menschen.« Er blätterte abermals um. »Ich nehme an, du hast sie ausgegraben?«

»Ja.«

»Und?«

»Die DNA-Proben stimmen überein.«

»Und trotzdem glaubst du immer noch, dass sie lebt?« Wieder ein Kichern.

»Die Zahnarztunterlagen stimmen auch überein.«

»Hat dem Leichnam denn auch eine Hand gefehlt?«

Eine lange Pause. »Ja. Aber der Fingerabdruck war nicht beweiskräftig.«

»Die Leiche muss ja in einem ziemlich scheußlichen Zustand gewesen sein. Wie schrecklich für dich, dieses Bild – dein letztes Bild von ihr – ständig im Kopf zu haben. Hast du schon ihre Geburtsurkunde gefunden?«

Die Frage erstaunte Pendergast. Jetzt, wo die Sprache darauf kam, erinnerte er sich nicht, ihre Geburtsurkunde je gesehen zu haben. Es schien ihm damals nicht wichtig zu sein. Er hatte die ganze Zeit angenommen, dass Helen in Maine geboren war, was sich inzwischen aber als Lüge erwiesen hatte.

Diogenes tippte auf ein Bild auf der Buchseite. Die Kreuzigung des heiligen Petrus. »Ich frage mich, wie es sich auf die Denkprozesse auswirkt, wenn man mit dem Kopf nach unten aufgehängt wird.« Er blickte auf. »Frater. Du hast – um es mal krass zu formulieren – zwischen ihren Schenkeln gelegen. Du bist ihr Seelengefährte gewesen, nicht wahr?«

»Das habe ich geglaubt.«

»Tja, dann sortiere doch mal deine Gefühle. Was sagen sie dir?«

»Dass sie am Leben ist.«

Diogenes stieß ein schallendes Gelächter aus, warf den jungenhaften Kopf in den Nacken und riss dabei den Mund weit auf – es war auf eine groteske Weise das Lachen eines Erwachsenen. Pendergast wartete, dass es aufhörte. Schließlich hielt Diogenes inne, strich sich übers Haar und legte das Buch beiseite. »Das ist krass. So als würde eine faulige Flut aufsteigen, tritt das schlechte alte Erbgut der Pendergasts schließlich auch in dir hervor. Du hast jetzt deine ganz eigene Obsession. Herzlichen Glückwunsch, und willkommen in der Familie!«

»Es ist keine Obsession, es ist die Wahrheit.«

»Oho!«

»Du bist tot. Was weißt du denn schon?«

»Bin ich das wirklich? Et in Arcadia ego! Der Tag wird kommen, da wir – alle Pendergasts – zu einem großen Familientreffen im untersten Kreis der Hölle zusammenkommen. Das wird vielleicht eine Party! Ha, ha, ha!«

Mit einer jähen, heftigen Willensanstrengung beendete Pendergast die Erinnerungsfahrt. Er befand sich wieder in dem alten Ankleidezimmer und saß im Lederohrensessel, während ihm nur die flackernde Kerze Gesellschaft leistete.