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Lieutenant Vincent D’Agosta starrte auf seinen Schreibtisch und bemühte sich, nicht deprimiert zu sein. Seit er nicht mehr krankgeschrieben war, hatte ihn sein Chef, Captain Singleton, in den Innendienst versetzt. Er tat eigentlich nichts anderes, als Papier von einer Seite des Schreibtischs zur anderen zu schieben. Er blickte durch die Tür in den Gruppenraum. Dort herrschte ein reges Treiben; Telefone klingelten, Straftäter wurden vernommen. Da passierte etwas. Er seufzte und blickte wieder auf seinen Schreibtisch. D’Agosta konnte den Papierkram nicht ausstehen. Fakt aber war, dass Singleton es gut meinte. Schließlich hatte er noch vor einem halben Jahr in Baton Rouge in einem Krankenhausbett gelegen und um sein Leben gerungen, nachdem eine Kugel sein Herz gestreift hatte. Er konnte von Glück reden, überhaupt noch am Leben zu sein, ganz zu schweigen davon, dass er einigermaßen wiederhergestellt war und wieder zur Arbeit gehen konnte. Aber wie auch immer, der Schreibtischdienst würde nicht ewig dauern. Er musste nur seine Kräfte wiedererlangen.
Außerdem hatte die ganze Sache ja auch ihr Gutes. Seine Beziehung zu Laura Hayward war noch nie besser gewesen. Dass sie ihn fast verloren hätte, hatte sie irgendwie verändert, sanfter gemacht, liebevoller und zugewandter. Mehr noch: Wenn er erst mal wieder ganz hergestellt war, wollte er ihr einen Heiratsantrag machen. Er bezweifelte zwar, dass ein normaler Paartherapeut empfehlen würde, sich in die Brust schießen zu lassen, aber in seinem Fall hatte das prima funktioniert …
Er merkte, dass jemand in der Tür zu seinem Büro stand, hob den Kopf und sah eine junge Frau, die seinen Blick erwiderte. Sie war um die neunzehn oder zwanzig, zierlich, trug Jeans und ein altes Ramones-T-Shirt. Von ihrem Arm hing eine schwarze Lederhandtasche, besetzt mit kleinen Metallnieten. Ihr Haar war schwarz gefärbt, und auf ihrem Oberarm lugte unter dem T-Shirt eine Tätowierung hervor, eine Zeichnung von M. C. Escher.
Eine Goth.
»Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?«, fragte er. Wo steckte eigentlich die Sekretärin? Sie hätte so ein Mädchen überprüfen müssen.
»Sehe ich aus wie eine Ma’am?«, lautete die Antwort.
D’Agosta seufzte. »Was kann ich für Sie tun?«
»Sie sind Vincent D’Agosta, oder?«
Er nickte.
Sie betrat sein Büro. »Er hat Sie ein paarmal erwähnt. Ich habe ein schlechtes Namensgedächtnis, aber an Ihren Namen habe ich mich erinnert, weil er so italienisch klingt.«
»So italienisch«, wiederholte D’Agosta.
»Ich meine das nicht abfällig. Es ist nur so, dass da, wo ich herkomme, in Kansas, kein Mensch so einen Namen hat.«
»Die Italiener haben es eben nicht so weit bis ins Landesinnere geschafft«, erwiderte D’Agosta trocken. »Also, wer ist dieser ›er‹, den Sie erwähnten?«
»Agent Pendergast.«
»Pendergast?« Sein Tonfall klang wider Willen überrascht.
»Ja. Ich war seine Assistentin in Medicine Creek, Kansas. Wissen Sie noch – die ›Stillleben‹-Serienmorde?«
D’Agosta sah sie entgeistert an. Pendergasts Assistentin? Das Mädel litt wohl unter Wahnvorstellungen.
»Er muss von mir gesprochen haben. Ich bin Corrie Swanson.«
D’Agosta runzelte die Stirn. »Ich bin mit den Stillleben-Morden vage vertraut, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er Ihren Namen erwähnt hat.«
»Er redet ja nie über seine Fälle. Ich habe ihn in der Gegend herumkutschiert, habe ihm geholfen, die Stadt auszukundschaften. Mit seinem schwarzen Anzug und so ist er aufgefallen wie ein bunter Hund, deshalb hat er einen Insider wie mich benötigt.«
D’Agosta wunderte sich, aber wahrscheinlich sagte sie die Wahrheit, wenn auch in übertriebener Form. Assistentin? Seine Irritation wich einem düsteren Gefühl. »Kommen Sie herein«, sagte er verspätet. »Nehmen Sie Platz.«
Sie setzte sich – ihr Metall klirrte – und strich ihr rabenschwarzes Haar nach hinten, wodurch eine violette und eine gelbe Strähne zum Vorschein kamen. D’Agosta lehnte sich im Stuhl zurück und ließ sich nichts anmerken. »Also, worum geht’s?«
»Ich bin für ein Jahr in New York. Bin im September hergekommen. Ich studiere im zweiten Jahr und bin gerade aufs John Jay College of Criminal Justice gewechselt.«
»Reden Sie weiter«, sagte D’Agosta. Der John-Jay-Teil imponierte ihm. Sie war also keine Idiotin, auch wenn sie ihr Bestes gab, wie eine auszusehen.
