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Esterhazy hielt inne. Ein neuer Ausdruck war in Pendergasts Augen getreten, ein Ausdruck, den er nicht ganz verstand. Und dennoch schwieg Pendergast.

»Du glaubst, du kämpfst nur gegen mich«, fuhr Esterhazy rasch fort. »Aber du irrst dich. Es geht nicht nur um mich. Nicht nur um diese Yacht und diese Crew. Fakt ist, dass du keine Ahnung hast, keine Ahnung, womit du es hier zu tun hast.«

Keine Reaktion von Pendergast.

»Hör zu. Falkoner wollte auch mich umbringen. Sobald du tot gewesen wärst, wollte er das Gleiche mit mir tun. Das ist mir erst heute Abend klargeworden, auf diesem Schiff.«

»Sie haben ihn also umgebracht, um sich zu retten«, sagte Constance. »Und damit wollen Sie unser Vertrauen gewinnen?«

Esterhazy tat sein Bestes, die Frage zu überhören. »Verdammt, Aloysius, hör mir zu. Helen lebt, und du brauchst mich, damit du zu ihr kommen kannst. Wir haben nicht die Zeit, hier herumzustehen und uns darüber zu unterhalten. Später werde ich dir alles erklären – nicht jetzt. Willst du nun mit mir kooperieren oder nicht?«

Constance lachte freudlos.

Esterhazy schaute Pendergast lange in die eiskalten Augen. Sein Blick war nicht zu deuten. Dann holte er tief Luft. »Ich lasse es darauf ankommen«, sagte er. »Darauf, dass du mir irgendwo in deinem merkwürdigen Kopf einfach glaubst – in dieser Frage, wenn nicht auch in anderen.« Er zückte ein Messer, beugte sich herüber, um Pendergast loszuschneiden, dann zögerte er.

»Weißt du, Aloysius«, sagte er ruhig, »ich bin zu dem geworden, als der ich geboren wurde. Ich wurde da hineingeboren, und das hat sich meiner Kontrolle entzogen. Hättest du das Grauen erlebt, dem Helen und ich unterworfen waren, du würdest mich verstehen.«

Er zerschnitt die Leinen, mit denen Pendergast am Pfosten gefesselt war, durchtrennte das Klebeband und ließ ihn frei.

Pendergast stand langsam auf, massierte sich die Arme, aber sein Gesichtsausdruck war noch immer nicht zu deuten. Esterhazy zögerte einen Moment. Dann zog er Pendergasts 45er aus dem Hosenbund und reichte sie dem FBI-Agenten, mit dem Griff voran. Pendergast nahm die Pistole, steckte sie ein und ging wortlos zu Constance hinüber und schnitt sie los.

»Gehen wir«, sagte Esterhazy.

Einen Augenblick lang bewegte sich niemand.

»Constance«, sagte Pendergast, »warte beim Tender am Heck auf uns.«

»Moment!«, sagte Constance. »Du willst ihm doch wohl nicht glauben …«

»Bitte geh zum Tender. Wir kommen gleich zu dir.«

Nach einem langen Blick auf Esterhazy drehte sie sich um, ging nach achtern und verschwand in der Dunkelheit.

»Es sind zwei Männer auf der Brücke«, sagte Esterhazy zu Pendergast. »Wir müssen sie neutralisieren und vom Boot schaffen.«

Als Pendergast ihm keine Antwort gab, ging Esterhazy voran und schob eine Kabinentür auf, wobei er über einen leblosen Körper trat. Sie gingen durch den großen Salon und stiegen dann eine steile Treppe hinauf. Als sie auf dem Skydeck ankamen, öffnete er die Glasschiebetür und ging mitten durch die Skylounge. Pendergast postierte sich neben der Tür zur Brücke und zückte die Waffe. Esterhazy klopfte an.