»Ich besuche dort ein Seminar über ›Fallstudien zu Devianz und sozialer Kontrolle‹.«
»Devianz und soziale Kontrolle«, wiederholte D’Agosta. Klang wie ein Kurs, den auch Laura Hayward hätte besuchen können – sie hatte extrem viel Soziologie belegt.
»Zum Seminar gehört auch, dass wir eine Fallstudie durchführen und ein Referat schreiben. Ich habe mich für die Stillleben-Morde entschieden.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob Pendergast damit einverstanden wäre«, sagte D’Agosta vorsichtig.
»Aber er hat seine Zustimmung gegeben. Das ist ja das Problem. Gleich nach meiner Ankunft hier in New York habe ich mich mit ihm zum Mittagessen verabredet. Das sollte gestern stattfinden. Aber er ist nicht gekommen. Dann bin ich zu seiner Wohnung im Dakota gefahren. Nichts, ich bin da nur vom Doorman abgewimmelt worden. Pendergast hat meine Handynummer, aber er hat mich weder angerufen noch das Essen abgesagt oder sonst was. Es ist, als hätte er sich in Luft aufgelöst.«
»Das ist komisch. Haben Sie sich vielleicht im Termin geirrt?«
Sie kramte in ihrer kleinen Handtasche, zog ein Kuvert hervor und reichte es ihm.
D’Agosta zog einen Briefbogen aus dem Umschlag und fing an zu lesen.
The Dakota
1 West 72nd Street
New York, NY 10023
5. September
Ms Corrie Swanson
844 Amsterdam Avenue, Apt. 30 b
New York, NY 10025
Meine liebe Corrie,
es freut mich zu hören, dass Sie im Studium gut vorankommen. Die Auswahl der Kurse findet meine Zustimmung. Ich glaube, Sie werden die Einführung in die Forensische Chemie höchst interessant finden. Ich habe ein wenig über Ihr Projekt nachgedacht und erkläre mich bereit, daran teilzunehmen, vorausgesetzt, ich darf das Endprodukt gründlich prüfen und Sie erklären sich damit einverstanden, gewisse kleinere Details in Ihrer Seminararbeit nicht zu erwähnen.
Wir sollten uns unbedingt zum Mittagessen verabreden. Ich werde im Laufe des Monats außer Landes sein, dürfte aber Mitte Oktober wieder zurück sein. Der 19. Oktober passt in meinen Kalender. Erlauben Sie mir, das Le Bernadin in der West 51 Street vorzuschlagen, um 13 Uhr. Die Reservierung lautet auf meinen Namen.
Ich freue mich darauf, Sie dann zu treffen.
Mit herzlichen Grüßen
A. Pendergast
D’Agosta las den Brief zweimal. Es stimmte schon, er hatte von Pendergast ein, zwei Monate nichts mehr gehört, aber das war an sich nicht besonders ungewöhnlich. Pendergast verschwand oftmals für längere Zeit. Aber er achtete immer penibel darauf, sein Wort zu halten. Nicht zu einer Verabredung zum Lunch zu erscheinen, nachdem er es vorgeschlagen hatte, sah ihm ganz und gar nicht ähnlich.
Er reichte den Brief zurück. »Hat es eine Reservierung gegeben?«
»Ja. Sie wurde einen Tag, nachdem er den Brief abgeschickt hatte, vorgenommen. Er hat nicht angerufen, um sie zu stornieren.«
D’Agosta nickte, um seine zunehmende Besorgnis zu verbergen.
»Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht wissen, wo er steckt. Ich mache mir Sorgen. Dass er nicht gekommen ist, passt nicht zu ihm.«
D’Agosta räusperte sich. »Ich habe Pendergast länger nicht gesprochen, aber es gibt bestimmt eine Erklärung. Er steckt wahrscheinlich tief in Ermittlungen.« Er lächelte beruhigend. »Ich kümmere mich darum und rufe Sie an.«
»Hier ist meine Handynummer.« Sie zog sich vom Schreibtisch einen Notizblock heran und kritzelte eine Nummer darauf.
»Ich melde mich bei Ihnen, Miss Swanson.«
»Vielen Dank. Und Corrie bitte.«
»Gut. Corrie.« Je mehr D’Agosta über die Sache nachdachte, desto besorgter wurde er. Beinahe hätte er nicht bemerkt, wie sie ihre Handtasche nahm und zur Tür hinausging.