Kurz ertönte die Stimme des Kapitäns über die Gegensprechanlage. »Wer ist da? Was ist denn passiert? Was waren das für Schüsse?«

Esterhazy antwortete mit sehr ruhiger Stimme: »Ich bin’s, Judson. Es ist alles vorbei. Falkoner und ich haben sie im Salon gefesselt.«

»Und die übrige Crew?«

»Nicht mehr da. Die meisten getötet oder kampfunfähig – oder über Bord gegangen. Aber jetzt ist alles unter Kontrolle.«

»Jesses!«

»Falkoner will, dass Gruber für ein paar Minuten nach unten kommt.«

»Wir haben versucht, Falkoner über Funk zu erreichen.«

»Er hat sein Funkgerät weggeworfen. Dieser Pendergast hat ein Headset in die Finger bekommen und hat unseren Funkverkehr abgehört. Hören Sie zu, Captain, wir haben nicht viel Zeit, Falkoner möchte, dass der Maat nach unten kommt. Sofort.«

»Wie lange? Ich brauche ihn auf der Brücke.«

»Fünf Minuten, höchstens.«

Er hörte, wie die Tür zur Brücke erst entriegelt, dann aufgeschlossen wurde. Sie öffnete sich. Sofort kickte Pendergast die Tür zurück und schlug den Maat mit dem Griff seiner Waffe bewusstlos, während Esterhazy auf den Kapitän zustürmte und ihm seine Waffe ins Ohr drückte. »Runter!«, schrie er. »Auf den Boden!«

»Was zum …?«

Esterhazy feuerte die Pistole zur Seite ab, dann drückte er dem Kapitän die Mündung wieder an den Kopf. »Sie haben mich verstanden! Gesicht nach unten, Arme ausbreiten!«

Der Kapitän sank auf die Knie, dann legte er sich ausgestreckt hin und spreizte die Arme ab. Esterhazy drehte sich um und sah gerade noch, wie Pendergast den Maat fesselte.

Er ging zum Steuerpult hinüber, wobei er die Pistole weiter auf den Kapitän gerichtet hielt, und stellte die Twin-Dieselmotoren zurück auf Leerlauf. Die Yacht verlangsamte ihre Fahrt und stoppte schließlich ganz.

»Was zum Teufel machen Sie da?«, rief der Kapitän. »Wo ist Falkoner?«

»Bind den hier auch fest«, sagte Esterhazy.

Pendergast kam herüber und fesselte den Kapitän.

»Sie sind so gut wie tot«, sagte der Kapitän zu Esterhazy. »Die bringen Sie um. Gerade Sie sollten das wissen.«

Esterhazy sah zu, wie Pendergast zum Steuerstand ging, den Blick darüberschweifen ließ, eine kleine Abdeckung mit einem roten Hebel darunter anhob und den Hebel umlegte. Ein Alarm wurde ausgelöst. »Was ist das?«, fragte Esterhazy beunruhigt.

»Ich habe das EPIRB aktiviert, den Notrufsender«, erwiderte Pendergast. »Ich möchte, dass du nach unten gehst, den Tender zu Wasser lässt und auf mich wartest.«

»Warum?« Esterhazy fand es beunruhigend, wie schnell Pendergast die Führung übernommen hatte.

»Wir verlassen das Schiff. Tu, was ich sage.«

Der ausdruckslose, kühle Tonfall machte Esterhazy Angst. Pendergast verschwand von der Brücke und begab sich in Richtung der unteren Decks. Esterhazy stieg die Treppe zum großen Salon und zum Heck hinunter. Dort fand er Constance vor, sie wartete.

»Wir verlassen das Schiff«, sagte Esterhazy. Er zog die Segeltuchplane vom zweiten Tender. Es handelte sich um ein fünf Meter langes Valiant mit einem 75-PS-Honda-Viertakt-Außenbordmotor. Er öffnete den Heckspiegel und warf die Winsch an. Das Boot glitt von der Laufschiene ins Wasser. Er machte es am Heck fest, stieg hinein und startete den Motor.

»Steigen Sie ein«, sagte er.

»Erst wenn Aloysius zurück ist«, antwortete Constance.

Ihre veilchenblauen Augen blieben auf ihn gerichtet, und nach einem Augenblick sagte sie in ihrer sonderbaren, archaischen Art: »Sie erinnern sich bestimmt, Doktor Esterhazy, was ich Ihnen früher einmal gesagt habe. Lassen Sie es mich wiederholen: An irgendeinem Punkt in der Zukunft, wenn die Zeit reif ist, werde ich Sie töten.«

Esterhazy schnaubte verächtlich. »Reden Sie nicht in den Wind. Sparen Sie sich Ihre leeren Drohungen.«

»Leere Drohungen?« Sie lächelte freundlich. »Es ist eine Tatsache der Natur, so unausweichlich wie die Drehung der Erde.«